Die arabischen Staaten hatten begonnen auf Unabhängigkeit zu hoffen, als das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg zusammenbrach - stattdessen wurden sie als Kolonien, Protektorate und Mandate den Kolonialmächten Europas unterstellt. Sie haben schliesslich nach dem Zweiten Weltkrieg und in den Jahren der darauf folgenden Dekolonialisierung (die erst 1972 gänzlich abgeschlossen war) ihre Unabhängigkeit erlangt, jedoch nicht die Selbstbestimmung der Bevölkerungen.
Machtübernahme der Offiziere
Sofort nach der Unabhängigkeit gab es post-koloniale Oberschichten, oft waren es Grossgrundbesitzer, die Parlamente und Regierungen bildeten. Schon nach wenigen Jahren wurden sie durch Militärputsche abgesetzt, und die Starken Männer aus der Armee übernahmen die Führung. Sie fanden zunächst viel Zustimmung bei den Bevölkerungen, weil sie im Namen eines Nationalismus auftraten, der im Zuge des Unabhängigkeitsringens und der Kämpfe mit Israel zur führenden Ideologie aufgestiegen war.
Man versprach sich das Heil von der erhofften Grösse und Stärke der neuen Nationen. Anfänglich war man bereit, sich um dieser Hoffnungen willen den militärischen Machthabern zur Verfügung zu stellen. Später, als diese sich unfähig zeigten, die in Phantasie und Ideologie vorausgenommenen Siege der Nation zu verwirklichen, sondern im Gegenteil Niederlagen über Niederlagen einstecken mussten, blieben sie doch an der Macht, wenn auch gelegentlich durch einen neuen Putsch oder Mordanschlag ein Obermachthaber den anderen ablöste.
Die Ersatzideologie der Islamisten
Die ursprünglich umjubelten militärischen Erlöser und Machthaber wurden Gewaltherrscher mit geringer Legitimität aber zahlreichen schwer wiegenden Machtinstrumenten, von den Geheimdiensten bis zu den Staatsparteien und den wirtschaftlich begünstigten Verwandten des Staatschefs und deren Mitläufern.
Die militärischen Niederlagen diskreditierten die Ideologie des Nationalismus, sie hatte nicht gebracht, was man sich von ihr erhofft hatte. Eine Ersatzideologie wuchs auf, die nur beschränkte Kreise der Bevölkerungen durchdrang, doch diese Kreise umso ausschliesslicher und bedingungsloser: der Islamismus, welcher das Heil von der engstirnigen Befolgung, angeblich unverrückbar feststehender Regeln des islamischen Glaubens erwartete.
Die islamistische ideologische Mode war nie unumstritten. Als der radikale Flügel von Islamisten zum Terrorismus griff, um seine Ideen durchzusetzen, rief dies die Reaktion der Machthaber hervor, die noch wie vor überwiegend aus militärischen Kreisen stammten, nur ausnahmsweise aus dynastischen Herrschaften. Sie suchten die radikalen Aktivisten der neuen Ideologie abzuwehren und fanden dabei nach 2001 eine Stütze in den USA, die ihrerseits einen "Krieg gegen den Terrorismus" führen wollten.
Instrumentalisiert durch den Kalten Krieg
Schon zuvor hatte es immerwieder Zusammenarbeit zwischen der westlichen Vormacht Amerika und den Einmann-Machthabern im Nahen Osten gegeben. Sie war schon im Kalten Krieg entstanden, weil damals für Washington die Frage der "grauen Zonen" im Zentrum der Nahostpolitik stand. Ob diese "grauen Zonen" der Dritten Welt, im Kalten Krieg auf die Seite der USA oder auf jene der Sowjetunion traten, war damals die wichtigste Frage für Washington. Wie diese Zonen regiert wurden, demokratisch oder absolut und totalitär, war demgegenüber von geringerer Bedeutung.
So stützte sowohl der Kalte Krieg wie auch der Krieg gegen den Terrorismus in der arabischenWelt die totalitären Einmann-Regime. Für die Bevölkerungen jedoch wurden die sechs Jahrzehnte, die sich von der Unabhängigkeit bis zu der arabischen Revolution erstreckten, zu einer praktischen Schule der Ablehnung ihrer althergebrachten und ideologieverstärkten Einmann-Führungsstrukturen.
Jahrzehnte bitterer diktatorischer Erfahrungen
Bittere persönliche Erfahrungen mit den Folgen dieser Art von Machtausübung für das Leben eines jeden Einzelnen im Bereich der Volkswirtschaft und in jenem der persönlichen Freiheiten, erhärteten über zwei Generationen hinweg die Erkenntnis, dass für Wohlergehen in der modernen Welt, für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft, ein Mitspracherecht bei der Machtausübung unabkömmlich geworden sei. Dies ging einher mit der Erkenntnis, dass die Hingabe an Ideologien nationalistischer oder angeblich religiöser Natur ein Mitspracherecht und eine Mitwirkungsverpflichtung in den Belangen der nationalen Gemeinschaften nicht zu ersetzen vermöchte.
Der Umstand, dass die Einmannherrscher unvermeidlich ihre Macht zu festigen suchten, indem sie ihre privilegierten Klienten und Verwandten zum Nachteil der gesamten Gemeinschaft förderten und bereicherten, um sich auf sie stützen zu können, trat mit dem Altern der Einmannherschaften immer deutlicher hervor. Es war ein Prozess, der sich beständig vertiefte und festigte, je länger die Herrschaften dauerten. Mit ihm ging eine wachsende Erstickung der nicht privilegierten Mehrheiten der Länder einher.
Die Explosion der blockierten Jugend
Die bittere Schule der arabischen Völker wurde so immer drastischer, bis es zur Explosion zuerst in Tunesien, dann in Ägypten und darauf zu weiteren Aufbruchversuchen in fast allen arabischen Ländern kam. Nicht überall sind sie auf den ersten Anhieb glücklich verlaufen. In Bahrain wurde die Bewegung erstickt; in Libyen führte sie zu bürgerkiegsähnlichen Zuständen, und in Jemen droht Ähnliches.
In manchen Ländern vermochte sie sich kaum zu artikulieren, entweder weil sie auf übermächtige Abwehr von Seiten der Machthaber stiess wie in Saudiarabien, Syrien, Algerien. Oder weil es kurzfristig den Machthabern gelungen zu sein schien, durch Versprechungen und Konzessionen, die ihre Machtstellung nicht wirklich beinträchtigen, der Bewegung zunächst den Wind aus den Segeln zu nehmen, wie etwa in Oman, Jordanien, Marokko.
Erwachen aus der Erstarrung
Doch das Begehren nach Selbstbestimmung, einmal erwacht und artikuliert, wird sich wieder zum Wort melden. Es liegt begründet in den Gegebenheiten der heutigen Zeit, die man als die Moderne oder gar Postmoderne anspricht. Wirtschaftliche und kulturelle Produktivität in der Gegenwart dürfte an politische Vorbedingungen geknüpft sein, die das Mitwirken Vieler aus freien Stücken heraus, nicht aus erzwungener Befehlserfüllung, erlauben.
Sind diese Zusammenhänge einmal erkannt und bewusst geworden, wird das Wissen um sie fortwirken und auf Verwirklichung drängen. Dies dürfte der Kern des Neugbeginns sein, der gegenwärtig sowohl die erfolgreichen wie auch die im ersten Anlauf misslungenen oder zurückgestellten Revolutionen in der arabischen Welt beflügelt.