Auf dem EU-Sondergipfel lasteten grosse Erwartungen. Von Solidarität mit den am schwersten von Corona getroffenen Ländern war die Rede, gar von einer Schicksalsentscheidung für die EU. Diese operiert seit nunmehr einem Dutzend Jahren im Modus der akuten Dauerkrise: Griechenland, der Euro, die in die Staatsfinanzierung abgeirrte EZB, die Flüchtlinge, der Brexit und zu allem auch noch die Rechtsstaats-Defizite in Ungarn und Polen sowie weiteren Ländern.
Und nun Corona. Dass die EU den am Abgrund stehenden Ländern – vor allem Italien und Spanien – Beistand leisten soll, leuchtet allen Gipfelteilnehmern ein; zumindest sagen es alle. Angela Merkel und Emmanuel Macron übernahmen im Vorfeld die Führung. Ihr Vorschlag: Schnürung eines durch gemeinsame Schuldenaufnahme zu finanzierenden Hilfspakets von 500 Milliarden Euro an nicht rückzahlbaren Unterstützungsgeldern, zusätzlich Kredite im Umfang von 350 Milliarden Euro. Merkel und Macron bekamen starken Gegenwind von den «sparsamen Vier»: Holland, Österreich, Dänemark, Schweden – später noch verstärkt durch Finnland.
Die «Sparsamen» (oder «Geizigen», wie ihre Gegner sagen) wollten den Umfang des Gesamtpakets reduzieren und das Verhältnis zugunsten des Kreditanteils verschieben. Zudem verlangten sie Reformen bei den Empfängern, Kontrollen über die Verwendung der Gelder und ein Veto bei ungenügender Umsetzung der zugesagten Massnahmen. Ausserdem verlangten sie beim regulären EU-Haushalt eine Koppelung von Beitragszahlungen an Rechtsstaats-Garantien.
Dieser Streit unter den 27 Staats- und Regierungschefs konnte nun – Stand früher Abend des vierten Verhandlungstags, 20. Juli – teilweise geschlichtet werden. Statt 500 sind es jetzt 390 Milliarden Euro an Sonderbeiträgen. Gelingt aber beim Kreditanteil der Corona-Unterstützung und vor allem beim langfristigen EU-Haushalt keine Einigung (es muss einstimmig beschlossen werden, was jedem Mitglied faktisch ein Vetorecht gibt), so stürzt alles ab. Es ist anzunehmen, dass man das in Brüssel irgendwie verhindern wird. Der Glaubwürdigkeits- und Prestigeverlust wäre für die EU gigantisch, ja womöglich tödlich.
Ein Beweis europäischer Solidarität war der Sondergipfel, egal wie er enden wird, wohl kaum. Sie zu propagieren, hatte ohnehin mehr mit Rhetorik und Verhandlungstaktik zu tun als mit politischer Substanz. Staaten verfolgen immer ihre eigenen Interessen, und zwar auch dann, wenn sie anderen Hilfe leisten. Nicht Solidarität ist die Triebkraft internationaler Politik. Wirksame Hilfe an Corona-geschädigte Mitglieder liegt besonders im Eigeninteresse der verbliebenen Hauptmächte der EU. Deutschland und Frankreich werden alles dransetzen, dass ein wirtschaftliches Schwergewicht wie Italien nicht untergeht. Eine solche Katastrophe wäre nicht mehr mit ein paar hundert Milliarden aufzufangen.