Manchmal frage ich mich, ob wir Schweizerinnen und Schweizer eigentlich mental noch alle Bauern seien. Wer unsere Landwirtschaftspolitik verfolgt, hat längst zur Kenntnis genommen, dass unser „genetischer Fussabdruck“ ein bäuerlicher sein muss. OK, schliesslich waren vor 600 bis 700 Jahren fast alle unsere Vorfahren Landwirte. Tüchtige, innovative, zupackende Bauern und Bäuerinnen.
Reformresistente Branche
Anhand von fünf landwirtschaftlichen Themenkreisen möchte ich fragen, warum wir so tief in der Erde stecken und dieser Sektor so unglaublich reformresistent ist:
- Unsere Vorfahren „r-ackerten“ sich ab.
- Die Bauernlobby „zementiert“ Überholtes.
- Unsere Fördermilliarden sind keine Investitionen in die Zukunft.
- Die Abneigung gegen Gentechnik ist kontraproduktiv.
- Artenvielfalt, Antibiotika, Artensterben.
Ist unsere Vorstellung, die wir vom Bauerntum herumtragen, eigentlich identitätsstiftend in einem rätselhaften Ausmass? Warum denn sonst wäre es denkbar, dass wir klaglos akzeptieren, jährlich rund 20 Milliarden Franken (Economiesuisse) zu „verbraten“? Geld, das wir – zumindest teilweise – dringend in Zukunftsprojekte investieren sollten?
Wer sich intensiver mit der Vergangenheit auseinandersetzt – also den zehn Jahrhunderten des ersten Jahrtausends – ist tief beeindruckt von den grossen Leistungen, die unsere Vorfahren erbrachten. Von den Anfängen unserer alemannischen Vorväter, die schon vor dem 12. Jahrhundert in den nördlichen Gebieten der heutigen Schweiz siedelten, ist die Spur ihrer Nachkommen an der sukzessiven Besiedelung unserer Gegend nachzuverfolgen. Generation um Generation bebaute das Land. Stieg die Einwohnerzahl, blieb nichts anderes übrig, als „auszuwandern“: d. h. die angrenzenden Wälder zu roden, neue Siedlungen zu bauen, Äcker und Felder anzulegen (sich „abzurackern“) – um nicht zu verhungern.
Bis ins 16. Jahrhundert dominierte bei uns (neben den Söldnerdiensten für ausländische Kriegsherren) der Beruf des Bauern. Nur langsam entwickelten sich daneben neue Berufsstände wie Müller oder Untervogt. Somit haben wir alle das „Bauern-Gen“ in uns, die grosse Sympathie vor allem für die Bergbauern oder für bäuerliche Anliegen.
Die Bauernlobby „zementiert“ Überholtes
Dass wir stündlich 1,8 Millionen Franken für unsere Landwirtschaft aufwenden, ist weitgehend das Verdienst der „vereinigten“ Bauernlobby in Bundesbern. Nicht nur sind zwei von sieben Bundesräten Bauernsöhne, mindestens 35 Parlamentarier (14 Prozent) sind offiziell der Bauernlobby zuzurechnen und setzen sich sehr effizient für diese Branche ein, die gerademal 0,7 Prozent des Bruttoinlandproduktes erwirtschaftet. Gemäss Lobbywatch sind es daneben sage und schreibe 133 Organisationen, die sehr erfolgreich für den Bauernstand weibeln. Leider erachtet diese „Grossmacht“ im Parlament ihre rückwärtsgewandte, strukturerhaltende Politik als Hauptaufgabe.
Der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse hat in der Vergangenheit immer wieder erfolglos versucht, auf Missverhältnisse und Absurditäten im Landwirtschaftssektor hinzuweisen. Fast scheint es, als glaube das TV-Publikum den vom Steuerzahler bezahlten Werbeslogan für Schweizer-Eier von den glücklichen Schweizer Hühnern.
Unsere Fördermilliarden sind keine Investitionen in die Zukunft
Als kürzlich ein Bericht der Denkfabrik Vision Landwirtschaft dem Bund akribisch nachwies, dass die Milliarden der öffentlichen Hand, die jährlich in die Landwirtschaft gepumpt werden „beinahe wirkungslos verpuffen“ (NZZ), wollte das Bundesamt für Landwirtschaft keinen Kommentar dazu abgeben … Das wohl aus gutem Grund. Das traurige Fazit lautet nämlich, dass von 21 Zielen deren 19 verfehlt werden. Einerseits erfahren wir, dass sämtliche Umweltziele verpasst werden. Doch auch die wirtschaftlichen und sozialen Ziele bleiben unerreicht. Dagegen – Gipfel der Absurdität – kassieren Bereiche mit erfüllten Zielsetzungen weiterhin erhebliche Direktzahlungen und andere Einkommensstützen.
Von Gesetzes wegen wäre der Bund verpflichtet, die Wirksamkeit seiner wiederkehrenden Zahlungen im Rahmen eines Monitoring laufend zu überprüfen. Etwas, das in der Wirtschaft selbstverständlich ist. Nicht so auf diesem Sektor – warum wohl? Das vernichtende Urteil der Vision Landwirtschaft ist berechtigt.
Die Abneigung gegen Gentechnik ist kontraproduktiv
Das Gentechmoratorium, welches bis Ende 2017 befristet war, wurde verlängert. Der Bundesrat sprach sich am 18. Dezember 2015 für eine Verlängerung des geltenden Moratoriums bis 2021 aus. Damit bleibt die Schweizer Landwirtschaft auch in Zukunft gentechnikfrei. In diesem Zusammenhang werden immer wieder seitenlange Begründungen aufgeführt, weshalb diese Politik die richtige wäre. Ungesagt bleibt jeweils, dass dieses Verbot gleichzeitig den wirksamsten Grenzschutz für unsere bäuerlichen Produktion darstellt.
Dabei wird die Bauernlobby nicht müde, uns einzutrichtern, wie wichtig die Selbstversorgung für das Land sei. Kommt jedoch die Sprache auf Gentechnik, die landwirtschaftliche Erträge markant steigern liesse, herrscht plötzlich Funkstille. Beat Keller von der ETH Zürich beklagt in der NZZ am Sonntag „die gesetzlichen Auflagen, die einen Grossteil der Gentech-Experimente in der Schweiz verhindern. In diesem Bereich ist das Forschungsumfeld in der Schweiz nicht so gut“. Und so verpasst unser Land eines der wichtigsten Forschungsgebiete mit grossen Zukunftschancen für eine ertragsstärkere Landwirtschaft.
Im oben erwähnten Beitrag wird – als Beispiel – auf die Wichtigkeit der Photosynthese hingewiesen. „Dank ihr können Pflanzen die Energie des Sonnenlichts dazu nutzen, um Kohlendioxid in Zucker umzuwandeln. Aus Letzterem bilden sie die für die Landwirtschaft so wichtigen Körner, Knollen und Stengel.“ (NZZ am Sonntag)
Artenvielfalt, Antibiotika, Artensterben
Im Mai dieses Jahres trat der Weltbiodiversitätsrat an die Öffentlichkeit mit dem alarmierenden globalen Bericht, wonach es „mit der biologischen Artenvielfalt auf der ganzen Welt abwärts geht, und das immer schneller“.
In diesem Zusammenhang klagt Markus Fischer, Professor für Pflanzenphysiologie an der Uni Bern: „Die Bestände der insektenfressenden Vögel haben in der Schweiz auf landwirtschaftlich genutztem Gebiet seit 1990 um 60 Prozent abgenommen. Die Folgen gehen uns alle an.“ (Tages-Anzeiger)
Auf die Frage, wo wir anzusetzen haben, weist der Fachmann auf die Wichtigkeit der Landwirtschafspolitik hin. Hier steht insbesondere das Verbot gefährlicher Pestizide im Vordergrund, wie es in zwei hängigen Initiativen verlangt wird. Dagegen wehrt sich schon im Voraus die Landwirtschaftslobby, auch wenn eine Bevölkerungsmehrheit offensichtlich der Idee wohlgesinnt ist.
Auch unsere Bauern verrichten Schwerarbeit. Leider werden sie von ihrem Berufsverband in die falsche Richtung gesteuert: Strukturerhaltung statt zukunftskompatible Neuausrichtung.