Sinai ist schon seit 2004 ein Unruheherd. Doch nach dem Sturz des Mubarak-Regimes haben die dortigen Unruhen deutlich zugenommen. Rückblickend kann man erkennen, wie und warum dies geschehen ist. Die Unruhen waren zuerst ein Teil des palästinensisch-israelischen Streites. Sie begannen damit, dass palästinensische Täter zusammen mit lokalen Gesinnungsgenossen am 7. Oktober 2004 im Taba Hilton Hotel einen schweren Bombenanschlag verübten, bei dem 34 Menschen starben. Unter ihnen waren zwölf Israeli und 18 Ägypter. Auch zwei der Attentäter kamen um. In der Folge ereigneten sich in den Jahren 2005 und 2006 weitere, weniger verlustreiche, aber doch tödliche Anschläge.
Die ägyptische Polizei führte eine Grossaktion durch, um der Täter habhaft zu werden. In ihrem Verlauf verhaftete sie, nach ihren eigenen Angaben, 2‘400 Bewohner des Sinai, viele von ihnen Beduinen und versuchte, sie zu Geständnissen zu erpressen. Drei Personen wurden zum Tode verurteilt. Doch eine grosse Zahl der Verhafteten verblieb bis heute in den Gefängnissen, ohne dass sie je vor Gericht gekommen wären. Ihre Verwandten und Stammesgenossen sind natürlich überzeugt, dass sie alle unschuldige Opfer von Polizeiwillkür geworden sind.
Vergiftete Atmosphäre
Dies alles hat die Atmosphäre zwischen den Bewohnern der Halbinsel – in erster Linie den Beduinen – und den ägyptischen Behörden vergiftet. Die Halbinsel ist in die beiden Provinzen Nord- und Südsinai aufgeteilt, die von den Behörden verwaltet werden. Alle Feinde der ägyptischen Regierung und ihrer Armee fanden seither Sympathie und Hilfe bei den Einheimischen. Dies konnten Leute aus Gaza sein, Extremisten vom fanatischen Flügel jenseits von Hamas. Via Schmuggeltunnels gelangten sie von Gaza aus auf die Halbinsel und von dort aus nach Israel, wo sie – ausserhalb der Kontrolle von Hamas – Anschläge durchführten. Zudem versuchten sie auch, unter den Stämmen ihre Lehre vom "Heiligen Krieg" gegen die gottlosen Behörden zu verbreiten und fanden dabei offensichtlich offene Ohren.
Es gab aber auch mehr kriminelle Gruppen, denen es darum ging, ebenfalls über die Tunnels und über die Wüstengrenzen hinweg Schmuggel, Waffenhandel, Menschenschmuggel und Drogenschmuggel zu betreiben. Diese Kriminellen waren für die Stammesleute ebenfalls "Freunde", weil sie Feinde der ägyptischen Behörden waren und dabei erst noch Geld einbrachten. Schliesslich scheint es auch "Jihadisten" zu geben, die mit Qaeda zusammenspannen und bei der Wüstenbevölkerung da und dort auf Sympathien stossen. Mehrere Quellen besagen, dass auf der Sinai-Halbinsel Ausbildungslager für Jihad-Freiwillige gibt. Sie sollen von jemenitischen Extremisten geleitet werden.
Waffenströme aus Libyen
Die libyschen Waffen aus der Zeit Ghadhafis sind nicht nur in die Sahara gelangt, sondern auch bis in den Sinai. Sie tragen dazu bei, dass die lokale Bevölkerung sich bewaffnen kann und auch mit Waffenschmuggel Geld zu verdienen vermag. Der Menschenschmuggel betrifft Afrikaner, die nach Israel zu gelangen suchen, aber oft festgehalten und gefoltert werden, um Geld von ihren Angehörigen zu erpressen. Die ägyptische Armee und Polizei sind anwesend und dürften Bestechungsversuchen ausgesetzt sein, wenn es um profitreiche Schmuggelaktionen geht.
Auch Hamas in Gaza ist insofern beteiligt, als die Waffen, die in den vergangenen Jahren oft von Iran geliefert oder finanziert wurden, über Sinai und die Tunnels nach Gaza gelangten. Dies dürfte nun aufgehört haben, weil Hamas im syrischen Bürgerkrieg die Seite der Aufständischen gegen das Asad-Regime ergriffen hat. Iran aber hält zu Asad.
Rabiate "Friedensstifter"
In der Mursi-Zeit haben sich auch die innerägyptischen Gegensätze auf Sinai ausgewirkt. Mursi versuchte, eine Politik der Versöhnung mit den Stämmen zu betreiben. Doch die ägyptische Armee war nicht einverstanden.
Sie sah in den Blut- und Sabotage-Akten, denen auch ihre Soldaten ausgesetzt waren, in erster Linie die Hand von Hamas. Das Militär glaubte sogar an eine "Verschwörung". Die Muslimbrüder hätten sich mit Hamas "gegen Ägypten" zusammengerauft. Die Militärs sprachen mit zwei Zungen. Sie traten einerseits als "Friedensstifter" auf, aber gleichzeitig schlugen sie immer wieder blind und repressiv auf die Muslimbrüder ein.
Anschläge auf die Gas-Pipeline
Die Gasleitung, die vom Sinai nach Jordanien und nach Israel geht, wurde ein bevorzugtes Ziel der gemischten Kräfte, die "Rache" an den Ägyptern wie auch an den Israeli zu üben versuchen. Sie wurde in den Jahren seit der ägyptischen Revolution von Beginn 2011 an, mehr als 16 mal gesprengt. Mit Schäden sowohl für Ägypten, Israel als auch Jordanien.
Doch im August 2012 gab es auch einen Anschlag, der 16 ägyptischen Grenzsoldaten das Leben kostete. Die Täter vermochten Panzerfahrzeuge der überfallenen Grenzpolizei in Besitz zu nehmen, überquerten mit ihnen die Grenze nach Israel und wurden zwei Kilometer innerhalb Israels von israelischen Flugzeugen bombardiert. Einige der Täter starben, andere suchten zu fliehen und wurden von Soldaten erschossen. Darüber, woher sie genau stammten, gibt es unterschiedliche Versionen der verschiedenen Geheimdienste in Ägypten, Gaza und Israel.
Aufstände auf der Halbinsel
Die ägyptische Armee hat seither von verschiedenen Offensiven gesprochen, die sie alle erfolgreich durchgeführt haben will. Sie erlangte sogar vorübergehend die Zustimmung der Israeli zu einer Lockerung der strengen Auflagen, die mit dem Friedensvertrag mit Israel von 1979 verbunden sind und Einschränkungen für den Gebrauch schwerer Waffen in den Israel nahe liegenden Teilen der Halbinsel festlegen.
Doch die Unruhen in Sinai haben nicht aufgehört. Sie haben offenbar nach dem Sturz Mursis noch weiter zugenommen. Beobachter sprechen heute von einer "Art von Aufstand", in dem geheimnisvolle Bewaffnete vor allem nachts Polizisten und Armeeangehörige überfallen. Die auf der Halbinsel lebenden Christen seien grossem Druck ausgesetzt, weil sie Zielscheiben von Extremisten würden, ohne dass die Polizei Willens oder in der Lage sei, sie zu schützen. Eine Auswanderungswelle von Christen aus Sinai hat eingesetzt. Die Angriffe sollen nach Aussagen der Behörden bisher gegen 60 Todesopfer gefordert haben. Nicht mitgezählt sind etwa 60 Personen die als Verdächtige von den Sicherheitskräften erschossen wurden.
Die Armee gab über facebook bekannt, sie habe 103 Personen verhaftet und 102 Tunnels zerstört. Von solchen Schmuggeltunnels nach Gaza gibt es mehrere Hundert. Die Militärs erklärten auch, sie hätten 40 unterirdische Benzindepots und vier Häuser, die von Extremisten benützt worden seien, zerstört. Bewohner der Halbinsel sagen, Armee und Polizei verhielten sich meist defensiv und verschanzten sich in ihren Stellungen. Doch müssten sie beinahe täglich Verluste hinnehmen.
Kräfte, jenseits von Hamas
Die Unruhestifter haben vielerlei, ganz verschiedene Motivationen. Sie richten sich einerseits gegen Israel, anderseits gegen die ägyptischen Behörden und Sicherheitskräfte, an denen sie sich rächen möchten. Doch auch Kräfte, die extremer als die Hamas-Leute sind, führen Anschläge durch. Sie benützen die Halbinsel, die von keiner Seite voll kontrolliert wird, um Aktionen gegen Israel durchzuführen. Die Hamas würde sie in Gaza an solchen Anschlägen hindern, weil sie automatisch zu israelischen Gegenschlägen führen würden.
In dieser undurchsichtigen Lage hat die israelische Luftwaffe am 9. August ägyptisches Territorium bombardiert. Offiziell hat sich Israel nicht dazu geäussert, doch der Anschlag hat offensichtlich stattgefunden. Eine Gruppe von "Terroristen", wer immer sie waren, hatte einen Raketenwerfer in der Nähe der israelischen Grenze installiert. Er wurde durch den israelischen Luftangriff zerstört. Am Tage zuvor war der Flughafen von Eilath eine kurze Zeit lang wegen Alarms gesperrt worden. Die ägyptische Armee meldete nur, sie durchkämme die Gegend, um festzustellen, was genau geschehen sei. Die Israeli haben kein Interesse daran, ihren Bombenschlag zu "offizialisieren", weil sie daran interessiert sind, dass der Waffenstillstand mit Ägypten andauert.
Ein Vorspiel für ganz Ägypten?
In Ägypten wird bereits darüber spekuliert, dass sich die Zustände, wie sie auf der Sinai-Halbinsel herrschen, auch auf das Niltal ausbreiten könnten. Auch dort könnte ein bedeutender Teil der Bevölkerung, natürlich vor allem die Muslimbrüder, damit beginnen, die Armee und die Sicherheitskräfte als Feinde zu sehen. Eine Dauerfeindschaft würde dadurch entstehen, dass die bewaffneten Mächte des Staates allzu energisch gegen die Muslimbrüder vorgingen und, ähnlich wie das mit den Beduinenstämmen des Sinai geschah, Rachebedürfnisse hervorriefen.
Die unter solchen Umständen sich verschärfende Wirtschaftsmisere würde unkontrollierbare Dimensionen annehmen. Unterschiedliche Motivationen des Kampfes, verschiedene Ideologien, verschiedene Zielsetzungen und verschiedene Banden könnten ein Chaos anrichten – ein Chaos, in dem die ägyptische Armee mit ihren Panzern und Flugzeugen wenig ausrichten könnte, ausser die Lage noch weiter zu verschärfen.
Noch bleibt unklar, ob die ägyptischen Offiziere die Zustände im Sinai richtig einschätzen. Glauben sie noch immer daran, dass sie als Ordnungsmacht stets in der Lage sind, mit ihren überlegenen Mitteln Ordnung und Sicherheit zu gewähren? Der Sinai sollte ihnen eine Warnung sein.