Die chinesische Regierung hat in zwölf Punkten ihre Position zum Ukraine-Krieg veröffentlicht. Der Westen sollte darauf konkrete Antworten formulieren. Und vor allem Klärungen zu dem von Peking erwähnten Prinzip der «Respektierung der territorialen Souveränität aller Staaten» einfordern. Der ukrainische Präsident Selenskyj hat auf die chinesische Erklärung geschickt reagiert.
Nur gut eine Woche nach der Ankündigung an der Münchner Sicherheitskonferenz und wenige Tage nach dem Treffen des chinesischen Chefdiplomaten Wang Yi mit Putin in Moskau hat Peking ein 12-Punkte-Dokument mit dem Titel «Chinas Position über eine politische Beilegung der Ukraine-Krise» publiziert. Noch ist unklar, ob das schon der Auftakt zu der von Wang angekündigten «Friedensinitiative» zum Ukraine-Krieg sein soll.
Von Peking Klärungen und Präzisierungen verlangen
Jedenfalls fehlt in der Erklärung jeder Hinweis auf einen möglichen Verhandlungsrahmen und über die möglichen Teilnehmer eines solchen Friedens- oder Vermittlungsunternehmens. Es handelt sich vielmehr um eine Sammlung sehr allgemeiner Prinzipien, deren Einhaltung nach Pekings Meinung zu einer Friedenslösung im Ukraine-Krieg führen sollen.
In den meisten bisher veröffentlichten Stellungnahmen im Westen ist das chinesische Dokument sehr skeptisch bis ablehnend, aber ohne detaillierte Begründung kommentiert worden. Dies unter anderem deshalb, weil darin keine Erwähnung des russischen Kriegsaggressors oder die völkerrechtliche Legitimität des ukrainischen Verteidigungskampfes zu finden ist. Moskau dagegen hat die chinesische Zwölf-Punkte-Erklärung warm begrüsst, inhaltlich aber auch nicht kommentiert. In Kiew reagierte Präsident Selenskyj mit der Ankündigung, er beabsichtige, den chinesischen Präsidenten Xi Jinping zu treffen und mit ihm die Möglichkeiten und Bedingungen einer Friedenslösung zu besprechen.
Selenskyjs Signalisierung eines grundsätzlichen Interesses an der vagen chinesischen Initiative und sein Wunsch nach einem direkten Gespräch zur Klärung der von Peking aufgeworfenen Punkte dürfte als politisch klüger und flexibler zu bewerten sein als eine pauschale Zurückweisung. Denn es besteht immer das Risiko, dass ein mehr oder weniger sprachloses oder oberflächliches Nein zu einer solchen Friedensinitiative nicht nur vonseiten des russischen Aggressors als willkommene Propaganda-Munition gegen die angeblich «kriegstreibende Selenskyj-Regierung» und deren angeblich ebenso «friedensunwilligen» Nato-Verbündeten benutzt wird.
Auch in den demokratisch organisierten Gesellschaften Europas und Amerikas ist das Verständnis für die Interessen der Ukraine und für deren kostspielige Unterstützung kaum so unerschütterlich verankert, wie das nach aussen gerne beschworen wird. Manche Kritiker dieser engen Solidarisierung mit der Ukraine werden sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, ihren eigenen Regierungen «Kriegsverblendung» und «verpasste Chancen» vorzuwerfen, falls diese es damit bewenden lassen, dem chinesischen Vorstoss nur die kalte Schulter zu zeigen.
Widersprüche und Fragezeichen aufs Tapet bringen
Alle diese Faktoren lassen es vernünftig erscheinen, die chinesischen «Positionen für eine politische Lösung des Ukraine-Konflikts» genauer unter die Lupe zu nehmen. Vor allem gilt es, deren offenkundige inhaltliche Widersprüche und schrille Fragezeichen aufs Tapet zu bringen und nach entsprechenden Klärungen zu fragen. So heisst es in Punkt 1 der Pekinger Erklärung wörtlich: «Respektierung der Souveränität aller Länder. Die Souveränität, Unabhängigkeit und territoriale Unabhängigkeit aller Ländern muss wirksam gewahrt werden.»
Wenn dieses Prinzip glaubhaft gelten soll, müsste dann nicht auch die chinesische Regierung den seit einem Jahr andauernden russischen Überfall auf die Ukraine klar und unmissverständlich zur Sprache bringen? Und wie will man in Moskau auf die chinesische Forderung nach Respektierung der Souveränität aller Länder reagieren?
Punkt 6 der chinesischen Positionserklärung bezieht sich auf den Schutz der Zivilbevölkerung und der Kriegsgefangenen: «Die Konfliktparteien sollten sich strikt an das humanitäre Völkerrecht halten, Angriffe auf Zivilisten oder zivile Einrichtungen vermeiden, Frauen, Kinder und andere Opfer des Konflikts schützen und die Grundrechte der Kriegsgefangenen achten.»
Auch hier wäre die Frage zu klären, wer denn im Ukraine-Krieg Angriffe auf Zivilisten oder zivile Einrichtungen und gegen Frauen und Kinder durchführt. Und wie man in Moskau diese Frage beantwortet.
Punkt 8 handelt von der «Vermeidung strategischer Risiken». Wörtlich heisst es: «Atomwaffen dürfen nicht eingesetzt und Atomkriege dürfen nicht geführt werden. Die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen sollte abgelehnt werden.»
Eine einleuchtende Forderung. Aber gibt es irgendwelche Anhaltspunkte, dass Putin bereit sein könnte, auf seine unterschwelligen bisherigen Drohungen von einem möglichen Atomwaffen-Einsatz definitiv zu verzichten?
Besonders umstritten wäre im Rahmen von Friedensverhandlungen auch Punkt 10 der Pekinger Erklärung: Stopp einseitiger Sanktionen. Dort heisst es: «China lehnt einseitige, vom UN-Sicherheitsrat nicht genehmigte Sanktionen ab. Die betroffenen Länder sollten aufhören, einseitige Sanktionen und die ‘weitreichende Gerichtsbarkeit’ gegen andere Länder zu missbrauchen.»
Fragen dazu an Peking: Kann man im Ernst annehmen, der Westen würde seine Russland-Sanktionen aufheben, bevor Moskau seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine einstellt und seine Streitkräfte hinter die Grenzen vom 23. Februar 2022 zurückzieht? Könnte der Kreml zu einer derartigen Verständigung bereit sein? Und könnte das auch für Kiew eine Basis zur Einwilligung in einen Waffenstillstand sein?
Selenskyjs Glaubwürdigkeitstest
Alle diese und eine ganze Reihe anderer offener Fragen sollte die westliche Seite in einer Antwort auf die Pekinger Punkte für eine Lösung des Ukraine-Krieges zur Sprache bringen. Gleichzeitig sollte auch die Öffentlichkeit über diese Erkundungen sowie die chinesischen Reaktionen darauf informiert werden. So dürfte am ehesten geklärt werden, wie ernst es China mit seinen Vermittlungsbemühungen meint.
Selenskyj hat das richtige Gespür für einen solchen Glaubwürdigkeitstest erkennen lassen. Sollte der chinesische Machthaber Xi Jinping es ablehnen, neben dem ins Auge gefassten Treffen mit dem Angreifer Putin in Moskau auch mit dem Angriffsopfer Selenskyj über seine «Friedensinitiative» zu konferieren, kann man die Pekinger Zwölf-Punkte-Erklärung mit guten Gründen als durchschaubaren Propagandavorstoss der «Friedensmacht China» (O-Ton Köppel) qualifizieren. Den von Peking formulierten allgemeinen Friedensprinzipien kann jedermann problemlos zustimmen, solange damit keinerlei Vorstellungen oder Verpflichtungen zu deren praktischer Umsetzung verbunden sind.