Nicht nur in den USA, auch in Basel, Bern, Biel oder Zürich haben sich die «Black Lives Matter»-Proteste in gemeinsamen Demonstrationen von People of Colour und Weissen artikuliert. Dieses Zusammenstehen von Menschen verschiedener Rassen gilt in Amerika als – zumindest in diesem Ausmass – neues Phänomen. Ermutigend ist es besonders deshalb, weil es sich den von manchen Seiten immer penetranter propagierten Dogmen der Identitätspolitik nicht beugt, sondern in einer intuitiven menschlichen Regung Teilnahme und Solidarität zeigt.
Ein typisch identitätspolitisches Reaktionsmuster hingegen hat kürzlich die Kommentatorin Salome Müller im «Tages-Anzeiger» erkennen lassen. Den nicht dunkelhäutigen Protestierenden in der Schweiz ruft sie mahnend zu: «Skandieren weisse Menschen ‘I can’t breathe’, machen sie sich eine Erfahrung zu eigen, die ihnen nicht gehört.»
Kulturelle Aneignung, so eine der identitätspolitischen Festlegungen, läuft darauf hinaus, benachteiligte soziale Gruppen ihrer Identität zu berauben. 2017 verlangte die schwarze Künstlerin Hannah Black in New York die Zerstörung eines Gemäldes der weissen Malerin Dana Schutz. Das medienwirksam angeprangerte Vergehen: Schutz hatte den im Sarg liegenden Emmett Till dargestellt, einen 1955 einem rassistischen Verbrechen zum Opfer gefallenen Schwarzen. Hannah Black argumentierte im Wesentlichen gleich wie jetzt Salome Müller.
Seither sind viele ähnliche Fälle hinzugekommen. Die weisse Schriftstellerin Jeanine Cummins wurde zur Unperson, weil sie in ihrem Roman «American Dirt» das Schicksal einer mexikanischen Migrantin thematisiert hatte. Und grossen Aufruhr verursachte die weisse Sängerin Betty Bonifassi, als sie für ein Jazz-Festival in Montreal traditionelle Sklavenlieder ins Programm nahm. Jedes Mal ging es um «Aneignung» einer Unterdrückungssituation, die der beklagten Künstlerin «nicht gehört», weil diese Erfahrung für die Identität der jeweiligen Gruppe von Benachteiligten bestimmend sei.
Es leuchtet ein, dass sozial Stigmatisierte – seien sie Schwarze, Frauen, Kolonisierte, Homosexuelle oder anderweitig Benachteiligte – sich jeweils als Mitglieder einer gesellschaftlichen Formation sehen. Dank solcher Zugehörigkeit haben sie eine politische Stimme und in gewissem Sinn auch ihre besondere Identität. Doch dieser letztere Begriff wird dann problematisch, wenn er als Ausschliessung funktioniert und das Leiden an der Stigmatisierung zum exklusiven «Besitz» macht.
Gegenüber den jeweiligen Opfern gesellschaftlichen Unrechts sind aus identitätspolitischer Sicht alle anderen Täter. Diesen ist jede mitfühlende Identifikation verboten; ihnen bleibt nur das Eingeständnis der Schuld. Eine andere Rolle ist für sie im Setting der Identitätspolitik nicht vorgesehen. Sie tragen die Last, Bevorteilte der Geschichte, Komplizen des Unrechts zu sein, und zwar unterschiedslos allein aufgrund ihrer Nichtzugehörigkeit zur Gruppe der Opfer.
Salome Müller hat deswegen von den weissen Demonstrierenden «Demut» verlangt. Sie schlägt auch vor, wie das geschehen kann: «Sich über die jahrhundertealte Geschichte des Rassismus informieren. Die Geschichten von James Baldwin, Toni Morrison, Chimamanda Ngozi Adichie lesen. Schwarzen Mitmenschen zuhören.»
Das sind gute Ideen, und wahrscheinlich rennen sie bei denen, die zusammen mit Betroffenen demonstrieren, ohnehin offene Türen ein. Auch an Demut gegenüber dem überwältigenden Unrecht, das der Rassismus weltweit verursacht, fehlt es in diesem Milieu kaum.
Es braucht also den schulmeisternden Tonfall nicht. Für eine identitätspolitische Erziehung besteht kein Bedarf. Die Trennung der gesamten Gesellschaft in Opfer und Täter hat einen sektiererischen Beigeschmack und hilft niemandem. Was hingegen Bewegung in erstarrte Fronten bringt, das sind die spontanen Regungen des Mitfühlens und die daraus erwachsenden Haltungen der Solidarität.