„Über meine finanzielle Situation habe ich keine Ahnung“, erklärte Michail Chodorkowski Journalisten in Berlin, wohin er nach seiner Freilassung aus dem russischen Straflager ausgeflogen worden war. Das war sicher keine Untertreibung. Vor und nach seiner Verhaftung im Jahr 2003 hatten Chodorkowskis Anwälte dafür gesorgt, dass ein Teil der Milliarden seines Öl-Imperiums vor dem Zugriff der russischen Strafverfolgung ausserhalb Russlands in Sicherheit gebracht wurde. Das Vermögen sei in verzweigten Offshore-Systemen so gut versteckt worden, wissen Experten, dass es auch für Chodorkowski schwierig sein werde, sich einen Überblick zu schaffen.
Schnäppchenpreis dank manipulierter Auktion
Besser informiert ist Chodorkowski über seine Vermögenswerte in der Schweiz. Die Bundesanwaltschaft hatte 2004 nach einem Rechtshilfegesuch aus Russland ein Vermögen von 6,2 Milliarden Franken von Chodorkowskis Yukos-Konzern auf fünf Schweizer Banken blockiert. Der Antrag auf Rechtshilfe wurde vom Bundesgericht 2007 abgelehnt, die Blockade aufgehoben. Dafür hatte Chodorkowski in Berlin der Schweiz öffentlich gedankt. Wieviel von den Vermögenswerten Chodorkowski heute noch bleiben, ist nicht klar.
Chodorkowski hat sicher keine Mühe, sich daran zu erinnern, wie er zum „reichsten Mann Russlands“ geworden ist. Noch zu Sowjetzeiten gründete der damals erst 24-jährige Chemie-Techniker eine Import-Exportfirma, handelte mit Jeans und Brandy. Durch seine Beziehungen als Funktionär im Jugendverband der Kommunistischen Partei hatte Chodorkowski Zugang zu Kapital. So verfügte er über bereits beträchtliche Finanzen, als die Sowjetunion damit begann, Staatsbetriebe zu privatisieren. An einer Auktion, die von seiner eigenen Bank Menatep geleitet wurde, kaufte Chodorkowski 1995 die Aktienmehrheit am zweitgrössten Erdölkonzern Yukos für den Schnäppchenpreis von 310 Millionen Dollar. Wenige Monate später war die gleiche Firma an der Moskauer Börse 6 Milliarden Dollar wert. Im Jahre 2003, kurz vor Chodorkowskis Verhaftung, hatte Yukos einen Wert von 24 Milliarden.
Hoffnung auf „anständige“ Unternehmer
Wie war es möglich, dass sich Chodorkowski und die übrigen Oligarchen die Filetstücke des sowjetischen Volkseigentums einfach so unter die Nägel reissen konnten? Auf diese Frage antwortete der Architekt der russischen Privatisierung, Anatoli Tschubais. In einem Gespräch mit Sergei Kowaliow, einem ehemaligen Dissidenten und Meschenrechtsaktivisten, erklärte Tschubais in verblüffender Offenheit: „Sie stehlen und stehlen ohne Unterlass. Sie klauen absolut alles, und es ist unmöglich, sie aufzuhalten. Aber sollen sie doch stehlen und sich ihren Besitz nehmen. Sie werden zu Eigentümern und anständigen Verwaltern dieses Besitzes werden.“
Gerade weil Chodorkowski ein „anständiger“ Unternehmer werden wollte, sei er in Konflikt mit dem Kreml geraten. Diese These ist glaubwürdig und hat folgenden Hintergrund: Kurz nach seinem Amtsantritt als Präsident im Jahr 2000 hatte der ehemalige Geheimdienstchef Putin bei einer Schaschlik-Party den Oligarchen zu verstehen gegeben, sie dürften ihre Besitztümer behalten, aber nur unter der Bedingung, dass sie sich nicht mehr politisch betätigten. Im Klartext hiess das: Absolute Loyalität gegenüber Putin, dazu gehörten auch Zahlungen in die „Schwarzen Kassen“ des Kremls.
Das Damoklesschwert
Chodorkowski hielt sich nicht an den „Schaschlik-Pakt“. Er unterstützte politische Gruppierungen, kritisierte Putin öffentlich und weigerte sich, Schmiergelder zu bezahlen. Chodorkowski forderte verbindliche Regeln für alle, für das Kapital und für den Staat. Das konnte Putin nicht zulassen, weil es eine Gefährdung seiner Herrschaft war. Chodorkowskis Verurteilung wirkte auf die übrigen Oligarchen wie ein Damoklesschwert. Denn auch gegen sie hätte jederzeit ein Verfahren mit den gleichen Anschuldigungen (Betrug und Steuerhinterziehung) eingeleitet werden können.
Chodorkowski war ein privilegierter Gefangener. Er durfte über E-mail westlichen Journalisten Interviews geben, Bücher veröffentlichen und mit russischen Schriftstellern in Briefwechsel treten.
Warnung an den Westen
In einem bemerkenswerten Aufsatz warnte er einmal den Westen: „Mein Land exportiert nicht nur Rohstoffe, sondern auch Korruption. Die westlichen Banken haben sich in Geldwaschmaschinen für die russische Führungsklasse verwandelt. Eine seltsame Situation ist entstanden. Die westliche Elite versucht, Russlands politische Klasse zur liberalen Demokratie zu bekehren, während dieselbe Klasse eben diese Prinzipien zur Fassade macht. Diese Entwicklung könnte zu einer realen Gefahr für die westliche Zivilisation werden.“
Chodorkowski macht darauf aufmerksam, wie stark der Westen heute zu einer Stütze des russischen Regimes geworden ist. Konkret auf die Schweiz bezogen machte Herman Gref, der Chef der grössten Bank Russlands, der staatlichen Sberbank, folgende Aussage: „Die grossen russischen Private-Banking-Kunden sind heute alle in der Schweiz“ (NZZ 23.1. 2013). Im Klartext heisst das; Ein Grossteil des russischen Fluchtkapitals (Steuerhinterziehung, Schmiergelder für Bürokraten, illegale Importgeschäfte) ist in der Schweiz. Russlands Oligarchen und Potentaten haben sich in der westlichen Gesellschaft sehr gut eingerichtet. Sie deponieren ihr Geld auf westlichen Konten, sichern sich privat in westlichen Ländern ab und behalten ihre Einkommensquellen in Russland.
Zu den Nutzniessern dieses Modells gehörte auch Chodorkowski, der die Schweiz als Drehscheibe für seine Geschäfte benutzte. Hier halfen ihm seine Schweizer Rohstofffirmen und Banken entscheidend beim Aufbau seines „geheimen finanziellen Königreichs“ („Le Temps“ 2003).
Wo hat Putin seine Milliarden versteckt ?
Der Fall Chodorkowski diente auch als Kulisse, hinter der sich eine neue Generation von viel mächtigeren aber weniger bekannten Oligarchen bildete. Es ist eine viel effizientere Form von Oligarchie, in der politische und wirtschaftliche Macht verschmolzen sind. Zu den neuen „Putin-Garchen“ gehört zum Beispiel Gennadi Timtschenko. Dank enger Kontakte zu Putin ist sein Unternehmen Gunvor zur drittgrössten Ölhandesfirma der Welt aufgestiegen. Gunvor hat seinen Geschäftssitz in Genf und das Steuerdomizil in Sarnen (Kanton Obwalden). Im Geflecht von Gunvor soll Putin sein Vermögen von 40 Milliarden Dollar gebunkert haben, was ihn heute,sofern diese Vermutung zutrifft, zum reichsten Mann Russlands machen würde. Diese Informationen basieren auf Gerüchten, die aber auch von der seriösen Financial Times kolportiert worden sind.
Bei der Freilassung Chodorkowskis präsentierte sich Putin als allmächtiger, aber barmherziger Zar. Der Eindruck täuscht. In Wirklichkeit ist der Kremlchef gezwungen, ein labiles Netzwerk von um die Ressourcen kämpfenden Clans auszubalancieren. Bis wenige Tage vor der Haftentlassung war man in Moskau überzeugt, dass Chodorkowski in einem dritten Prozess erneut verurteilt werde. Dafür stark gemacht hatte sich Igor Setschin, Vize-Ministerpräsident und Chef von Rosneft, der zum grössten staatlichen Ölkonzern geworden ist, nachdem Rosneft Chodorkowskis Yukos geschluckt hatte.
Russland braucht mehr als nur Imageverbesserung
Liberale Technokraten wie der langjährige Finanzminister Alexei Kudrin gaben Gegensteuer. Ihre Argumente sind wirtschaftlich begründet: Im Vergleich mit anderen führenden Schwellenländern (BRIC) ist Russland stark ins Hintertreffen geraten. Es fehlt an Innovation und Diversifikation - weg von der Rohstoffabhängigkeit . Unabhängige Unternehmer und führende Wirtschaftswissenschafter haben enttäuscht das Land verlassen. Russland ist nicht nur kurzfristig wegen Sotschi auf eine Imageverbesserung in der Welt angewiesen, sondern braucht dringend westliche Investitionen zur Erneuerung der veralteten Technologie. Ebenso gefragt wären vom Staat unabhängige Manager. Denn Russlands Wirtschaft wird weiterhin vom Kreml dominiert und „verantwortliche“ Unternehmer (Tschubais) haben einen schweren Stand.
Mit der Freilassung Chodorkowskis haben Setschin und die Hardliner im Kreml zwar den Kürzeren gezogen. Die politische Repression gegen alle, die anders denken, als Putin genehm ist, wird deshalb aber keineswegs verschwinden. Eine Mehrheit der russischen Bevölkerung begrüsst die Begnadigung Chodorkowskis, hat aber nicht vergessen, wie sie bei der wichtigsten Reform nach dem Ende der Sowjetunion, der Privatisierung, schmählich betrogen worden ist. Dessen dürfte sich heute auch Chodorkowski bewusst sein. Der ehemalige Ölmagnat hat betont, dass er nicht in die Politik gehen wird, sondern sich gesellschaftlich engagieren will. Natürlich sind die Grenzen fliessend. Und niemand kennt die Kompromisse, die Chodorkowskis für seine Freilassung eingegangen ist.