- Klara Obermüller empfiehlt
Viveca Sten: Tod in stiller Nacht, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 400 S., Fr. 21.90. ISBN: 978-3-462-04735-6
Im warmen Sand liegen und einen Krimi lesen, der im eisigen Winter Schwedens spielt, stellt ein Vergnügen der besonderen Art dar. Viveca Sten, deren sechster Fall für Kommissar Andreasson an Heiligabend auf der Schäreninsel Sandhamn seinen Anfang nimmt, versteht es nicht nur, Spannung aufzubauen, sondern auch Stimmung zu erzeugen und einem die handelnden Personen menschlich näher zu bringen. In ihrem neuesten Buch, in dem zum ersten Mal auch handfeste politische und wirtschaftliche Verstrickungen eine Rolle spielen, ist ihr dies besonders gut gelungen.
Siri Hustvedt: Gleissende Welt, Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 2015, 496 S., Fr. 29.90. ISBN: 978-3-498-03024-7
Wer sich für Gender-Fragen interessiert, wer New York liebt und sich in modernen Kunst auskennt, wird den neuen Roman von Siri Hustvedt lieben. Die Autorin, die selbst lange Zeit nur als die Frau an der Seite eines berühmten Mannes, Paul Austers, wahrgenommen wurde, erzählt darin die Geschichte der Witwe eines einflussreichen New Yorker Kunsthändlers, die als Künstlerin erst Erfolg hat, als sie ihre Arbeiten als Werke dreier männlicher Künstler ausgibt: ein Verwirrspiel, vielstimmig, facettenreich und hintersinnig, ein intellektuelles Vergnügen für alle, die bereit sind, sich von der klugen und hochgebildeten Siri Hustvedt in die Welt der Kunst- und Literaturgeschichte, der Philosophie, der Neurowissenschaft und der Wahrnehmungstheorie entführen zu lassen.
Botho Strauss: Herkunft, Hanser, München 2014, 96 S., Fr. 22.90. ISBN: 978-3-446-24676-8
Ein Mann, kurz vor seinem 70. Geburtstag stehend, erinnert sich: an seine Kindheit in den vierziger und fünfziger Jahren, an sein Elternhaus, an sein Herkommen, das ihm durch den Akt des Schreibens noch einmal neu begegnet. Auslöser ist die Räumung der elterlichen Wohnung, nachdem die Mutter ins Altersheim gegangen ist: eine Situation, wie sie fast jeder ältere Mensch irgendwann einmal erlebt. Botho Strauss macht daraus ein ebenso stilles wie eindringliches Dokument der Rückbesinnung auf sich selbst, ein wunderbares kleines Buch, das bei jedem, der es liest, eigene Reminiszenzen und Assoziationen auslösen und damit zu einem eigenen Prozess der Selbstreflexion führen dürfte.
- Ignaz Staub empfiehlt
Laura Hillenbrand: „Unbroken“; 500 Seiten; Fourth Estate (London), 2014
Hätte ein Drehbuchschreiber Louis Zamperinis Biografie erfunden, das Skript wäre von einem Studio wohl als zu unglaublich abgelehnt worden. Doch so abenteuerlich der Lebenslauf des Sohns italienischer Einwanderer, der in den 1920ern in Kalifornien aufwuchs, auch klingen mag, er ist wahr. Sachbuchautorin Laura Hillenbrand („Seabiscuit“) hat sich Zamperinis Biografie in gewohnt akribischer Art angenommen und einen Pageturner erster Güte geschrieben. Die Amerikanerin beschreibt, wie der kleine Louis, der schon als wilder Junge schneller rannte als alle anderen, zum Mittelstreckler heranwächst und 1936 bei den Olympischen Spielen in Berlin die USA vertritt. Nach Ausbruch des 2. Weltkriegs dient Zamperini als Bomberschütze des Army Air Corps, wird in einer B-24 bei einer Suchaktion über dem Pazifik abgeschossen, treibt 47 Tage in einem Floss auf See und gerät zwei Jahre in japanische Kriegsgefangenschaft. In verschiedenen Lagern auf Honshu überlebt er Hunger, Folter und Schläge, um nach Kriegsende zwar traumatisiert, aber ungebrochen nach Hause zurückzukehren. Einst gesundet und zum Glauben bekehrt, versöhnt sich Louis Zamperini mit seinen früheren Peinigern und bleibt ins hohe Alter ein unerschrockene Abenteurer und Menschenfreund.
Viet Thanh Nguyen: „The Sympathizer“; 371 Seiten; Grove Press (New York), 2015
Zwar sind es 40 Jahre her seit dem Fall von Saigon, doch die Wunde, die der Vietnamkrieg Amerikas Psyche geschlagen hat, ist noch nicht verheilt. Und wie haben die Vietnamesen, Sieger und Verlierer, das Trauma des Krieges verarbeitet? Viet Thanh Nguyen, in Vietnam geboren und in den USA aufgewachsen, hat die Erfahrung der Kämpfe und deren Folgen für alle Beteiligten zu einem brillanten Thriller verarbeitet, in dessen Mittelpunkt ein Agent des Vietcongs steht, der 1975 zusammen mit einem Armeegeneral nach Kalifornien geflohen ist, um seine Landsleute im Exil auszuspionieren, die auf Rache und Heimkehr sinnen. Der Erzähler, ein Eurasier (dessen Vater französischer Priester war), ist ein genauer und ironischer Beobachter der amerikanischen Gesellschaft, wie sie sich in all ihren Stärken und Exzessen unter den vietnamesischen Exilanten in Los Angeles spiegelt: „Obwohl sich jedes Land auf seine Art überlegen fühlte, hat es je ein Land gegeben, das in der Bundesbank des Narzissmus so viele „super“-Begriffe münzte, das nicht nur superselbstbewusst, sondern auch supermächtig war und sich nicht begnügte, bis es jede Nation der Welt im Würgegriff hatte und um Uncle Sams Gnade betteln liess?“ Doch auch das revolutionäre Vietnam, wo der Erzähler wider Erwarten in einem Umerziehungslager endet, wird Ziel seines unbestechlichen Intellekts und seiner spitzen Feder.
Erik Larson: „Dead Wake – The Last Crossing of the Lusitania“; 430 Seiten; Crown Publishers (New York), 2015
Am frühen Nachmittag des 7. Mai 1915 griff U-20 unter Kapitänleutnant Walther Schwieger die R.M.S. Lusitania 11 Meilen vor der Küste Irlands an. Der Torpedo traf. In der Folge sank der Ozeandampfer der Reederei Cunard innert 18 Minuten und riss rund 1200 Menschen, unter ihnen 128 Amerikaner, mit in den kühlen Tod. Noch heute rätseln Experten über die Ursache einer zweiten Explosion, die auf den Torpedotreffer folgte und den Untergang der Lusitania wesentlich beschleunigte. Erik Larson, Autor mehrerer Sachbuch-Bestseller, erzählt in chronologischen Vignetten den Ablauf der Tragödie auf See, deren genauen Hintergründe noch heute im Dunkeln liegen. Unbeantwortet bleibt zum Beispiel die Frage, warum die britische Admiralität dem modernen Dampfer, der von New York nach Liverpool unterwegs war, keinen Geleitschutz gewährte, obwohl sie wusste, dass ein deutsches U-Boot in der Nähe war. Unbekannt ferner, was die Lusitania ausser amerikanischer Munition allenfalls sonst noch heimlich an Kriegsmaterial transportierte. Auf jeden Fall half der Untergang des stolzen Schiffes wesentlich mit, die öffentliche Meinung in Amerika auf einen Eintritt in den 1. Weltkrieg einzustimmen.
- Urs Meier empfiehlt
Arno Geiger: Selbstporträt mit Flusspferd, Roman, Carl Hanser Verlag, München 2015, 288 S., CHF 27.90, ISBN 978-3-446-24761-1
«Zu diesem Zeitpunkt bin ich zweiundzwanzig, der Umstand, erwachsen zu werden, gefällt mir ausserordentlich.» Der Ich-Erzähler Julian sagt dies am Anfang. Am Schluss kommt der gleiche Satz nochmals, nun aber ergänzt mit: «Doch Teil dieses Erwachsenseins ist die beunruhigende Einsicht, wie schlecht ich mich im Leben auskenne.» Zwischen dieser Klammer entspinnt sich eine Sommergeschichte, in der es der Veterinärstudent Julian mit der verflossenen Judith, der sich entziehenden Aiko und einem Zwergflusspferd zu tun bekommt. Man liest das gern und kommt nicht umhin, diesen Grünschnabel zu mögen, der da unsanft ins Leben bugsiert wird und sich recht tapfer schlägt.
Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur, Rowohlt, Berlin 2013, 444 S., CHF 29.90, ISBN 978-3-87134-781-8
«Arbeit und Struktur» ist ursprünglich das Blog (noch immer im Netz http://www.wolfgang-herrndorf.de/) des kranken Herrndorf, der sich mit dem wunderbaren Roman «Tschick» in den Zenith der deutschen Gegenwartsliteratur katapultiert hatte. Nun wird er mit 48 Jahren an einem Tumor sterben. Die zuerst seinem Freundeskreis zugedachten Notizen finden ihr Publikum im Web und erscheinen nach Herrndorfs Tod als Buch. Das titelgebende Lebensmotto verdankt der Blogger dem Rat eines Leidensgenossen: Sich Arbeit und Struktur zu geben, ist die Antwort auf die aussichtslose Situation. Die Schilderung des Versuch, trotz allem voll und ganz zu leben, berührt durch ihre unbedingte Ehrlichkeit. Herrndorf beschönigt nichts und ist dabei frei von Selbstmitleid. Sein Sarkasmus scheut auch nicht vor Komik zurück, und so schüttelt es einen mitunter vor Lachen. Beeindruckend ist die am Rand aufscheinende selbstverständliche Solidarität von Freundinnen und Freunden. Sie trotzen Herrndorfs Krankheit, indem sie ihm nichts schenken in Sachen Kritik an seiner Arbeit und, wenn immer nötig, mitgehen durch seine Höllen. «Arbeit und Struktur» ist ein grosses Vermächtnis, das keine grossen Worte macht.
Walter Mehring: Die verlorene Bibliothek, mit einem Nachwort von Martin Dreyfus, Elster Verlag, Zürich 2013, 336 S., CHF 39.80, ISBN: 978-3-906065-02-1
Er führte eine der scharfen Federn in der Zwischenkriegszeit, geriet sogleich ins Fadenkreuz der Nazis, floh mit knapper Not und fasste nach der Rückkehr nie mehr richtig Fuss. Walter Mehring (1896-1981) teilte das Schicksal so vieler widerständiger Intellektueller. Seine Autobiographie hat er in die Form des Erinnerns an die vom Vater geerbte und bei der Flucht aus Wien 1938 verlorene Bibliothek gekleidet. «Mein Wirt, den ich anrief, antwortete: ‹Sie kommen besser nicht mehr heim! Sie haben Besuch gehabt und Ihre Bibliothek hat er schon mitgenommen!› Niemals hatte ich meine Bibliothek so leibhaft Band für Band besessen wie in diesem Augenblick des Verlustes.» Dem Vater hatte dieser Bildungsschatz als Inbegriff von Aufklärung und bürgerlicher Kultur noch ein festes geistiges Fundament gegeben. Der Sohn erlebte den Verlust der Bücher als sinnbildliches Fanal der Barbarei. – Ein zu Unrecht ziemlich vergessener Literat ist dank der Neuausgabe seines Hauptwerks wieder zu entdecken.
Monika Maron: Zwischenspiel, Roman, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013, 191 S., CHF 27.50, ISBN 978-3-10-048821-3
Ruth ist sechzig, lebt allein, ist einst aus der DDR ausgereist. Diese und andere Vergangenheiten ist sie nie losgeworden, was den Widerwillen erklärt, mit dem sie sich nun auf den Weg macht zu Olgas Beerdigung. Doch dieser Tag wird zum Zwischenspiel am Rand der Realität. Es beginnt mit einer Sehstörung, und dann ist plötzlich Olga da. Ruth verfährt sich, betritt einen grossen Park, wo sie nebst Olga weiteren Verstorbenen begegnet. Da ist der philosophierende Säufer Bruno, einstiger Freund ihres früheren Lebensgefährten. Erich und Margot Honecker treten auf als schreckliche Witzfiguren. Weiter taucht ein Hund auf, der Ruth durch den Park begleitet oder eher führt. Ein schwebender, aber nie abgehobener Ton herrscht in dieser Sonderzone der Wirklichkeit. Das Phantastische bleibt dicht an der zuweilen banalen Realität. Der Hund wird mit Wurst bestochen, und die alltägliche Niedertracht macht nicht Halt vor diesem Zwischenreich. Als Finale halluziniert Ruth die unheimliche Inszenierung des Goya-Gemäldes «Das Begräbnis der Sardine», das den Brauch eines karnevalesken Freuden- und Totentanzes zeigt. Als Ruth wieder aus dem Park hinaus findet, schaut sie auf eine somnambule Konfrontation mit ihrem von politischen und zwischenmenschlichen Tragödien gezeichneten Leben zurück. Neben der ihren hat auch die Gestalt der verstorbenen Olga Kontur und Tiefe bekommen. Monika Maron erzählt durch diesen mit leichter Hand bewältigten Ausflug in den phantastischen Realismus die Geschichte zweier gegensätzlicher und dabei eng verbundener Frauen.
- Alex Bänninger empfiehlt
Mephisto nutzt das Internet; Dave Eggers, Der Circle, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, ISBN 978-3-462-04675-5, 558 Seiten
Eine Fortsetzung von Aldous Huxleys 1932 erschienenem Roman "Schöne neue Welt", eingehüllt in eine rosarote Wolke, die immer schwärzer wird und uns Angst einjagt als Ankündigung einer nahen Zukunft, in der Internetkonzerne uns als gläserne Menschen verfolgen und unseren eigenen Willen brechen. Entlarvend, atemberaubend, spannend.
Alltag mit Mord und Totschlag: Werner Ryser, Walliser Totentanz, Nagel & Kimche, München 2015, ISBN 978-3-312-00645-8, 591 Seiten
Eine Lesereise zurück ins Wallis des 16. Jahrhunderts mit Machtkämpfen, Kriegen, Pestseuchen, Despoten, Hexenverbrennungen und mit der Erschütterung unseres Glaubens an die gute alte Zeit. Erhellend, schauerlich, packend.
Mehr Aufruf als Nachruf: Albrecht Schöne, Der Briefschreiber Goethe, C. H. Beck, München 2015, ISBN 978-3-406-67603-1, 537 Seiten
Angesichts der hingeschluderten E-Mails und gehetzten Kurzbotschaften ein anachronistisches, aber hoch erfreuliches Lob aufs Briefschreiben, auf die Briefkultur und die Kunst der bedachten Kommunikation. Lehrreich, messerscharf analytisch, sprachlich ein Genuss.
- Heiner Hug empfiehlt
Malte Herrwig: "Die Frau, die Nein sagt". Françoise Gilot über ihr Leben mit und ohne Picasso, Ankerherz Verlag, Hollenstedt, 2015, 176 Seiten
Picasso lernte die schöne Einundzwanzigjährige 1943 im Pariser Lokal „Le Catalan“ kennen. Später zieht sie mit ihm nach Südfrankreich, ist fast zehn Jahre seine Frau und zeugt mit ihm zwei Kinder. Picasso ist vierzig Jahre älter als sie. Berühmt ist ein Foto von Robert Capa, auf dem Picasso seine Frau mit einem riesigen Sonnenschirm bedeckt. Die Idylle trügt. 1953 kommt der Bruch. Sie verlässt ihn, zusammen mit ihren Kindern; sie hat genug von seiner Tyrannei. Picassos frühere Frauen unterwarfen sich dem Malergenie, Françoise Gilot, die aus einer reichen Familie stammt, nicht. Sie, die selbst eine Malerin ist, bietet ihm die Stirn. 1964 hatte sie ihre Autobiographie "Leben mit Picasso" vorgelegt. Das jetzt vom Journalisten Malte Herwig publizierte Buch „Die Frau, die Nein sagte“ gibt zusätzlichen Einblick in das Leben der noch immer attraktiven Frau an der Seite des grossen Spaniers. Es basiert auf vielen Gesprächen, die Herwig über mehrere Jahre hinweg mit der heute 93-Jährigen in New York und Paris geführt hat. Schade, dass sich der Autor etwas oft in den Vordergrund stellt.
Wolfgang Blösel: "Die römische Republik". Forum und Expansion. C.H. Beck Verlag, München, 2015, 304 Seiten
Wieso kollabiert das grosse Römische Reich, ohne von aussen gefährdet zu sein? Fast atemberaubend erzählt der Autor die Geschichte der römischen Feldzüge. Das Streben nach Ruhm und höchster Ehre war der Motor der Expansion. Nur wer grandiose militärische Leistungen vorzuweisen hatte, gelangte in die höchsten Ämter. Die Sieger wurden mit Triumphzügen geehrt. Da Schlachterfolge die grösste Ehre brachten, versuchten sich viele als Feldherren, die Verlustquote war entsprechend hoch. Dann beginnt sich die Führungsschicht zu bekämpfen, man wird arrogant, starr und dekadent, und das Militär schwingt oben auf. Damit beginnt der Anfang vom Ende der Republik. Anschaulich und gut lesbar schildert der Autor, ein Althistoriker, die Geschichte des alten Roms in geraffter Form anhand überraschender neuer Forschungsergebnisse.
Isabelle Autissier: "Soudain, seuls", Stock, Collection La Bleue, 2015, 252 Seiten (französisch), auch als E-Book
Ein Ehepaar in den Dreissigern strandet auf einem Segeltörn auf einer verlassenen Insel zwischen Patagonien und Kap Horn. Plötzlich kommt ein Sturm auf und das Schiff ist weg. Die beiden sind gefangen in der Einsamkeit. Kein Handy mehr, keine Société parisienne. Ihre neuen Kollegen sind Pinguine, Robben und Ratten. Wie verdaut man Pinguine? Die einst verliebten Ludovic und Louise entfremden sich immer mehr. Der Aufenthalt wird zum Albtraum – eine moderne Robinsonade, ein echter Thriller, der den Lesern immer wieder Hühnerhaut beschert. Den Schluss verraten wir nicht.
- Roland Jeanneret empfiehlt
Daniel Glattauer: Geschenkt, Paul Zsolnay-Verlag, ISBN 978-3-552-06257-3
„Meinen Sohn hätte ich mir anders vorgestellt. Ich hielt es offen gestanden für eine Zumutung, dass er Manuel hiess, eine Zumutung ihm und mir gegenüber“, beginnt der ungeduldig erwartete dritte Glattauer-Roman. Als Hauptfigur steht diesmal Gerold Plassek im Mittelpunkt, der freudlose Journalist bei einer überflüssigen Gratiszeitung, der vor Lustlosigkeit zum Alkoholiker wurde und in verzwickter Beziehungskiste lebt. Komplizierte Partnerschaften scheinen schon seit „Gut gegen Nordwind“ Glattauer zu faszinieren. Und auch geblieben ist sein knapper, präziser, oft monologischer Schreibstil, der einen durch die ganzen 334 Seiten packt und es schwer macht, unterwegs aufzuhören.
Matthias Baxmann/Matthias Eckoldt: Woanders ist auch Alltag, Bastei Lübbe, ISBN978-3-404-60819-5
Auslandkorrespondenten der ARD und des Deutschlandradios erzählen vom Leben in der Fremde. Freuden und Leiden rund ums Busfahren, Notfälle, Trauer, Toiletten, Zahnpflege oder Strassenstrich. Entstanden ist das Taschenbuch aus der Sendereihe „Alltag anders“: Nicht nur ein Sammlung von fremden und vertrauten Erlebnissen, sondern zugleich eine Würdigung der kleinen Leute weltweit, wie sie die Tücken ihres jeweiligen Alltags annehmen und mit ihnen fertig werden. Eine äusserst amüsante Ferienlektüre gerade für Reisefreudige.
Dieter Widmer: Das unfaire Lebenslaufrad, Wagner Verlag, ISBN 978-3-95630-298-5
Ein Buch für Krimifreunde, das ganz bei uns spielt: Martin Marmet, Immobilienhändler in Langenthal, geht es schlecht. Seine Frau Felicitas wird von einem schrecklichen Vorwurf bedrängt. Er selber fühlt sich vom Lebenslaufrad abgeworfen und begibt sich immer öfter nach Bern. Diese kleinen Fluchten bleiben nicht ohne Folgen. Bis das Geheimnis hinter Felicitas’ verzweifelter Lebenslage aufgedeckt wird, muss sich der Leser allerdings recht lange gedulden…. Dieter Widmer war Journalist, Lobbyist eines Energiekonzerns und in der Spital- und Pflegeheimbranche tätig und gehörte lange dem Berner Grossen Rat an, den er auch präsidierte. Er lebt im Oberaargau.
Michael Köhlmeier: Zwei Herren am Strand, Carl Hanser Verlag, ISBN 978-3-446-24603-4
Zwei Herren gehen miteinander spazieren, allein, im vertrauten Gespräch. Der eine schwer, rund, mit der unvermeidlichen Zigarre – der andere schmal, unruhig, in dauernder Bewegung. Wir kennen sie alle: Winston Churchill und Charlie Chaplin. Beide sind vom Ruhm verwöhnt, beide litten immer wieder an tiefen Depressionen. Mit der Kunst eines grossartigen Erzählers beschreibt Michael Köhlmeier mittels dieser beiden Figuren die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zwischen Kunst und Politik, grösster Komik und schrecklichem Ernst. Realität oder Fiktion? „Das ist zu originell, um erfunden sein zu können“, schrieb der Kölner Stadtanzeiger.
M. Moffit/G. Brown: Das Ei war's, Bastei Lübbe, ISBN 978-3.404-60810-2
„Nun gibt es sie, die heiss erwarteten Antworten auf die brennendsten Fragen der Wissenschaft“, preist sich das Taschenbuch gleich selber an. Und es meint es ernst mit dieser Behauptung: Endlich ist die Frage geklärt, ob das Huhn oder das Ei zuerst da war. Aber noch ganz andere Erläuterungen warten auf den entspannten Ferienleser, die neugierige Ferienleserin: Werden vom Rasieren die Haare dicker? Was, wenn wir nie wieder nach draussen gingen? Warum schlafen zwischendurch bloss Teile des Körpers ein? Weiter erfährt frau/mann Wissenschaftliches über den Liebeskummer, das Fluchen oder das Lügen. Oder über die vielgehörte Feststellung, dass die Zeit immer schneller rast, je älter man wird…. Mit zahlreichen Illustrationen und Comics.
Susa Bobke: Männer sind anders. Autos auch, Knaur Taschenbuch Verlag, ISBN 978-3-426-78353-5
„Wo ist ihr Kollege?“ fragt mich der Mann und schaut rechts und links an mir vorbei. Er hat seine Tage“, dachte ich und schwieg. Noch direkter ein anderer, mit einer Panne am Strassenrand: „Haben Sie eigentlich eine Ausbildung?“ Solcher Skepsis begegnet Susa Bobke, Gelber Engel beim ADAC – oder TCS-Pannenhelferin, wie wir hier sagen würden – fast tagtäglich. Dass eine Frau als Mechanikerin auftritt, scheint auch heute noch eher ungewöhnlich zu sein. Über 20'000 Mal hat sie in ihrer 15-jährigen Tätigkeit bereits geholfen. Jetzt hat sie sich entschieden, ihre Erlebnisse aufzuschreiben. Es wurde eine Ansammlung von kuriosen, haarsträubenden und oftmals auch berührenden Szenen. Eine höchst unterhaltsame Ferienlektüre über spezielle Begegnungen in Extremsituationen auf dem Pannenstreifen!
- Stephan Wehowsky empfiehlt
Joan Schenkar, Die talentierte Miss Highsmith, Aus dem Englischen von Renate Orth-Guttman, Karin Betz und Anna-Nina Kroll, 1072 Seiten, Diogenes, Zürich 2015
Die Romane und Krimis von Patricia Highsmith sind derartig tiefgründig, dass man sie wieder und wieder lesen kann. In der Biographie von Joan Schenkar erscheint Highsmith als vollkommen durchgeknallte Person. Ihre letzten Jahre verbrachte sie im italienischen Tegna in einem Haus, das selbst ihre besten Freunde nur als „Bunker“ bezeichneten. Sie fühlte sich ständig verfolgt, was sie ass, hätte man, so eine Freundin, auch gleich an ihre zahlreichen Katzen verfüttern können. Highsmith war lesbisch und litt im Alter unter ihrer geschwundenen Attraktivität. Und der Briefwechsel mit ihrer Mutter liest sich wie eine Beispielsammlung psychiatrischer Pathologien. Es gibt keine Beleidigung oder Unterstellung, auf die eine der beiden Damen verzichtet hätte. Diese Biographie ist eine lohnende und äusserst spannende Lektüre und mindert nicht die Bewunderung, die man der genialen Patricia Highsmith entgegenbringt.
Navid Kermani, Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt, 253 Seiten, Verlag C. H. Beck, München 2013
Der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani erhält in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Grund genug, noch einmal auf seine bisherigen Publikationen zu schauen. Besonders eindrücklich ist dabei der Band „Ausnahmezustand“ von 2013, der auch ältere Texte enthält. Er besucht Syrien, Lampedusa, Palästina und Ägypten. Kermani ist ein genauer, mitfühlender Beobachter, dessen Stärke auch darin besteht, mit den Menschen vor Ort ins Gespräch zu kommen. Dabei stösst er auf Einsichten, die weit über den Tag hinaus gültig sind. Bei allem Kummer und Schmerz spricht aus ihm die Stimme der Humanität. Und man bekommt Lust, auch in seine neueren Bücher zu schauen, die sich zum Beispiel mit dem Verhältnis des Westens zum Koran beschäftigen.
Bernt Spiegel, Die obere Hälfte des Motorrads. Über die Einheit von Fahrer und Maschine, 308 Seiten, 10. Auflage, Motorbuch Verlag, Stuttgart 2015
An dieser Stelle mag es skurril wirken, auf ein Buch zum Motorradfahren hinzuweisen. Aber es handelt sich dabei nicht nur um ein vorzügliches Lehrbuch, sondern zugleich um ein höchst vergnügliches intellektuelles Spiel: Wie schafft es der Mensch überhaupt, ein solches Gefährt zu beherrschen? In der Evolution war das zunächst nicht vorgesehen. Und trotzdem kann es funktionieren! Mittlerweile ist das Buch im Motorbuch-Verlag in der 10. Auflage erschienen. Die neueste Ausgabe enthält Aktualisierungen. Was macht man zum Beispiel bei starkem Seitenwind? Bernt Spiegel hat einen Tipp, der dem Gegenteil von dem entspricht, was der Instinkt beziehungsweise die Reflexe eingeben. Mehr sei hier nicht verraten.
- Reinhard Meier empfiehlt
Irvin D. Yalom: Die Schopenhauer-Kur. btb-Verlag, 448 Seiten, Fr. 14.90
Der amerikanische Kultautor aus der Psychiatrie-Szene Irvin D. Yalom hat sich auf sogenannte „teaching novels“ spezialisiert. Es sind ebenso erkenntnisreiche wie spannende Verknüpfungen von romanhaften Handlungen mit analytisch-biographischen Einblicken in die Existenz grosser Philosophen. In diesem Buch geht es um eine Therapie-Gruppe, die von einem kundigen Psychoanalytiker geleitet wird, der erfahren hat, dass er von einem bösartigen Hautkrebs befallen ist. In dem Plot spielt der deutsche Philosoph Arthur Schoppenhauer eine grosse Rolle. Ein Mitglied der Gruppe ist überzeugt, sich nur dank Schopenhauers weltabgewandt-pessimistischer Lebensweisheit von seiner Sexsucht befreit zu haben. Aber auch der Schopenhauersche Scharfsinn stösst an seine Grenzen. Ein Pageturner mit Tiefgang.
Amos Oz: Judas. Suhrkamp Verlag Berlin 2015, 335 Seiten, Fr. 31.90
Amos Oz, Israel berühmtester Schriftsteller, erzählt in seinem jüngsten Roman von einem gescheiterten israelischen Studenten namens Schmuel Asch im Winter 1959. Bei seiner Forschungsarbeit über „Jesus in der Perspektive der Juden“ ist er festgefahren. Er übernimmt einen Job als Betreuer eines invaliden alten Mannes in einem geheimnisvollen Haus in Jerusalem. Darin wohnt auch dessen attraktive verwitwete Schwiegertochter Atalja. Diese spannungsreiche zentrale Handlungsebene verknüpft der Autor virtuos mit verschiedenen andern geschichtlichen Zeiträumen und religiösen Fragestellungen. Dazu gehört die Neuinterpretation des angeblichen Jesus-Verräters Judas als blind gläubigen Verehrer des Gekreuzigten. In diesem Roman gibt es keine eindeutigen Helden oder Bösewichte. Die Handlung ist komplex und vielschichtig wie die Geschichte des jüdisch-christlichen Schismas und des Palästina-Konflikts. Doch schon nach wenigen Sätzen zieht Oz den Leser in den Bann seines dichten Erzählnetzes.
- Christoph Kuhn empfiehlt
Ricardo Piglia: Munk, aus dem argentinischen Spanisch von Carsten Regling, Wagenbach Verlag, 31.95 Sfr.
Der 75-jährige Romancier und Essayist Ricardo Piglia gehört zu den sicheren Werten der an Talenten so reichen argentinischen Literatur. Im Roman „Munk“ finden sich alle die Ingredienzen, die ihn auszeichnen und für die er bekannt ist. Eine spannende Handlung mit spektakulären Volten; ein zupackender, ans Ungeduldige grenzende Stil; und üppig eingestreut viele literarische Anspielungen, Literatur über Literatur. Ein argentinischer Literaturprofessor gerät an einer US-Universität zuerst in eine intensive Liebesgeschichte, dann in den Bannkreis des Terrorismus – und mausert sich zum fantasiebegabten Dedektiv. Piglia bedient den Liebhaber spannender Plots so gut wie den Adepten raffinierter literarischer Spielereien. Und für alle, die damit noch nicht genug haben, gibt es noch einen weissen Hai im Keller eines professoralen Privathauses…
Matthias Nawrat: Unternehmer, Rowohlt Verlag, 23.70 Sfr.
Matthias Nawrat ist ein vielversprechender Newcomer, ein aus Polen stammender deutscher Autor, 1979 geboren, Mit seinem Debütroman „Wir zwei allein“ hat er Aufsehen erregt und Preise gewonnen – nun liegt der zweite Streich vor: „Unternehmer“ ein vollauf gelungener, origineller Kurzroman. Aus der Sicht der 13-jährigen Lipa werden Episoden aus dem Leben einer im Schwarzwald ansässigen Kleinfamilie erzählt. Die Geschichte spielt in nachindustrieller Zukunft. Der Vater Lipas lebt davon, dass er aufgegebene Fabriken ausweidet und den Schrott verkauft, frönt dabei einer karikatural anmutenden kapitalistischen Ideologie, die ihn statt ins beschworene Paradies ins Unglück führt. Der Roman ist in einer amüsanten Kunstsprache geschrieben, die mal technoid, mal humoristisch tönt, soziale Defizite aufdeckt und en passant auch noch eine schräge kleine Liebesgeschichte mitnimmt.