Beim Urteil über umstrittene militärisch-politische Führungspersönlichkeiten wird gern Schillers Diktum über Wallenstein zitiert: „Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte." Treffender könnte man die Kakophonie der Kommentare zum Tod des polarisierenden israelischen Truppen-Condottiere, Siedlungs-Antreibers, Provokateurs, Regierungschefs und Gazastreifen-Räumers kaum auf eine Formel bringen. Obwohl Sharon schon vor acht Jahren nach einem schweren Hirnschlag von der politischen Bühne verschwunden war und seither ohne Bewusstsein in einer Klinik vegetierte, vermag sein Ableben immer noch Kontroversen zu schüren.
Algerien und der Gazastreifen – eine Parallele?
Überrascht hat den Schreiben dieser Zeilen der Nachruf des erfahrenen und in der Regel sehr besonnenen israelischen Publizisten und Historikers Shlomo Avineri in der linksliberalen Zeitung „Haaretz“. Der Titel seines Nekrologs: „Ariel Sharon: The leader who was almost de Gaulle“. Der Haudegen, Intrigant und Bulldozer Sharon und der weit über Europa hinaus als überlegener Staatsmann anerkannte de Gaulle – wie passt das zusammen?
Avineri begründet seinen Vergleich mit Sharons in der Tat völlig überraschendem Entscheid als Regierungschef, im Sommer 2005 aus dem seit 1967 besetzten Gazastreifen sämtliche israelischen Siedler und Soldaten abzuziehen. Dieser Beschluss wurde mit einem gewaltigen Armee-Aufgebot gegen den erbitterten Widerstand der betroffenen Siedler und der nationalistischen Rechten durchgesetzt. Im Zuge dieses Machtkampfes kehrte Sharon der Siedler-nahen Likud-Partei kurzerhand den Rücken und gründete seine neue Kadima-Partei.
Avineri vergleicht diese Kehrtwende mit de Gaulles innenpolitisch nicht weniger kontroversem Entschluss, Algerien als französischen Kolonialbesitz aufzugeben und in die Unabhängigkeit zu entlassen. Es gehöre offenbar zur harten politischen Dialektik, dass häufig nur Politiker der Rechten gewisse historisch notwendige Anpassungen vollziehen könnten, die die Linke schon vorher hatte tun wollen, aus innenpolitischen Rücksichten aber nicht durchführen konnte, meint Avineri. Man könnte als weiteres Beispiel dieser Mechanik auch Nixons spektakuläre Reise zu Mao Tse-tung nach Peking zitieren.
Ominöse Aussagen von Dov Weisglass
Aber hat der Hardliner Sharon, der in den Jahren zuvor zu den skrupellosesten Propagandisten und Förderern der Siedlungsexpansion gehört hatte, den Rückzug aus dem Gazastreifen tatsächlich aus politischer Einsicht in die langfristig unhaltbaren und moralisch zersetzenden Konsequenzen der israelischen Besetzungspolitik befohlen? Der Kommentator Avineri ist davon überzeugt. Er argumentiert, der Rückzug aus dem Gaza-Streifen sei nur das „erste Kapitel“ eines Prozesses gewesen, der später auch auf das besetzte Westjordanland ausgedehnt worden wäre. Nur der wenige Monate nach dem Gaza-Rückzug erfolgte physische Kollaps hat gemäss dieser These Sharons Entschluss, auch die Besetzung der cisjordanischen Territorien zu beenden, verhindert.
Indessen, für diese im Blick auf das historische Urteil wohlwollend gemeinte Behauptung gibt es keinerlei greifbaren Beweise. Schwarz auf weiss gibt es hingegen die zynischen Bemerkungen, die Sharons engster Berater Dov Weisglass kurz nach der Bekanntgabe der Räumungspläne für den Gazastreifen gegenüber der israelischen Zeitung „Haaretz“ abgegeben hat und die nie dementiert worden sind. Die eigentliche Bedeutung des Rückzugs aus dem Gazastreifen, sagte Weisglass in einem Interview, liege darin, dass damit auch der Friedensprozess mit den Palästinensern eingefroren werde, respektive - wie der Sharon-Berater sich ausdrückte - „in Formaldehyd“ eingelegt werde. Konkret gemeint war mit dem Friedensprozess die damals von Präsident Bush junior lancierte „Road Map“, der Sharon nur höchst widerwillig (und nach der Deponierung von nicht weniger als 14 schriftlich fixierten Vorbehalten) anerkannt hatte.
Sharon und Arafat – zwei Mythologien
Für die Annahme, dass Sharon überhaupt nicht an weiteren Friedensverhandlungen mit der palästinensischen Seite und damit an einer umfassenden Regelung des bi-nationalen Konflikts interessiert war, spricht auch die Tatsache, dass er die spektakuläre und umstrittene Evakuierung der Siedler aus dem Gazastreifen ohne parallel laufende Verhandlungen mit den Palästinensern durchboxte. Dieser Rückzug war innenpolitisch zwar tatsächlich kühn und riskant, er machte Sharon in kürzester Zeit vom früheren Idol der Siedlerbewegung zum verabscheuten „Verräter“ der Grossisrael-Ideologen.
Doch der Verdacht, dass es Sharon mit der Räumung des für israelische Nationalisten weniger bedeutungsträchtigen Gazastreifens vor allem darum ging, politischen und militärischen Ballast abzuwerfen, um das Westjordanland umso entschlossener im Griff halten zu können, ist mindestens so berechtigt wie die gewagte Spekulation , Sharon hätte sich – wäre ihm vom Schicksal mehr Zeit zugestanden worden – zu einer Art israelischem de Gaulle gemausert. So bleibt sein Charakterbild in der Geschichte und in den verschiedenen nationalen Mythologien vorläufig ähnlich widersprüchlich wie dasjenige seines palästinensischen Feindbildes Arafat nach der zweiten Intifada.
Netanyahu - kein Vergleich
Dass die islamistischen Hamas-Extremisten bald nach dem Abzug der Israeli mit blutiger Gewalt die Macht im Gazastreifen übernahmen und ihnen dann nichts Klügeres einfiel, als Israel mit Raketenangriffen zu provozieren, steht auf einem andern Blatt. Vielleicht hätte sich diese unsinnige und tragische Entwicklung verhindern lassen, wäre es im Zusammenhang mit dem Abzug Israels zu konstruktiven Gesprächen über die Modalitäten des Übergangs gekommen.
So viel immerhin muss man Sharon bei allen seinen vorhergehenden Rücksichtslosigkeiten und Provokationen zugestehen: er hat mit dem Rückzug aus dem Gazastreifen als Politiker mehr Mut und Tatkraft vordemonstriert, als der jetzige israelische Regierungschef Netanyahu je hat aufbringen können. Bei Netanyahu ist vorläufig noch niemand auf die Idee gekommen, man könnte sein Handeln mit demjenigen eines de Gaulle vergleichen.