Das fängt mit dem Römer Seneca in Monteverdis „L’incoronazione di Poppea“ (1643) an und zieht sich durch die weitere Operngeschichte der Barockzeit. Denn auf der Opernbühne begegnen uns – freilich zum Vergnügen des anwesenden Publikums – vor allem Philosophen, die sich als untaugliche Moralisten, kleinliche Pedanten, chancenlose Weltverbesserer und an der Wirklichkeit vorbeiträumende Gutmenschen entpuppen. Zwar stehen sie im Ruf, von höherer Weisheit beflügelt zu sein, doch in den allermeisten Fällen stolpern und scheitern sie an den kleinsten Herausforderungen der eigenen Lebenswirklichkeit.
Sokrates und die Frauen
Im Gegensatz zum Sokratesbild, das uns aus den Schriften Platons und Xenophons vertraut ist – sie zeichnen den Mann als tiefsinnigen Fragesteller und erkenntnissuchenden Gesprächspartner der athenischen Jugend –, setzte sich in der Komödienliteratur die weniger schmeichelhafte Charakterisierung von Sokrates durch, so wie ihn Aristophanes in seinen „Nephelai – Die Wolken“ (423 v. Chr.) sah: als einen über den Dingen schwebenden Spinner, der sich vor dem gesunden Menschenverstand mit seinen Theorien und Behauptungen nur lächerlich macht.
Dieser Tradition gefiel es auch, Sokrates im Verhältnis zu seiner Ehefrau Xanthippe als Pantoffelhelden zu sehen. Über sie weiss man historisch zwar wenig Genaues, aber sie eignete sich hervorragend, um aus ihr einen Hausdrachen und ein streitsüchtiges „Räf“ zu machen. Heute noch nennen wir Xanthippe eine Frau, die dem klugen und nur die wesentlichen Dinge des Lebens im Auge behaltenden Mann den letzten Geduldstropfen abverlangt. Auch wurde es im Verlauf der Tradition üblich, Sokrates und sein Verhalten zu Frauen dadurch der Lächerlichkeit preiszugehen, dass man ihn zum „senex amans“ machte: zum liebestollen Greis also, dem die Altersverliebtheit ganz und gar den Verstand raubt und der so zum Sklaven weiblicher Willkür und Launenhaftigkeit wird.
Telemann in Hamburg
Als Georg Philipp Telemann (1681–1767) – wir begehen in diesem Jahr seinen 250. Todestag – im Jahr 1721 nach Hamburg als „director musices“ berufen wurde und dort das Musikleben in Kirchen, in der Oper am Gänsemarkt und in den Konzertsälen über mehr als vier Jahrzehnte prägen sollte, kannte man in der Stadt einige Werke des berühmten und beliebten Musikers bereits. So war am 2. Februar 1721 dort seine Oper „Der geduldige Sokrates“ uraufgeführt worden. Die Produktion war ein grosser Erfolg, Telemanns Ruhm verbreitete sich über ganz Europa.
Wenn wir heute in Bach und Händel die musikalischen Leuchten dieser Epoche erkennen, so überstrahlte Telemann damals seine beiden Kollegen bei weitem. Telemanns Stern verblasste im 19. Jahrhundert. Wie bedeutend er wirklich war, wird erst in unserer Zeit wieder klar erkennbar, vor allem dank zahlreicher Neueinspielungen seiner lang vergessenen Werke in historisch-kritischer Aufführungspraxis, verbunden mit heutiger stimmlicher wie instrumentaler Musizierwollust. Immerhin hat er – neben einer Riesenmenge an Kirchen- und Kammermusik – an die 35 Opern in Töne gesetzt, ohne die vielen Arien und Bühnenmusiken zu zählen, die er zur Ergänzung von Opern anderer Musiker komponierte.
Den „Sokrates“ brachte Telemann allerdings nicht als erster auf die Bühne. Die Hamburger-Version von Telemann ist eine elegant gedichtete deutsche Fassung von Johann Ulrich König eines Librettos von Nicolò Minato mit dem Titel „La Pazienza di Socrate con due moglie – Die Geduld des Sokrates mit zwei Ehefrauen“. Die Oper war in italienischer Fassung zum ersten Mal 1680 in Prag auf die Bühne gekommen, komponiert von Antonio Draghi. Später haben weitere Komponisten die Geschichte des von zwei Ehefrauen geplagten Philosophen vertont. Wie Weibergekeif einen Philosophen zur Strecke zu bringen vermag, schien dem Publikum der Barockzeit als Bühnensujet sehr zu gefallen!
Bigamie in Athen
Die erzählte Geschichte basiert auf einem angeblichen Gesetz Athens, das nach einem verlustreichen Krieg die Stadt jeden der überlebenden Männer verpflichtet habe, gleich zwei Frauen zu heiraten. So hat also Sokrates nicht nur seine Xanthippe, sondern dazu auch noch eine Amitta, die nicht weniger eitel, zänkisch, rechthaberisch und eifersüchtig ist. Sokrates mahnt die beiden vergeblich zu Einsicht und Vernunft. Wo es um die Konkurrenz um den Vorzug geht, hört alle Rücksicht auf. Da wird gezankt und gekränkt, gekreischt und beleidigt, dass die Federn fliegen.
In die Handlung eingebaut ist die Geschichte eines Prinzen namens Melito und der Prinzessinnen Rodisette und Edronica. Für diese Figuren wird die Komödie ein gutes Ende finden, weil Athen bald einmal das unsinnige Gesetz der verordneten Bigamie wieder aufhebt und die beiden Damen je einen sie anbetenden Liebhaber finden, der auch zur Ehe bereit ist. Sokrates bleibt allerdings seinen beiden Frauen verbunden, denn „lex retro non agit“ – das neue Gesetz gilt nicht rückwirkend! Seine letzten Worte am Ende der Komödie: „Ja, ja! Im Ehstand ist bald Sturm, bald Sonnenschein: / Ihr Männer, lernet nur beizeit geduldig sein.“
Phantastische Arien, virtuose Ensembles
Lange hat man Telemann als Massenproduzenten alltäglicher Musikware angesehen, als flachen Konventionskomponisten. Inzwischen weiss man: Der Kerl ist weit besser als sein Ruf! Manche Werke – Kirchenkantaten zumal –, die man lange Zeit für Bach-Kantaten hielt, erwiesen sich dem forschenden Auge als Abschriften von Telemannschen Kompositionen in Bachs eigener Handschrift.
Gerade dieser „Geduldige Sokrates“, eine listig-ironische Auseinandersetzung mit den allzu menschlichen Ein- und Rücksichten eines Philosophen, der auf dieser Welt vor allem seine Chance zum Denken und – das wollen wir nicht unterschätzen – seine Ruhe zum Genuss der Schönheiten des Daseins retten will, ist ein glitzerndes Feuerwerk an musikalischer Eingebung und Raffinesse und an vergnüglicher Unterhaltung. Man möchte sich wünschen, dass diese Erkenntnis endlich einmal in die Planungen der Intendanten der heute tonangebenden Opernhäuser einfliessen würde.
Hier ausgewählt als musikalischen Beweis für Telemanns Erstklassigkeit im Opernbereich ist eine Arie der Prinzessin Rodisette. Sie wurde vor einigen Jahren mit der Sängerin Nuria Rial und dem Kammerorchester Basel unter Julia Schröder eingespielt. Können ihre an natürlichem Charme kaum zu toppende Stimme und die Instrumente des Ensembles – zumal die hochvirtuose Blockflöte von Maurice Steger – herrlicher miteinander um Schönheit wetteifern?
Musikalisch schwankende Gedanken
Für Rodisette geht es hier um die Frage: Bin ich die wirkliche, die einzige Geliebte, oder bin ich nur die eine neben einer anderen? Sie schwankt zwischen „Lust und Zuversicht, zwischen Last und Argwohn“. Die Hoffnung, sie sei die Erwählte, tröstet sie „mit schmeichelnden Scherzen“. Der Zweifel, es könnte eine andere die Erwählte sein, schreckt sie „mit tödlichen Schmerzen“. Wir hören ihr zu und verstehen sie vollkommen. Liebe ist keine von Staates wegen zu verfügende Angelegenheit. Telemanns Musik lässt uns spüren, wie die Hoffnung auf Einzigartigkeit unser Glück nährt und wie der Zweifel daran an unserer Lebenszuversicht nagt.
Ein Sokrates rettet sich schliesslich, indem er die Last, die er mit seinen Frauen hat, als die für einen Stoiker angemessene Prüfung des Standhaltens angesichts der Unvollkommenheit des Daseins betrachtet. Rodisette hingegen wird selbst in dieser Oper am Ende zur Philosophin. Ihre letzten Worte im Schlusschor lauten: „Liebe, deine Schmeicheleien / sind vermischt mit Lust und Pein.“ Welcher Liebende möchte der Einsicht dieser jungen Liebesexpertin widersprechen?
Tonaufnahme: Mich tröstet die Hoffnung aus „Der geduldige Socrates“, Nuria Rial, Sopran