In der russischen Kultur- und Literaturszene spielen sich seltsame Debatten ab. Dass auf diesem Feld seit einiger Zeit häufig schrille nationalistische und antiwestliche Töne dominieren, ist angesichts des im Zuge der Ukraine-Krise frostiger gewordenen Klimas zwischen Putins Russland und dem EU-Nato-Verbund nicht erstaunlich. Nun aber ist unlängst selbst eine so titanische Figur wie Alexander Solschenizyn, die als Inbegriff kämpferischer Vaterlandsliebe gilt, von prominenter Seite unter den Verdacht des mangelnden Patriotismus, ja des Verrats an der Heimat gestellt worden.
Juri Poljakow, der Chefredaktor der „Literaturnaja Gaseta“, der bekanntesten literarischen Wochenzeitung in Russland, stellte in seinem Blatt die Frage, ob die Feiern zum hundertsten Geburtstag Solschenizyns im Jahre 2018 (der Nobelpreisträger ist 2008 verstorben) nicht allzu glanzvoll geplant würden. Schliesslich habe dieser Schriftsteller „seinerzeit nicht nur die Sowjetunion verlassen“, sondern er habe die Amerikaner praktisch dazu aufgefordert, gegen seine Heimat Krieg zu führen“. Eine atemraubend demagogische Verleumdung. Kein Wort davon, dass Solschenizyn 1974 vom Breschnew-Regime in den Westen deportiert wurde. Und nicht den Hauch eines Beleges, dass je er für einen Krieg gegen sein Land plädiert hätte.
Doch wer befürchtet, die Ultra-Chauvinisten hätten in der öffentlichen Debatte Russlands vollends das Ruder übernommen, kann vorläufig beruhigt werden. Der perverse Ausfall des Chefredaktors blieb nicht ohne Widerspruch: Die Witwe Solschenizyns, Natalia Swetlowa, konnte in einer andern Kulturzeitung eine energische Entgegnung publizieren. Und selbst der Redaktion der „Literaturnaja Gaseta“ gelang es, in der nächsten Ausgabe eine dreizeilige Distanzierung von ihrem Chefredaktor unterzubringen. Noch ist der Patriot Solschenizyn nicht von überkandidelten russischen Pseudopatrioten vom Sockel gestürzt.