Als Aushängeschild für ein Festival, das naturgemäss darauf bedacht ist, Aufmerksamkeit zu wecken – mit der Causa Polanski gelang dies vor Jahresfrist auf durchschlagende, allerdings höchst unwillkommene Weise –, eignet sich ein Eröffnungsvehikel wie «Sennentuntschi» natürlich vorzüglich. Entsprechend enthält die Gästeliste, die das Festival im Vorfeld kommuniziert hat, einige Namen mehr als diejenigen der Usual Suspects an dergleichen Events. So haben aus Zürich und Luzern die Intendanten Alexander Pereira und Michael Haefliger ihr Interesse bekundet, aus der Wirtschaft Namen wie Urs Rohner, Thomas Borer oder Christoph Franz, die man nicht zwingend mit Film assoziiert, aus der Politik nebst Bundesrat Moritz Leuenberger als einem der Eröffnungsredner etwa auch Christoph Blocher.
Knapp gerettet
Naheliegend die Anwesenheit von Jean-Frédéric Jauslin und Nicolas Bideau vom Bundesamt für Kultur – haben sie doch entscheidend an der Rettung des vom völligen Absturz bedrohten Projekts mitgewirkt. Dass der Film überhaupt fertiggestellt werden konnte, nachdem sich die katastrophalen finanziellen Verhältnisse der Produktion nicht mehr länger unter den Tisch wischen liessen, war alles andere als selbstverständlich. Nur durch sehr viel Goodwill von seiten der Hauptgeldgeber – öffentliche Hand, Filmstiftungen, Fernsehanstalten, Private – konnte der Konkurs abgewendet und die Postproduktion des fertig abgedrehten Films an die Hand genommen werden.
Ein «Lokomotiven»-Film?
Die grosse Frage ist nun, ob sich der Film zu einer der vom scheidenden Chef der Sektion Film im Bundesamt für Kultur, Nicolas Bideau, so inständig beschworenen «Lokomotiven» entwickeln wird: zu einem Vehikel, dessen Kinoerfolg gleichsam den Rest der helvetischen Filmproduktion hinter sich herzuziehen vermag. Fernsehverkäufe sollten kein allzu grosses Problem sein, doch ein Kinovertrieb über die deutschsprachigen (Koproduktions-)Länder hinaus dürfte mit einigen Fragezeichen behaftet sein. Michael Steiner und seine engste Crew haben mit ihren doch spezifisch schweizerischen Stoffen (in «Mein Name ist Eugen» und «Grounding») bisher einzig am binnenländischen Box-office reüssiert. Nun sind Prognosen immer heikel, und wenn eine Mund-zu-Mund-Propaganda grösseren Stils nicht unbedingt vorstellbar erscheint, könnte es doch sein, dass zumindest das Schweizer Publikum aus purer Neugier die Säle füllt.
Diese Neugier mag der bewegten Produktionsgeschichte oder dem Stoff – beziehungsweise dem Cast mit einigen bekannten Namen – gelten. Spätestens seit Hansjörg Schneiders Theaterstück aus dem Jahr 1972 in einer Inszenierung des Fernsehens DRS 1981 einen Skandal provozierte – der so im geschlossenen Raum des Theaters nie stattgefunden hätte –, ist der Sennentuntschi-Stoff (wieder) allgemein bekannt. Von diesem Skandalpotenzial profitiert seither jede Umsetzung, wie zurückhaltend sie auch immer angelegt sein mag. Der Umstand, dass das Publikum einigermassen weiss, was es zu erwarten hat, dürfte hier eher ein Vorteil sein.
Entscheidend ist, wie trotzdem Spannung geschaffen beziehungsweise, wie der Horror generiert wird. Die Geschichte entfaltet, zumal in der Anlage durch Steiner und seine Drehbuchautoren Michael Sauter und Stephanie Japp, zwar ständig neue Mystery-Elemente, die das Auftauchen der fremden jungen Frau und das Verschwinden der drei Sennen zu motivieren haben; entscheidend wären aber wohl doch die Mechanismen der Horrorstory.
Wo bleibt der Horror?
Verschiedenes will an diesem Film nicht einleuchten. Dass sich die Haupthandlung innerhalb eines Rahmens entwickelt, entspricht guter, alter Genre-Tradition. Weshalb sie aber 1975 spielen soll und zudem am Schluss durch mehrfache Sicherungen im Heute als endgültig abgeschlossen erklärt wird, ist doppelt nicht nachvollziehbar. Zum einen erfordert die Verlegung in die siebziger Jahre einigen Aufwand an zeittypischer Rekonstruktion. Das kostet und gewinnt hier doch nichts Realistisches. Wenn aber Künstlichkeit beabsichtigt war, so wäre sie billiger zu haben gewesen. Dramaturgisch verkompliziert und beschwert wird das Ganze dadurch, dass das Geschehen ständig abwechselnd im Tal und auf der Alp spielt, wobei die Alp als Schauplatz des eigentlichen Geschehens immer stärker ins Hintertreffen gerät gegenüber dem Tal, das wie wild laufend neue Erklärungen nachzuliefern hat.
Viel entscheidender ist jedoch ein anderer Aspekt. Grundlegend für jeden Horror, für ein Entsetzen also, dem wir uns lustvoll-unbehaglich überlassen müssen, ist das Wissen, dass er hier und jetzt zugegen ist. Dass er «right out there», in deinem Rücken, lauert. Wie das zu bewerkstelligen ist, hat auf überzeugendste Weise zuletzt wohl «The Blair Witch Project» (1999) von Daniel Myrick und Eduardo Sánchez demonstriert, die fehlenden Produktionsmittel zum bewusst billigen und damit umso authentischeren optischen Auftritt nutzend. Hier jedoch wird der Horror laufend durch retardierende Einschübe und Parallelmontagen neutralisiert, wenn er nicht auf unbedarfte Weise so postuliert wird, dass ihm jegliche Wahrscheinlichkeit abgeht. Etwa wenn die allmählich von Panik ergriffen sein sollenden Sennen auf die abgezogenen und ein bisschen in der Manier von «The Silence of the Lambs» dressierten toten Geissen stossen. Auch wenn der brave Dorfpolizist von Senn, Zusenn und Bub nur noch die grob präparierten, mit Stroh ausgestopften Kadaver vorfindet, besitzt die Szenerie nichts Grauenerregendes.
Wenig geforderte Schauspieler
Fruchtlos weil längst schon hypertrophierend sind die Anstrengungen der Musik Adrian Frutigers, die als flächendeckendes und raumfüllendes Sound Design das Unheil in Permanenz zu suggerieren hat. Ähnlich auch die nicht enden wollenden Nebelschwaden, die in rasender Schnelle jeweils aus dem Tal hochzusteigen haben, ohne doch über den unmittelbaren visuellen Effekt hinaus irgendeine dramaturgische Funktion zugewiesen zu erhalten. Das ist schade, denn gerade die Szenerie des Schächentals gelangt in den Bildern Pascal Walders wiederholt zu starker Wirkung. Aber kaum einmal will sich die graue Trostlosigkeit eines Regentags in den Bergen oder die Intensität einer sonnigen Landschaft der Wahrnehmung als ein Zustand immanenter Ereignishaftigkeit einbrennen. Gerne hätte man mehr gesehen von der Art des Bilds, in dem der Bub als Scherenschnittfigur auf exponiertem Grat die toten Ziegen in den Abgrund fallen lässt.
Die Darsteller sind nicht wirklich gefordert, da die Regie gar nicht erst zum Versuch ansetzt, die Charaktere psychologisch zu evaluieren und in die Extreme zu treiben. Andrea Zogg als vollsaftiger Senn Erwin bewegt sich gelegentlich an der Grenze zum Chargieren, kann aber auch nichts dafür, wenn ihn die Regie ständig in sinnlosen Irrläufen umherhetzt, Carlos Leal als frischkäseausleerender unbedarfter Städter auf der Distelalp vermag zwar medizinisches Wissen nutzbringend anzuwenden, muss aber erkennen, dass, wo Penicillin fehlt, Absinth auch nicht mehr helfen kann. Ausgezeichnet wie immer ist Joel Basman, wenn er als Albert, der Bub, den ein düsteres Geschick mit dem Sennen verbindet, eine seiner spastischen Performances gibt. Solid aber eindimensional ist Nicholas Ofczareks Reusch, der Dorfpolizist, der als einziger das arme hübsche Ding retten will, das da, wie Ueli Jäggis schablonenhaft angelegter, lügnerischer Priester Salis behauptet, direkt dem Teufel entsprungen ist. Die Französin Roxane Mesquida, als Titelheldin in einer stummen Rolle, muss sich dabei nicht über allzu viele schauspielerische Qualitäten ausweisen, wenn sie im weissen Röckchen – das, auf einer andern Realitätsebene (?), auch plötzlich zum blauen Kittel werden kann – und barfuss durch unfreundliches Gelände zu unfreundlichen Menschen stolpert.