Das malerische Werk Thomas Hubers ist voller komplexer inhaltlicher Verästelungen und hintergründiger intellektueller Spiele. Nun überrascht er mit Bildern der Lago-Maggiore-Landschaft.
Über dem Lago Maggiore strahlt die Sonne: Bilderbuchwetter. Vor dem Tunnelportal in Göschenen stauen sich die Autos. Dass die Sonne auch oft hinter düsteren Wolken verschwindet, dass es in der «Sonnenstube» dauerregnet, dass Flüsse und Bäche über die Ufer quellen und dass während der herbstlichen Regenzeit die Erde zu rutschen beginnt und Wege unpassierbar werden – all das weiss zur Genüge, wer mit den Tücken des Tessiner Wetters vertraut ist. Auf den 26 grossen und in den vergangenen drei Jahren entstandenen Ölgemälden und den zahlreichen Aquarellen im Untergeschoss des Museo d’arte della Svizzera Italiana (MASI) aber herrscht – mit Ausnahme ganz weniger Notturni – (eitel?) Sonnenschein. Der Nordföhn hat die Wolkenschleier vertrieben. Die Folgen sind hart zeichnende Konturen und metallisches Himmelblau. Blau ist meist auch der See. Es sind alles Querformate, wie es sich für «klassische» Landschaften, aus der Horizontlinie heraus entwickelt, eben gehört. Postkarten- oder Kalenderbilder? Tourismuswerbung? Oder gar eingängiger Kitsch? Und das von einem Künstler, der seiner Intellektualität wegen in der gegenwärtigen Schweizer Kunst eine Sonderstellung einnimmt: Thomas Huber, 1955 geboren, ist Gast im MASI. Er lebt und arbeitet meist in Berlin, wo, im grossen Atelier, diese Malereien entstanden sind. Oft hält er sich aber in Cinzago hoch über dem Lago Maggiore bei Cannobio auf. Hier haben seine neuen Werke ihren Ursprung. Er ist der Künstler der grossen urbanen Architektur- und Raumbilder, in denen er ganze Städte schildert, beziehungsreiche Gegenständlichkeit mit Texten verbindet und sein ganzes Wissen ausbreitet. Er tut das oft auch ganz direkt: Oft hält er vor um ihn und seine Bilder versammeltem Publikum wohl formulierte Reden. Ihm war stets und ist immer noch wichtig, dass die Betrachterinnen und Betrachter ganz wörtlich «im Bilde» sind.
Das doppelte Bild
Und nun das: Landschaftsmalereien, auf denen es nur selten Architektur und sicher keine Menschen gibt, es sei denn in den Häusern Locarnos und Luinos, oder in den Weilern an den Berghängen bezeugen abendliche Lichter ihre Gegenwart. Ein Bruch mit der eigenen künstlerischen Vergangenheit? Es lohnt sich aber, genau hinzusehen und die Erinnerung an allfällige Tessiner Postkarten-Idylle auszublenden. Bald zeigt sich, dass es da weit mehr zu entdecken gibt an Raffinement und komplexen künstlerischen Strategien.
In einem der frühesten Werke dieser Ausstellung, im 2021 entstandenen Gemälde «Bellavista», spielt – eine der wenigen Ausnahmen in der Präsentation – Architektonisches eine wesentliche Rolle. Thomas Huber lässt uns aus einer rot verputzten Halle durch vier Öffnungen über den Lago Maggiore zu den verschneiten Bergen blicken, die sich im Wasser spiegeln. In der Halle steht, als wären wir zum Betrachten der Landschaft eingeladen, eine langgezogene Sitzbank. Merkwürdig und irritierend aber: Über den vier Öffnungen findet sich eine Wandmalerei, die genau und vollständig jene Aussicht zeigt, die jemand, der sich im Raum befindet, wohl in natura, aber wegen der Türpfosten unvollständig vor sich sieht. Vielleicht lässt sich die Strategie Hubers dahingehend interpretieren, dass die Landschaftsmalerei die Landschaft anders zeigen kann, als wir sie in der Wirklichkeit wahrnehmen: Der Künstler lädt uns zum Vergleichen der Bilder ein.
Der Platz des «Bildes im Bild» erinnert an Landschaftsdarstellungen in Schweizer Bahnhofhallen – in Basel zum Beispiel, wo Ernst Hodel jun. (1881–1955) ein riesiges Innerschweizer Panorama sowie weitere Landschaftsmalereien schuf. Hodels Stil ist plakativ, nicht frei vom Pathos der Werbung und durchaus eine Verherrlichung der «erhabenen» Berg- und Seenwelt. Erwähnte Thomas Huber diese Bahnhofmalereien – es gab oder gibt auch weitere zum Beispiel in Bern und Genf, im Sinne der Tourismusförderung in Auftrag gegeben – nicht selber in einem in der Ausstellung gezeigten Video, wäre man sich kaum der Parallele bewusst. Dass der Künstler das tut, bestätigt die Vermutung, dass es Thomas Huber wohl auch um das «schöne» Bild geht, an dem die Besucherinnen und Besucher im MASI ihre ungetrübte Freude haben können – der Titel «Bellavista» ist tatsächlich treffend –, aber eben nicht nur: «Bellavista» ist darüber hinaus auch ein Beitrag zu einer umfassenderen Diskussion um das Thema «Landschaft».
Arabeskenhafte Ornamentik
Ähnliches gilt auch von anderen Malereien Thomas Hubers der Serie «Lago Maggiore», auch wenn der Künstler da die Überlagerungen und Ambivalenzen nicht so weit treibt. «11.10.21» zum Beispiel – der Künstler wählt oft das Datum des spontanen Landschaftseindrucks als Bildtitel – ist ein geradezu klassisches Landschaftsbild. Huber lässt uns von oben auf den See blicken. Die Strömung hinterlässt in der silbern glänzenden Wasserfläche ihre Spuren. Licht und Schatten modellieren die gestaffelten Taleinschnitte der Berghänge. Ein Luftzug bringt Dynamik in die hellen Wolken am Himmel als Kontrast zur Ruhe der in den Grau- und Blautönen perfekt austarierten Landschaft. Oder das Bild «April I»: Auch hier sehen wir scharfe Konturen der Hügel und dazu ein bezaubernd sanftes und doch helles Morgenlicht, das die Horizontlinie akzentuiert. Zum Ereignis wird dieses Bild wegen der Verdoppelung des Landschaftskörpers in der Spiegelung auf der Wasserfläche. Diese Verdoppelung ist zugleich Variation: Ein sanfter Wind scheint die Wasserfläche zu kräuseln und lässt die gespiegelte Horizontlinie und ebenso die gespiegelten kleinen Wolken vibrieren. Auch da also, wie in «Bellavista», zweimal das gleiche Motiv, jedoch so verändert, dass wir unwillkürlich zum vergleichenden Befragen der beiden «Bilder», der realen Landschaft und ihrer Umkehrung im Seespiegel, ansetzen.
Hier wie dort überträgt Thomas Huber den spontan in der Natur erlebten Landschaftseindruck in ein nach allen Regeln der Kunst gestaltetes Abbild dieser Landschaft. Das geschieht im Wissen um die grosse kunstgeschichtliche Tradition der Landschaftsmalerei, in die er sich mit seinen neuen Arbeiten einschreibt. (Er nennt im erwähnten Video auch Segantini, Vallotton, Hodler, aber auch Tourismus-Plakate, und da liesse sich auch an eine glasklare Lago-Maggiore-Landschaft von Niklaus Stoecklin von 1916 im Kunstmuseum Basel denken.) Das geschieht auch im Wissen um die Gesetzmässigkeiten der Landschaftsmalerei, was Proportionen, Linien- und Lichtführungen und räumliche Staffelungen bis in die weite Ferne betrifft. Das geschieht zudem mit Rückgriffen auf eine präzise arabeskenhafte Ornamentik, die als intellektuelles Element das emotionale Landschaftserlebnis überzieht und vielleicht auch bändigt.
Die Aquarelle, auch sie nicht pleinair als Skizzen vor dem Motiv gemalt, sondern im Atelier, sind als eigenständige Arbeiten gedacht. Sie sind, ihrer Technik entsprechend, näher am emotionalen Erleben der Landschaft. Da gibt es schon mal, wie in «Lago Maggiore III» (2022), den Aufgang einer feurig roten Sonne über dem See, gemalt in raschen Pinselzügen. In «Januar 2022» flimmern die im See sich spiegelnden Lichter auf der Wasserfläche vor den verschneiten Tessiner Bergen und unter einem kalt-hellblauen Himmel. Bei aller Spontaneität, mit der Huber den Pinsel über das Papier zieht: Komposition, die Schärfe der Linien, die Ausgewogenheit der Farben verraten die Könnerschaft des Künstlers.
«Heimkehr» und Neubeginn
«So erinnerte ich mich der Berge, die damals meinen Horizont bestimmten. Ich hatte den See vor Augen, der meine Blicke spiegelte. Darauf bin ich nach Süden gezogen. Das war die Heimkehr. Mein Weg erwies sich als grosser Bogen, der sich zu seinem Anfang zurückbeugte. Ich war damals aufgebrochen, um dahin zurückzukehren, woher ich kam.» Dieser Text des Künstlers findet sich an einer Wand des Ausstellungssaales. Der bald 70-jährige Thomas Huber bindet die neue Serie – ein Alters- oder Spätwerk? – ein in seine Künstlerbiographie: Sein Weg führte von der Grossstadt Berlin, wo er jahrelang lebte, und von den irreal anmutenden Architektur- und Raumvisionen – nicht an den konkreten Ort seiner Jugend, die er in Zürich verbrachte, wohl aber in eine Urform der Landschaft mit den beiden Hauptmotiven Berge und See. Offenbar hat er diese Urform der Landschaft in exemplarischer Ausprägung im Tessin, am Lago Maggiore mit seinen steilen Berghängen, gefunden. Ein Neubeginn ist, was er in Lugano nun zeigt, aber nur bedingt, nämlich in Bezug auf die Motivwahl. Die objektivierende, das Motiv versachlichende Malweise der grossformatigen Ölbilder lässt auf eine urban geprägte Wahrnehmung schliessen. Möglich, dass ihr die Vorstellung einer romantischen Vereinigung der «Künstler-Seele» mit der Landschaft doch eher fremd bleibt.
Thomas Huber (*1955) wuchs in Zürich in einer Architektenfamilie auf, studierte an der Kunstgewerbeschule Basel und am Royal College of Arts in London sowie an der Akademie Düsseldorf. Seine Arbeiten wurden in vielen international anerkannten Institutionen gezeigt, so u. a. im Centre Pompidou in Paris, im Kunsthaus Zürich, in der Fundació Miró, Barcelona, im Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam, im Kunstmuseum Bonn, im Kunsthaus Aarau. 1992 bis 1999 war er Professor an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Zeitweise leitete er das Centraal Museum in Utrecht. Von 2000 bis 2002 war er Präsident des Deutschen Künstlerbundes. Er lebt in Berlin und in Cinzago bei Cannobio am Lago Maggiore.
MASI (Museo d’arte della Svizzera italiana). Via Canova 10, Lugano. Bis 28. Januar. Publikation im Verlag Distanz (Berlin) mit Texten von Barbara Alms und Thomas Huber (Fr. 45.90).
Alle Bilder © Thomas Huber & Skopia