Die eidgenössische Abstimmung vom 27. September 2020 hat immerhin eine Klärung gebracht: Der bilaterale Weg mit der EU wurde gutgeheissen. Einige andere helvetische Reform-«Baustellen» harren indes ihrer Sanierung, um sie zukunftsfähig zu machen. Die Zeit drängt. Wie wäre es, wenn bei diesen «Renovationen» gleichzeitig die Ausrichtung auf übergeordnete Ziele wie Klimaerwärmung, Nachhaltigkeits-Gebot, Corona-Zwänge berücksichtigt würden?
Eine aktuelle Vorbemerkung: Spaltung der Schweiz überwunden
1992 wurde die Schweiz in zwei Teile gespalten, 2020 ist diese – mit sehr viel Geld eines Milliardärs herbeipropagierte Entfremdung – überwunden. Ich spreche vom 2. Dezember 1992, als 50,3 Prozent des Stimmvolkes den Beitritt zum EWR ablehnten und vom 27. September 2020, als eine überraschend klare Mehrheit von 61,3 Prozent der Stimmberechtigten die Begrenzungs-Initiative ablehnte. Damit ist die Spaltung der Schweiz in zwei gleich starke Lager überwunden – jetzt geht es an den konstruktiven Aufbau zukunftsgerichteter Lösungen mit der EU, unseren Nachbarn. Fast 30 Jahre lang brauchten wir, um das Fiasko des 2. Dezembers 1992 zu verdauen – eine Generation lang.
Blick nach den USA
Diesen historischen Moment sollten wir nutzen, um uns daran zu erinnern, dass sich unsere Bundesverfassung von 1848 mit Einführung des Zweikammersystems (National- und Ständerat) stark nach dem Vorbild USA ausrichtete: «Die Verfassung der Vereinigten Staaten Nordamerika’s als Musterbild der Schweizerischen Bundesreform». Heute, rund 170 später, zeigt es sich, dass dort wie hier die Basisbedingungen dieses Zweikammersystems zu absurden Konsequenzen führen können. Dabei ist es nicht die Grundidee an sich, sondern die damals festgelegten Regeln, die aus der Zeit gefallen sind.
Das System der Wahlmänner war zum Schutz der kleinen Bundesstaaten in Amerika eingeführt worden. 2016 führte das dazu, dass Präsident Trump gewählt wurde, obwohl seine Gegnerin Clinton bei der Präsidentschaftswahl mehr Stimmen erhalten hatte. In der Schweiz, wo der Ständerat zum Schutz der Minderheit der unterlegenen katholischen Bevölkerung nach deren Niederlage im Sonderbundskrieg eingeführt worden war, führen die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur dazu, dass heute im Extremfall 5,3 Prozent der Schweizer Bevölkerung der grossen Mehrheit ihren Willen aufzwingen könnten. Und nebenbei: die Katholiken in der Schweiz sind heute in der Mehrheit.
Worauf will ich hinaus? In den USA herrscht Präsident Trump, der die politischen Regeln missachtet, der lügt – «weit über 20’000 Mal log der Präsident bisher im Amt – den niemand mehr kontrolliert. Für seine Partei, die Republikaner, existiert der Klimawandel nicht, Migration ist gefährlich, Steuern sind sozialistisch, Abtreibung muss verboten werden. Die Wissenschaft weiss nicht mehr als die Religion, der Sender CNN lügt. Das Stammdenken hat die USA erobert», dies berichtete DIE ZEIT im September 2020. Trump spaltet das Land gezielt in zwei unversöhnliche Lager. Alles ist die Folge eines politischen Systems, das im 19. Jahrhundert berechtigt gewesen war, im 21. Jahrhundert fatal wirkt.
Es ist zu hoffen, dass uns nach dem Wahlergebnis vom 27. September 2020 diese verheerende Spaltung des Landes zukünftig erspart bleibt. Die USA sind heute kein Vorbild mehr für die Schweiz, für keine Demokratie der Welt natürlich. Die Grundregeln für den Ständerat müssen aber auch in unserem Land dem Wandel der Zeit angepasst werden, denn sie führen dazu, dass das konservative, bewahrende Element der eher ländlichen Kleinkantone die überfälligen Reformen der Schweiz mit ihrer starken Exportwirtschaft – damit dem Wohlstandsmotor der Schweiz – hemmt oder gar verunmöglicht.
Kooperation mit der EU
Wohl die wichtigste Baustelle in unserem Land ist die vertragliche Festigung der bilateralen Zusammenarbeit Schweiz – EU durch das Rahmenabkommen. Unser Land ist auf die Exportmärkte der EU angewiesen, wir wollen «mit von der Partie» sein. Also gilt es deren Regeln zu akzeptieren, jedoch nicht à tout prix. Dazu lesen Sie vielleicht nochmals die Kolumne «Stolpersteine oder Felsbrocken?» vom 28.09.2020. Es gilt, einen unwürdigen Kampf zu vermeiden – zeitgemässer und erfolgreicher ist der Kooperationsgedanke zweier Partner.
Weitere helvetische Baustellen
Natürlich sind wir ein Sonderfall, zweifellos ein ziemlich erfolgreicher. «Das Volk» hat viel mehr zu sagen, als in anderen Demokratien dieser Welt. Damit unsere Stärken auch im 21. Jahrhundert fortbestehen, sind sie mit Argusaugen zu beobachten. Wenn die Witterung Bauwerken über die Jahre zusetzt und rechtzeitige Renovationen opportun erscheinen lässt, um den Wert des Investments zu erhalten oder gar zu steigern, so gilt das Gleiche für unsere politischen Gebäude. Da jedoch «das Volk» politisch durch Exekutiven und Legislativen vertreten wird, richtet sich dieser Aufruf an Bundesrat, Ständerat, Nationalrat, an kantonale und kommunale Behörden. Vor lauter dringenden Traktanden des Alltags, der Gegenwart, besteht die Gefahr, dass die langfristigen, leisen Unterhaltsarbeiten von morgen, der Zukunft, zu kurz kommen. Tatsächlich besteht politischer Handlungsbedarf.
Das aktuelle Reform-Inventar, eine Auswahl
Transparenz-Gebot: Noch immer verharrt eine unzeitgemässe Geheimniskrämerei gegenüber der Öffentlichkeit in vielen Amtsstuben und Regierungssälen. Angesichts der IT- und Datenwelt ein Relikt, das sich selbst abgeschafft hat, denn Verborgenes wird durch datengestützte Whistleblower ans Tageslicht gezerrt. Gleichermassen aus der Zeit gefallen ist die verdeckte Lobby-Arbeit im Bundeshaus, die kaschieren soll, wer die Gesetzgebung unstatthaft beeinflusst. Auch Parteienfinanzierung und Geldwäschereigesetz sind so zu reformieren, dass sie ins 21. Jahrhundert passen.
Föderalismus-Umbau: Die vielgepriesenen föderalistischen Strukturen sind zwar Gold wert, doch da und dort abgenützt. Nicht wenige kommunale Zuständigkeiten sind schon heute – aus schierer Überforderung – nach oben an die kantonalen Instanzen oder, viel gravierender, an private Institutionen delegiert. Tatsächlich können sie dort viel effizienter und zeitgemässer wahrgenommen werden. Das Volk redet da von der «Kirchturmpolitik» – es hat auch eine liebevolle Bezeichnung für dasselbe Phänomen auf Kantonsebene: «Kantönligeist». In unserer globalisierten Welt mit ebensolchen Problemen (Covid-19-Pandemie als Beispiel) sind viele kantonale Zuständigkeiten geradezu dysfunktional.
Nachhaltigkeits-Gebot, Klimaerwärmung: Beides hängt miteinander zusammen. Noch sind viele unserer Gesetze, insbesondere Subventionen, vergangenheitsorientiert, den übergeordneten gebieterischen Zielen entgegengesetzt und deshalb kontraproduktiv.
Landwirtschafts-Politik, Landschaftsschutz: Unter der Ägide des Bauernverbands handeln National- und Ständerat bezüglich Subventionen und Grenzschutz viel zu oft entgegen zeitgemässer Lösungen im Interesse der Bevölkerung. Beide Kammern tolerieren auch viel zu oft Verstösse gegen den vom Volk gewollten Landschaftsschutz.
Diverse andere Reformprojekte auf der langen Bank: Wir alle wissen und spüren es: Seit Jahren werden überfällige Reformen in der Altersvorsorge, im Gesundheitswesen, in der Gleichstellung der Geschlechter usw. diskutiert, verdebattiert und so verschleppt.
Unsere Politiker und Politikerinnen sind gefordert. Es braucht jetzt einen grosszügigen Kooperationswillen, um ambitiöse Reformvorhaben zu realisieren. Blockierender Kampf unter den politischen Parteien ist ein Relikt des letzten Jahrhunderts.