Israel ist stolz darauf, „einzige Demokratie im Nahen Osten“ zu sein – mit allen Bürgerrechten, die dazu gehören. Seit den Tagen des britischen Mandats in Palästina – also schon Jahre vor der Gründung Israels – gibt es in diesem Staat aber auch diverse noch von den Briten eingeführte restriktive Sicherheitsvorschriften, die man einfach übernommen hat. Darunter auch eine Militärzensur, die die Berichterstattung der israelischen Medien und ausländischer Korrespondenten in Israel kontrolliert und immer wieder auch reglementiert. Meistens finden die Eingriffe in die Pressefreiheit in Unkenntnis der Öffentlichkeit statt, denn wenn man über etwas nicht berichten darf, dann auch nicht darüber, dass einem dies untersagt wurde.
Eine Israelin gerät nach Syrien
Umso mehr Aufsehen löste dieser Tage eine Eilmeldung aus, die israelische Regierung sei „aus humanitären Gründen“ zu einer Sondersitzung zusammengetreten, die Medien dürften darüber aber nicht berichten. Tropfenweise sickerte dann aber allmählich die Story durch – eine ebenso abenteuerliche, wie streckenweise absurde Geschichte. Sie beleuchtete aber doch eine Reihe von Fakten, die nur allzu oft im Dunkeln bleiben und ignoriert oder verdrängt werden.
Es ging um die Frage eines Gefangenaustauschs zwischen Israel und Syrien, über den man am Tage der besagten Regierungssitzung schon seit Tagen verhandelt hatte. Diese Verhandlungen fanden überwiegend in Moskau statt, weil Russland als militärischer Verbündeter Syriens und auch wohlgesonnener Partner Israels bereits öfter schon als Vermittler zwischen den beiden verfeindeten Nachbarstaaten Syrien und Israel in Aktion getreten war.
Bereits Tage vor der Sondersitzung in Jerusalem war eine Israelin – offenbar Bewohnerin einer religiösen Siedlung im israelisch kontrollierten (besetzten) Westjordanland – auf den syrischen Golan-Höhen erschienen und hatte am einzigen Übergang nach Syrien die Waffenstillstandslinie überquert. Syrisches Sicherheitspersonal nahm sie fest und brachte sie in die kaum 50 km entfernte Hauptstadt Damaskus. Die Behörden dort stellten unschwer fest, dass es sich nicht um einen Fall von Spionage oder feindlicher Aktion handelte und man nahm via Russland Verhandlungen auf, um auf die eine oder andere Weise davon zu profitieren.
Ein Austausch-Kandidat will nicht nach Syrien
Die Russen liessen Israel wissen, dass Syrien bereit sei, die Frau gegen syrische Gefangene auszutauschen, die sich in israelischer Haft befänden. Die israelische Regierung war schnell einverstanden und man hatte auch rasch zwei Männer gefunden, die man nach Syrien schicken wollte. Hier allerdings machte man einen peinlichen Fehler: Die beiden wohnten auf dem Golan in dem arabischen Dorf Ghadjar, das seit dem Sechstagekrieg 1967 zwischen Libanon und israelisch besetztem Gebiet geteilt ist. Vor dem Krieg war es von Syrien kontrolliert, seit der Annexion der Golan-Höhen allerdings betrachtet Israel die Gegend als eigenes Staatsgebiet und ihre Einwohner als eigene Staatsbürger.
Also war man drauf und dran, zwei „israelische Bürger“ für die in Syrien verhaftete israelische Grenzgängerin auszutauschen. Mehr aber noch: Beide waren vor einigen Jahren zu Haftstrafen verteilt worden, weil sie angeblich Sprengstoff von der libanesischen „Hisbollah“ nach Israel geschmuggelt hatten. Einer der beiden bekam 14 Jahre Gefängnis, der zweite ist schon wieder frei. Als man aber den Häftling abends an den Grenzübergang bringen wollte, da weigerte dieser sich: Er wolle unter keinen Umständen nach Syrien geschickt werden. Er tat dies offenbar so überzeugend, dass man ihn wieder zurück ins Gefängnis brachte.
Erst später stellte sich heraus, dass den Mann nichts mit Syrien verbindet: Sein Vater lebt im Libanon, der Häftling galt für die israelischen Behörden wohl nur deswegen als Syrer, weil er aus Ghadjar stammt, das Israel 1967 eroberte, weil es den Ort fälschlicherweise für syrisches Gebiet hielt. Dass er durch die Annexion zum Bürger Israels geworden war, „übersah“ man geflissentlich.
Ein Wahlkampf-Argument für Netanyahu?
Inzwischen waren israelische Beauftragte nach Moskau geflogen, wohin auch die Israelin aus Syrien geschickt worden war, die das ganze Chaos ausgelöst hatte. Und in Israel war man fündig geworden: Zwei syrische Hirten, die sich vor Kurzem über die Waffenstillstandslinie von syrischem in Israel-kontrolliertes Gebiet verirrt hatten, stellten sich als geeignetere Austausch-Kandidaten heraus. Man meldete es Moskau, die Russen vermittelten das Angebot weiter nach Damaskus und die syrische Zustimmung zurück nach Jerusalem.
Ein Problem war gelöst, zu dem es in dieser Art nur im Nahen Osten kommen dürfte. Kann sein, dass es noch weitere Details gibt, die jetzt langsam in die Öffentlichkeit gelangen. Sicher dürfte jetzt schon sein, dass Ministerpräsident Netanjahu versuchen wird, seine „humanitäre Aktion“ in diesem Fall für den Wahlkampf vor den Wahlen vom 23. März auszuschlachten. Unklar ist, ob ihm dabei helfen wird, was inzwischen noch bekannt wurde: Israel soll sich bereit erklärt haben, Syrien für die Freilassung und Rücksendung der Israelin „Hundertausende“ Dosen Corona-Impfstoff russischer Fabrikation zukommen zu lassen.