Seit gut zehn Jahren ist Ruben Östlund der interessanteste schwedische Filmregisseur. Bereits zweimal hat er in Cannes die Goldene Palme erhalten: 2017 für «The Square», dieses Jahr nun für die Groteske «Triangle of Sadness». Letzteres nicht ganz nachvollziehbar.
Es erscheint nicht allzu abwegig, sich vorzustellen, wie Ruben Östlund zum Beispiel am Küchentisch sitzt, dabei irgendwo das Wort Shitstorm liest und eine Eingebung hat: Das könnte doch mein nächster Film werden. So allmählich finden sich Ideen ein, Momente, Skizzen einer Handlung – zu einem Drehbuch freilich will es nicht reichen, bis zuletzt nicht.
Zweieinhalbstündiger Sketch
Weil aber der 1974 bei Göteborg geborene Regisseur sich mit nur gerade drei Filmen innerhalb von nur gerade einem halben Dutzend Jahren zum wohl wichtigsten, jedenfalls international am meisten wahrgenommenen schwedischen Filmemacher emporkatapultiert hat, scheint die Finanzierung kein allzu grosses Problem zu sein. Zumal Östlund erneut, mit ein, zwei Ausnahmen, auf die Verpflichtung von teuren Kinostars verzichtet. Etwas ins Geld gegangen sein dürfte das Chartern von Onassis’ ehemaliger Luxusjacht «Christina», der heutigen «Christina O».
Was allerdings die diesjährige Jury in Cannes unter dem Vorsitz des französischen Schauspielers Vincent Lindon dazu bewogen haben mag, diesem zweieinhalbstündigen Sketch eine Palme d’or umzuhängen, will sich einem nicht recht erschliessen. Ob sich die Schwedin Noomi Rapace (die perfekte Lisbeth Salander der «Millenium»-Trilogie) und der neue norwegische Regiestar Joachim Trier derart für ihren Skandinavier ins Zeug gelegt haben?
Vom Dreieck zum Dreiakter
Wie Östlund, dessen Frau Modefotografin ist, in einem Interview ausführt, heisst das titelgebende «Dreieck» in der Modebranche offenbar «triangle of sadness», bezeichnet also den Bereich der Schmerz- und Zornesfalten auf der Stirn. Im Film kommt der Begriff gleich zu Beginn vor, als eine Reihe männlicher Models bei einem Casting paradiert, darunter der schöne Carl (Harris Dickinson).
Er darf dann mit der attraktiven Influencerin Yaya (Charlbi Dean Kriek, Ende August 32-jährig an einer Krankheit verstorben) auf eine Luxusjacht, die irgendwelche Schwerreiche für eine Kreuzfahrt im Mittelmeer gechartert haben. Zuvor sind die beiden in einer dichten Restaurantszene zu sehen, in der der junge Mann mit Mühe und viel Skrupeln versucht, die eingebildete Schönheit, mit der ihn weiter nichts verbindet, dazu zu bringen, ihren Anteil an der Rechnung zu übernehmen. Das ist in der Entwicklung und Steigerung vielversprechend gemacht und kulminiert in einer brillanten Szene an der Lifttür (ohnehin ein filmisches Kernelement, das längst eine eigene Abhandlung verdient hätte).
Von dieser Intensität ist dann an Bord, wo es um «dolce far niente» und Kulinarik geht, also um Langeweile und distinguierte Völlerei, kaum mehr etwas da – und gar nichts mehr im abschliessenden, dritten Akt, der auf einer «unbewohnten» Insel spielt. Die Schauspieler sind ausnahmslos gut und gut geführt, aber werden letztlich eben doch hängengelassen von einem Regiekonzept, das sich nicht recht zwischen soziologisch-sozialer Analyse und Satire entscheiden zu können scheint. Zumal die Analyse dürftig bleibt und die Satire zumeist nicht übers Klischee hinausgelangt. Die Reichen bleiben Karikaturen ihrer selbst, selbst bei einer so hervorragenden Schauspielerin wie Sunnyi Melles, hier als Vera, Begleiterin/Frau des fetten «russischen» Geschäftsmanns Dimitry (Zlatko Burić), der mit Gusto und dickem slawischem Akzent erklärt, dass er sein Geld mit «Scheisse», also mit Dünger, gemacht habe.
Die Crew, weitgehend anonym, repräsentiert die «arbeitende Klasse», wie Friedrich Engels das wohl genannt hätte. (Der Bezug ist nicht ganz aus der Luft gegriffen, denn bald schon wird der dauerbetrunkene Kapitän über die Lautsprecheranlage aus dem drei Jahre nach Engels’ Schrift erschienenen «Kommunistischen Manifest» vorlesen.) Bedauernswert ist insbesondere Paula (Vicki Berlin), der Purser, die zusammen mit dem Ersten Offizier versucht, so etwas wie eine Schiffsdisziplin aufrechtzuerhalten. Zum Running Gag werden ihre Kommunikationsversuche mit dem Kapitän, der sich wegen «Unwohlseins» in seiner Kajüte eingeschlossen hat. Wenn Woody Harrelson dann endlich erscheint, wirkt er trotz Schlagseite ganz munter. Wie denn nicht, ist es ihm doch gelungen, das Kapitänsdinner auf den einzigen Tag zu legen, von dem der Purser dringend abgeraten hat.
Sturm mit Champagnerglas
Und die Seestücke in Öl, die die Wände zieren, versprechen nicht zuviel: Der Sturm kommt, und wie. Man bewahrt Fassung, so lang es geht (es geht nicht lang), isst tapfer, was die Gourmetküche hergibt, und wird es seinerseits bald wieder hergeben. Der oralen Aneignung folgt die orale Entledigung, und dies in rasch steigender Kadenz. Obwohl keineswegs «la grande bouffe» zelebriert wurde, setzt die allgemeine Regurgitation bald die Putzkolonnen in Bewegung – die Benchmark allen filmischen Kotzens, die «Bucket»-Szene aus Monty Pythons «The Meaning of Life» (1983), wird freilich nicht annähernd erreicht.
Ob es vielleicht die anschliessenden Momente sind, in denen der Seegang die Toiletten zum Überschwappen bringt und die braune Suppe das Schiff zu fluten beginnt, bis sie geradezu explodiert, die die (gern etwas verklemmte) angelsächsische, aber auch Teile der hiesigen Presse zu Äusserungen des Verzückens hinriss? Ausser Frage steht, dass Sunnyi Melles, schliesslich auch nicht mehr die Jüngste, einen beeindruckenden Akt der Entäusserung hinlegt, wie sie da am Boden vor der WC-Schüssel hin und her schlittert.
Irgendwie
Dann ist der Shitstorm vorüber, sind die antiamerikanischen Tiraden (kommt immer gut an) des Kapitäns vorbei – der irgendwie mit seinem Schiff untergehen wird, auf dem plötzlich eine Handgranate daherkullert. Irgendwie findet ein Kampf statt (das Sicherheitspersonal an Bord mit seinen Maschinenpistolen?), irgendwie sehen wir aus der Ferne eine Explosion, und irgendwie hat sich ein Teil der Leute, Passagiere und Crew, absetzen können und strandet vor einer «Insel». Anderthalb Stunden sind vorbei, es bleibt eine Stunde für den dritten Akt, der nun ins Phantastische, Verzauberte, auch ins, warum nicht, Mörderische abheben könnte.
Doch hier hat kein Shakespeare das Libretto verfasst, führt kein Prospero Regie. (Dass man allerdings auch mit dem «Barden» als Leitstern Schiffbruch erleiden kann, demonstrierte Paul Mazursky 1982 mit «Tempest» und einem Cast, dem immerhin John Cassavetes, Gena Rowland und Susan Sarandon angehörten.)
Östlund also votiert fürs Gesellschaftsexperiment, wenn er, noch an Bord der Jacht, frei nach Brecht eine Art «Puntila-Effekt» einbaut: die von einer besoffenen Vera eingefädelte Umkehrung beziehungsweise Aufweichung der Funktionen, als sie eine verunsicherte Angestellte nötigt, die Arbeit fallenzulassen und zu ihr in den Swimmingpool zu steigen. Worauf die ganze Crew alles stehen und liegen lassen muss, um den Wünschen einer verwöhnten Zicke zu willfahren.
Die Ausserkraftsetzung der Herrschaftsunterschiede, zumindest auf Zeit, ist ein altes und immer wieder neu verführerisches Thema. Im Schweizer Film hat Daniel Schmid es mit «Heute Nacht oder nie» (1972) etwas verhalten angestimmt. Hier nun sind wir – zumal mit der Insel als Hauptschauplatz – natürlich in den Gefilden von «The Admirable Crichton» (1902). Das Stück von J.M. Barrie, berühmt geblieben als Erfinder von Peter Pan, ist auch mehrfach verfilmt worden. Es ist Gesellschaftskomödie im besten, schärfsten Sinn, benötigt als Nährlösung allerdings auch einen Humus wie die britische Klassengesellschaft.
Bei vulgären Neureichen wie diesem Dimitry (der Vera, der in der Brandung dümpelnden schönen, bleichen Wasserleiche, einzig den Schmuck abnimmt) braucht es nicht die geringste «Umkehrung». Garson Kanin hat diese Figur vorgezeichnet, die George Cukor dann in «Born Yesterday» (1950) mit Broderick Crawford als ungehobeltem Schrott-Tycoon umsetzte, wobei dort die hinreissende Judy Holliday die Lacher auf ihrer Seite hatte.
Der Knecht als Herr beziehungsweise …
Crichton, der makellose Butler, ist seinem Dienstherrn bereits auf dem Herrensitz unentbehrliche Stütze. Und keineswegs unvertraut ist ihm, «dem dienenden Bewusstsein», wie Hegel das in seinen Überlegungen zum Verhältnis Herr und Knecht so unnachahmlich zu formulieren wusste, «im Herrn das Für-sich-sein ein Anderes oder nur für es; in der Furcht ist das Für-sich-sein an ihm selbst; in dem Bilden wird das Für-sich-sein als sein eignes für es, und es kömmt zum Bewusstsein, dass es selbst an und für sich ist.» Mit grösster Skepsis sieht Crichton den Einfall des Lords, einen gemeinsamen Nachmittagstee mit dem verängstigten Personal abzuhalten, der denn auch zum Fiasko wird.
Crichton ist eben auch dann «an und für sich», als die Kreuzfahrt, die die Herrschaften irgendwo im Pazifik unternehmen, in Sturm und Schiffbruch vor einer unbewohnten Insel endet. Er ist der einzige mit «survival skills», was die adligen Damen noch schneller als die Herren honorieren.
Essentiell ist, dass die Unterschiede und die Distanz zwischen den Sphären «jederzeit gewährleistet waren», wie er später zu Protokoll geben können wird, nun einfach unter umgekehrten Vorzeichen. Crichton ist es aber auch, der, als Hilfe am Horizont auftaucht, keinen Moment zögert, die Inselherrschaft aufzulösen, die er mehrere Jahre zur höchsten Zufriedenheit aller ausgeübt hatte. Dass das Stück dann nicht einfach zu den alten Zuständen zurückkehrt, versteht sich.
…die Dienstmagd als Chefin
Östlund interpretiert die Umkehrung der Dienstverhältnisse zeitgemäss auch als Neuordnung der Geschlechterhierarchie. Weil Abigail (Dolly De Leon), die Chefin der Putzequipe an Bord, nicht nur einen Oktopus behändigt und somit die Verpflegung sichert, sondern auch die einzige zu sein scheint, die ein Feuer zustande bringt, müssen die Männer sie grummelnd als Inselchefin akzeptieren. Die sich dann auch die sexuellen Privilegien sichert, indem sie sich gegen Essen den knackigen Carl in die für die Frauen requirierte, irgendwie angeschwemmte Rettungsinsel holt.
Leider bleibt das alles aber immer nur wie angetippt. Selbst die dilettantische – und daher quälende – Tötung eines Esels ist dilettantisch inszeniert; eine Vertiefung hin zu Konstellationen und psychologischen Mechanismen wie etwa in «Lord of the Flies» kann so nicht stattfinden. Abigails dramatischer Impuls zur Herrschaftssicherung in der Schlusssequenz fällt in sich zusammen durch den zwar ganz hübschen, aber harmlosen Scherz der unvermittelt in der Felswand sich öffnenden Lifttür (!). Die Botschaft? Vor dem Luxustourismus ist kein Entkommen? (Gedreht wurde auf Euböa.)
Trilogie der angeknacksten Männlichkeit
Ruben Östlund hat sich in seinen Filmen als Meister darin erwiesen, seine Figuren in einen Zustand des «Unwohlseins» zu versetzen, der sich bevorzugt als Feigheit manifestiert. Damit hielt er der Wohlanständigkeit seiner schwedischen Gegenwart einen erbarmungslosen Spiegel vor. Gruppendruck, Herdentrieb, Versagen und Verantwortung des Individuums sind seine grossen Themen.
Erstmals im Zweitling, «De ofrivilliga» (etwa: Die Gezwungenen, 2008), am verstörendsten in «Play» (2011), seinem mit dem Filmpreis des Nordischen Rats ausgezeichneten drastischsten, überragenden Werk. Inspiriert durch Vorfälle, die sich zwischen 2006 und 2008 in Göteborg ereigneten, als schwarze Jugendbanden der zweiten Einwanderergeneration jüngere schwedische Jugendliche erpressten, aber durchaus auch Tramwagen und ganze Bahnzüge terrorisierten, zeigte er einem auf unerbittlich eingeforderte politische Korrektheit geeichten und in Multikultiseligkeit befangenen Land dessen hervorstechendste Bürgertugenden: Wegsehen und Wegducken.
War hier die schwedische Gesellschaft zur Gänze angesprochen, standen in der Folge eher lädierte Männerfiguren im Mittelpunkt. So der vor drohender Lawinengefahr versagende Familienvater im vielfach ausgezeichneten «Turist» (2014). So in «Rutan» (2017) der Chefkurator, dessen unbedachtes Verhalten ihn in ernste Schwierigkeiten bringt (daneben ist «The Square» Satire auf den Kunstbetrieb und sein Publikum sowie explizit antimonarchistisches Pamphlet, das einen Königsmord begeht, wenngleich bloss an einem Reiterstandbild…).
Und so eben in «Triangle of Sadness», Östlunds erstem in Englisch gedrehten Film: der Kapitän, der keiner ist, der junge Schönling, der im Restaurant klein beigibt, sich dann ermannt und dennoch als Sexspielzeug einer resoluten Aufsteigerin endet, die grossspurigen Angeber, die Frauen einzig durch Geld zu halten vermögen. Und so lassen sich die drei Titel denn zu etwas wie einer Trilogie angeknackster Männlichkeit bündeln.
Vom Geviert des «Square» zum Dreieck des «Triangle» – man wäre nicht allzu überrascht, wenn Ruben Östlunds nächster Film sich den «Circle», den Kreis, vornähme. Die vollendete geometrische Form.
Bilder: XenixFilm