84 Tage nach der Bundestagswahl im September ist in Berlin jetzt die dritte Grosse Koalition der deutschen Nachkriegsgeschichte aus CDU/CSU und SPD perfekt. Der erneuten Wahl von Angela Merkel zur Bundeskanzlerin steht nichts mehr im Wege. Was wird in den kommenden vier Jahren überwiegen – Kooperation oder Konfrontation?
Mochten es die Wähler am 22. September so geplant haben oder nicht – das Votum fiel so aus wie viele Monate lang auch die Meinungsbefragung: Die Deutschen wollten keine wirklichen Veränderungen in der Politik und damit auch nicht in der Gestaltung des Landes und ihres Lebens. Sie wünschten sich insgeheim die Grosse Koalition; also bekamen sie diese jetzt auch. Wenn Angela Merkel im Bundestag als Bundeskanzlerin wieder gewählt wird, könnte man eigentlich zur Tagesordnung übergehen.
Es hat sich viel verändert
Wirklich? Wer das glaubt, hat nicht gemerkt, was sich seit den Septemberwahlen im Land verändert hat. Diejenigen hingegen, die es aufmerksam verfolgt haben, reiben sich verwundert die Augen. Da präsentiert sich inzwischen keineswegs mehr eine vor Kraft strotzende, nur ganz knapp an der absoluten Stimmenmehrheit vorbei gerutschte CDU/CSU der staunenden Öffentlichkeit. Es sind vielmehr die Sozialdemokraten, die selbstbewusst auftreten – dieselben „Sozis“, die vor zwei Monate eine vernichtende Niederlage hatten hinnehmen müssen.
Dieses Wiedererwachen, dieses Aufstehen der Genossen hat auch einen Namen – Sigmar Gabriel. Gewiss nicht ihm allein, wohl aber im Wesentlichen seinem Geschick und seiner Härte ist es zu verdanken, dass bereits der Koalitionsvertrag inhaltlich ein erkennbares „sozialdemokratisches“ Übergewicht hat. Darüber hinaus: Es war seine Idee, sich sowohl den grundsätzlichen Eintritt in das Regierungsbündnis mit der Union als auch die vereinbarten politischen Ziele von den Parteimitglieder absegnen zu lassen. Der Mann aus dem niedersächsischen Goslar ging damit ein hohes Risiko – und er hat gewonnen. Nach der Zweidrittel-Zustimmung der Genossen ist Gabriel so stark wie noch nie. Kein Wunder, dass er an seiner gleichberechtigten Rolle gegenüber der Kanzlerin auf der Berliner Bühne überhaupt keinen Zweifel aufkommen lässt.
Wer hat die Wahl wirklich gewonnen?
Kein Wunder auch, dass beim Fussvolk der Christdemokraten und –sozialen immer hörbarer die Frage aufkommt, wer denn eigentlich die Wahlen im September gewonnen habe. Ein eigenes Parteiprofil vermögen die Parteigänger als klare, dominierende Striche jedenfalls weder im Koalitionsprogramm, noch in der Verteilung der Kabinettsressorts, noch in deren personellen Ausgestaltung zu erkennen. Dass sich die bisherige Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen auf dem Schleudersitz des Verteidigungsbereichs festschnallen lässt (weil sie um nichts auf der Welt in der Lobbyisten-Schlangengrube mit Aufschrift „Gesundheit“ landen wollte), ist gewiss eine gelinde Überraschung, aber so sensationell nun auch wieder nicht.
Trotzdem gibt diese Personal-Entscheidung natürlich ordentlich Raum für die stets beliebten Polit-Spekulationen. Hat das schwierige Wehrressorts mit seinen fast überall tickenden Bomben die gelernte Ärztin, siebenfache Mutter und Tochter des einstigen niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht vielleicht besonders gereizt, ihre Fähigkeiten möglicherweise sogar als Nachfolgerin Merkels zu erproben? Oder wurde die, ihren Ehrgeiz nie verbergende, Dame von der Regierungschefin bewusst dorthin bugsiert, um sich eine unangenehme Konkurrentin vom Leib zu halten?
Von den übrigen Rochaden und Ämterbesetzungen bei der Union wird sich das staunende Publikum wahrscheinlich kaum aus dem Sessel reissen lassen. Merkels wichtigster Mann, Finanzminister Wolfgang Schäuble, bleibt auf dem Posten, der Rück-Wechsel von Thomas de Mainziere aus dem Verteidigungs- ins Innenministerium ist nicht unlogisch. Genauso wenig, übrigens, wie die Tatsache, dass sich die bayerische CSU mit den Häusern Agrar, Entwicklungshilfe und Verkehr zufrieden gibt. Sicher, keines dieser Ressorts strahlt grossen Glanz aus. Aber sie zählen zu denen, die über das meiste Geld verfügen. Und das ist für das Laptop- und Lederhosen-Bundesland Bayern von nicht zu unterschätzender Bedeutung.
Von Glanz nichts zu sehen
Von Glanz ist auch auf dem SPD-Tableau nichts zu sehen. Der Saarländer Heiko Maas (erst Oskar Lafontaines Ziehsohn und später dessen erbittertster Gegner) als neuer Bundesjustizminister? Eine Überraschung ist auch das, gewiss. Aber auf diesem Platz hat noch kaum jemand grosse politische Bäume ausgerissen. Die bisherige SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles zuständig für Arbeit? Na gut, hier musste halt jemand für Parteiverdienste belohnt werden. Bedeutsam sind auf dieser Seite im Grunde zwei Dinge. Erstens: Die SPD hat sich praktisch all die Bereiche gesichert, die im Verhältnis zu ihrer Anhängerschaft wichtig sind. Und zweitens: Der jetzt mächtigste Mann an der Parteispitze (Gabriel) hat diese Position noch dadurch untermauert, dass er mit Wirtschaft und Energie als Zukunftselemente eine Art Super-Ressort auf sich zu schneidern liess.
Natürlich ist es voreilig, schon über die Zukunft zu spekulieren, bevor die Gegenwart überhaupt richtig begonnen hat. Aber eine Frage stellt sich schon – jetzt, nachdem Sigmar Gabriel mit seiner SPD wie Phönix aus der Wahlschlacht-Asche auferstanden ist: Selbst wenn momentan sicher die guten Absichten zum Gelingen der Grossen Koalition ehrlich gemeint sind, wann wird wohl die Kooperation in Konfrontation übergehen? Denn es liegt doch auf der Hand, dass die Genossen diese so lange entbehrte Ge- und Entschlossenheit werden mit in die nächsten Jahre nehmen wollen. Im Vergleich dazu wirken CDU und CSU geradezu müde, wenn nicht gar ausgelaugt. Der Wahlkampf war inhaltsleer; geworben wurde im Prinzip allein mit der daheim und international populären Angela Merkel. In früheren (Bonner) Jahren lautete eine immer wieder beliebte Journalistenfrage: Was passiert wohl, wenn Kohl/Schröder/ Schmidt morgen an einen Baum fährt?
Verantwortlich für Auf- und Abstieg?
Ja, was würde wohl geschehen, wenn solches Angela Merkel passierte? Die Reihen mit Spitzenpersonal hinter ihr sind ordentlich gelichtet. Und politisch-substantiell sieht es in der Union nach den Richtungswechseln zum Beispiel bei der Wehrpflicht oder der Energiepolitik nicht besser aus. Im Grunde findet sich heute in der Partei keine wichtige Gruppierung mehr wider – weder gestandene Konservative, noch der Wirtschaftsflügel, noch die in der Vergangenheit immer als „soziales Parteigewissen“ aktiven Sozialausschüsse.
Womit also will die Union punkten, wenn in vier Jahren wieder ein Bundestag gewählt werden wird. Etwa mit dem Slogan; „Wählt CDU, um noch Schlimmeres zu verhüten?“ Ist , vor diesem Hintergrund, der Gedanke tatsächlich so abwegig, dass der bisherige Erfolgsgarant, die Bundeskanzlerin Angela Merkel, am Ende ihrer politischen Tage als die Person dastehen könnte, die ihre Partei sowohl zu den höchsten Triumphen als auch in eine bittere Niederlage geführt hat? Die Kanzlerin hat in ihrer Laufbahn nach der deutschen Vereinigung viel von ihrem Vorgänger, Helmut Kohl, gelernt und übernommen. Warum nicht auch das?