Die Polen und Polinnen haben ein distanziertes Verhältnis zu ihrem Staat und seinen Institutionen. Von der Politik und vor allem den Politikern hält der Grossteil wenig. Nach soziologischen Studien sind rund 30 Prozent wirklich interessiert, knapp 20 Prozent kennen sich aus. Die durchschnittliche Beteiligung an den Parlamentswahlen seit 1989 ist die niedrigste aller EU-Länder. Bei den stark personalisierten Präsidentschaftswahlen ist das Interesse meist etwas grösser.
Bei den Wahlen am Sonntag haben knapp 50 Prozent teilgenommen, 5 Prozent weniger als bei den letzten Wahlen. Die Wahl war wenig spannend. Der amtierende Präsident, Bronislaw Komorowski, von der liberal-konservativen Partei PO (Bürgerverständigung) galt als gesetzt, ist er doch mit Abstand der populärste polnische Politiker. In den Umfragen hat er ständig geführt, wenn auch mit sinkender Tendenz. Dass er nun im Exit Poll – Fehlerbereich um die 2 Prozent - mit nur 32,4 Prozent den zweiten Platz belegt, ist eine echte Sensation.
Stark polarisiert
Denn seine neun Konkurrenten und eine Konkurrentin sind alles andere als politische Schwergewichte. Komorowksi hat vor fünf Jahren die Nachfolge von Lech Kaczynski von der nationalkonservativ-katholischen PiS (Recht und Gerechtigkeit) angetreten. Dieser war beim Absturz des Regierungsflugzeugs in Smolensk ums Leben gekommen.
Die Politszene ist in Polen seit der Wende stark polarisiert. Seit zehn Jahren bekämpfen sich PiS und PO, die mit Abstand grössten Parteien, mit äusserst harten Bandagen. Nach einer kurzen Machtdominanz der PiS konnte die PO die Regierungsmacht erringen und dominiert schon seit fast acht Jahren die polnische Politik.
Kandidat aus der zweiten Reihe
Es war denn auch selbstverständlich, dass die beiden verfeindeten Parteilager die jetzigen Präsidentschaftswahlen bestimmten. Allerdings trat die PiS dieses Mal nicht mit ihrem Parteichef, Jaroslaw Kaczynski, dem Zwillingsbruder von Lech an, sondern mit einem Kandidaten aus der zweiten Reihe.
Andrzej Duda hatte es nie über einen Vizeministerposten hinausgebracht und ist heute Europaabgeordneter. Als eher gemässigt auftretender, relativ junger und einigermassen gut aussehender Politiker sollte er die Anhängerschaft Richtung Mitte erweitern. Er absolvierte einen langen und intensiven Wahlkampf, indem er auch populäre sozialpolitische Anliegen vertrat. Mit seinem Wahlergebnis von 34,8 Prozent lag er etwas über dem Wählerpotential seiner Partei.
Staatsmännisch abgeklärt
Komorowski begann seine Kampagne relativ spät. Er gab sich staatsmännisch abgeklärt und nutzte vor allem seinen Amtsbonus mit der entsprechenden Medienpräsenz. So konnte er sich noch am letzten Freitag in Danzig in Szene setzen, als mit Beteiligung osteuropäischer Staatschefs das Ende des 2. Weltkrieges gefeiert wurde. Erst in den letzten Wochen führte er in wichtigen Städten auch eigene Wahlkampfveranstaltungen durch. Dabei wurde er von militanten Anhängern rechtsradikaler Kandidaten gestört, was ihn aber kaum in Rage brachte, sondern zu sarkastischen Kommentaren animierte.
Seine TV- bzw. Internetspots kamen etwas bieder daher. In der letzten Woche allerdings zielte eine Attacke direkt auf den PiS- Kandidaten. Sie warf ihm mit Videoausschnitten vor, gegen die populäre Gesetzesvorlage der In Vitro-Befruchtung zu agitieren. Damit wurde Duda sozusagen als Befehlsempfänger der Kirche dargestellt, der die Wünsche des Volkes missachte. Die Polinnen sind zwar mehr oder weniger praktizierende Katholiken, aber den Einfluss der Kirche auf die Politik lehnen sie in allen Umfragen mit grossen Mehrheiten ab. Die Retourkutsche des PiS-Lagers, mit Komorowski stehe eine Privatisierung der sakrosankten polnischen Staatswälder bevor, war wohl kaum sehr zielführend. Zu dünn waren die angeführten Argumente.
Arroganz
Vor allem in einem zentralen Thema des Wahlkampfes, der Sicherheitsfrage, konnte Komorowski punkten. Er betonte seine Erfahrung in der Aussenpolitik und der Verteidigung, die seinen Rivalen fehlt. Zeitweise grenzte die ausgespielte Überlegenheit allerdings an Arroganz.
Die grosse TV-Debatte ignorierte er als einziger mit dem Argument, das bringe nichts, wenn so viele Kandidaten gegen einander anträten. Dies dürfte ihm einige Stimmen gekostet haben. Verantwortlich für das schlechte Abschneiden von Komorowkis ist aber vor allem die unerwartet hohe Zahl von einem Drittel der Stimmen, die nicht auf die beiden Hauptrivalen entfiel.
Rocksänger etc.
Dass neben den Hauptkonkurrenten noch viele andere Kandidaten antraten, ist in Polen die Regel. In den letzten zwanzig Jahren stellten sich immer mindestens 10 Personen zur Wahl. Denn die Präsidentschaftswahlen sind eine günstige Gelegenheit für politische Werbung und eine dankbare Bühne für Selbstdarsteller. Deshalb haben sich auch dieses Mal viele Personen beworben. Die meisten haben aber die Eintrittshürde - 100'000 Unterschriften von Stimmberechtigten - nicht geschafft.
Interessant ist die politische Ausrichtung der (Neben-)Bewerber. Sage und schreibe sechs der neun vertraten radikale rechte Positionen, allerdings mit unterschiedlichen Akzentsetzungen. Besonders auffällig war die Kampagne eines politischen Newcomers und Aussenseiters, des 52-jährigen Rocksängers und Schauspielers Pawel Kukiz. Zuerst hatte sich Kukiz in einem alternativen Umfeld bewegt - berühmt wurde beispielsweise ein kirchenkritischer Song zu den Präsidentschaftswahlen von 1995. In den letzten Jahren wendete er sich immer mehr rechtsradikalen Ideen zu, wurde seine Kritik am gesamten politischen Establishment, der „partiokratia“, immer schärfer. Sein politisches Programm war allerdings etwas dürftig, eines seiner Hauptanliegen war beispielsweise die Einführung eines Majorzsystems, ähnlich wie in Grossbritannien.
„Ernste Warnung an das Regierungslager“
Kukiz machte eine einfache Kampagne mit wenigen, aber sehr engagierten Helfern. Mit seinem medienwirksamen Auftreten – er konnte auch zuhören, eine eher seltene Eigenschaft unter polnischen Politikern - gewann er immer mehr Protestwähler für sich, vor allem unter den vom Establishment tief enttäuschten 20 bis 35-Jährigen.
In der erwähnten TV Debatte setzte er publikumswirksam für den abwesenden Präsidenten einen kleinen Klappstuhl hin. Sein herausragendes Wahlresultat von 20,2 Prozent stellte die eigentliche Überraschung dar, lag er doch vor gut zwei Wochen noch um die 7 Prozent. Es zeigt drastisch die anfangs erwähnte Unzufriedenheit mit den Politikern. Selbst Komorowski meinte, das Wahlergebnis stelle eine „ernste Warnung an das Regierunslager“ dar.
Vor der grossen PR-Schlacht
Von den übrigen Kandidaten erzielte niemand ein gutes Resultat. Besonders schlecht mit nur 2,4 Prozent schnitt auch die einzige Frau ab, die politisch unerfahrene parteilose Kandidatin der ehemals starken sozialdemokratischen SLD (der Vereinigung der polnischen Linken). Ihre Kampagne war zu wenig eigenständig und professionell, selbst im eigenen Lager umstritten.
Der Wahlkampf der nächsten zwei Wochen für die Schlussrunde wird zu einer grossen PR -Schlacht werden. Nun dürfte der Wahlkampf doch noch spannend werden. Dass Bronislaw Komorowksi dieses Duell gegen Andrzej Duda gewinnt, wie alle Umfragen vor dem Sonntag vorausgesagt haben, ist alles andere als sicher.
Zum Autor:
Jakob Juchler, Soziologe , befasst sich seit über 40 Jahren mit Polen und Osteuropa.