Auch wenn es, zeitlich gesehen, ein Zufall ist, so symbolisieren doch die aktuellen Vorgänge bei den einstigen Sonnenblumen-Freunden auf der einen Seite und bei der CDU/CSU auf der anderen, dass ein neuer Wind durch das politische Gefüge in Deutschland weht. Anders ausgedrückt: Dass gewohnte Verhaltensweisen die Seiten wechseln und zudem noch die öffentlichen Toleranzgrenzen sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Denn: Natürlich ist das Rennen um die Spitzenposition auch bei den Grünen nicht nur in Harmonie und, sozusagen, beim Kaffeeplausch oder mit Hilfe einer Münze entschieden worden. Und selbstverständlich hatte neben der Frau aus Hannover auch der lange Zeit heimliche Parteiliebling Robert Habeck seinen Anspruch angemeldet. Aber sie haben es geschafft, Zwist, Hader und Meinungsverschiedenheiten unter dem Teppich zu halten. Das ist absolut „un-grün“ und steht gegen jede Tradition. Kurz, dieser Vorgang gleicht einem Wunder.
Ein Mirakel, das in seiner Lautlosigkeit umso effektvoller wirkt, je mehr bei der CDU/CSU der Machtkampf zwischen Armin Laschet und Markus Söder um die Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl zu einem Akt der Selbstzerstörung auszuwachsen droht. Die vor etwa einem halben Jahr in den Meinungsumfragen noch bei etwa 40 Prozent Zustimmung rangierende Union ist mittlerweile dramatisch auf 27 Prozent abgestürzt. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass sie auf der deutschen Parteienskala sogar auf den zweiten Platz abrutschen könnte. Das würde bedeuten – hinter die Grünen. Das wäre ein Desaster für die politische Kraft, die wie keine andere die deutsche Nachkriegsgeschichte bestimmt hat. Und es wäre völlig unvorstellbar für den grössten Teil der christdemokratischen und -sozialen Mitglieder und Anhänger!
Wie ein Gang in die politische Vorzeit
Die Grünen … Es mutet fast wie ein Gang in uralte Archive an, ja wie die Erinnerung an eine graue politische Vorzeit, wenn man an die Gründungszeit der Blumenkinder vor 41 Jahren denkt. Als sie 1983 – mit Strickzeug und verdorrten Blumen „bewaffnet“ – erstmals in den Bundestag einzogen, wurden sie von den „Etablierten“ wie die Schmuddelkinder behandelt. Tatsächlich verbreiteten sie das reinste Chaos. Auch verbal, als beispielsweise der spätere Bundesaussenminister Joschka Fischer dem amtierenden Parlamentspräsidenten Richard Stücklen zurief: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch“ – und dafür des Plenarsaales verwiesen wurde. Inzwischen sind sie nicht nur längst fester Bestandteil des Bundesparlamentarismus, sondern sitzen in elf (von 16) Landesregierungen. Und stellen mit Winfried Kretschmann in Stuttgart sogar seit 10 Jahren den Ministerpräsidenten – mit der davor als unbesiegbar geltenden CDU als Juniorpartner.
Was aber macht die erwähnte Zeitenwende aus? Grund dafür ist sicher der Generationenwechsel. Die heute heranwachsenden oder auch schon in Verantwortung stehenden Menschen besitzen in der Regel ganz andere Lebenshintergründe als ihre Eltern und Grosseltern. Für sie sind – wiederum in aller Regel – Dinge wie Wohlstand, Frieden, Grenzenlosigkeit, Soziale Sicherung, funktionierende Bildungs- und Gesundheitssysteme normal und alltäglich. Das mag mitunter den Blick für Werte wie Leistung, Solidarität oder Zuverlässigkeit verstellen.
Dafür sind bei den „Jungen“ andere Sensoren geschärft: Bewahrung von Umwelt und Schöpfung oder – ganz zuvorderst – Stopp von Erderwärmung und Klimawandel. Deshalb stört es die meisten Grünen-Anhänger auch nicht, dass das jüngst beschlossene neue Parteiprogramm so gut wie keine echten Aussagen zur Aussen- und Sicherheitspolitik enthält. „Was nützt die beste Sozialpolitik, wenn die Kosaken kommen“, hatte einst der liberale Politikwissenschaftler Max Weber postuliert und damit den Zeitgeist bis weit in die 90er Jahre beeinflusst. Wer aber könnte in der heutigen Öffentlichkeit noch mit der Warnung punkten, etwa durch militärische Massnahmen für äussere Sicherheit zu sorgen?
Deutschlands Grüne schwimmen schon seit Längerem auf einer stabilen Welle der Zustimmung. Ungefähr ein Viertel der Wahlbevölkerung hat sich mittlerweile dahinter versammelt. Und es sind Repräsentanten wie Annalena Baerbock und Robert Habeck, die als Garanten für diese Stabilität stehen. Darunter kann geschehen was will, es stört nicht. Nicht die Medien und auch nicht wirklich die grosse Masse. Die grüne Jugend ruft, zum Beispiel, unverändert zur Weltrevolution auf und marschiert munter auf jeder „linken“ Demo mit? Macht nix, selbst wenn Steine fliegen. Da entschuldigt sich, weiter, in Berlin eine führende Vertreterin der Partei devot dafür, dass sie in der Kindheit gern Indianer (also eine „verfolgte indigene Minderheit“) gespielt habe. Proteststürme in den „sozialen Medien“? Keine Spur. In früheren Jahren gehörte es gewissermassen zur angeborenen Wesensart der Grünen, praktisch jedes Wort ihrer eigenen führenden Personen zu „hinterfragen“ und jeden Schritt zu kontrollieren. Seit Robert Habeck und Annalena Baerbock an der Spitze stehen, hat diese Aufmüpfigkeit erst nachgelassen und schliesslich ganz aufgehört.
Zum ersten Mal eine Kanzlerkandidatur
Es ist das erste Mal in der 41-jährigen Geschichte der grünen Partei, dass sie mit der Kandidatur selbstbewusst nach der Kanzlerschaft in Deutschland greift. Natürlich kann bis Ende September noch viel geschehen. Inbesonders, wenn es gelingen sollte, in den kommenden Monaten der Pandemie Herr zu werden. Eine wesentliche Rolle für das Wahlverhalten wird gewiss auch spielen, ob und auf welche Weise sich die CDU/CSU aus ihrer Führungskrise herauswindet. In ihrer Antrittsrede hat Annalena Baerbock allerdings Sätze gebraucht, die fraglos vor allem bei jungen Menschen auf Widerhall stossen: „Ich trete für Erneuerung an. Für den Status quo stehen andere. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass dieses Land einen Neuanfang braucht.“ Das sind ganz neue Töne nach der Ära Merkel. Angela Merkel hat auf Ruhe gesetzt – auf nüchterne Überlegung, Rationalität, Effektivität, auf ruhige Hand.
Damit ist das Land, im Grossen und Ganzen, gut selbst durch unruhige Zeiten gekommen. Baerbocks Nachteil ist, dass sie keinerlei Führungserfahrung und Verwaltungserfahrung besitzt. Das wird im Wahlkampf zweifellos eine wichtige Rolle spielen. Aber wenn sie sagt „Klimaschutz ist die Aufgabe unserer Generation. Er ist der Massstab für eine neue Regierung“, dann trifft sie mit Sicherheit die Erwartungen und Hoffnungen im Lande. Gefühle, die unter Umständen stärker sind als das Vertrauen in rationale Politik in ihrer ganzen Breite. Im Facebook fand sich dazu folgender Satz: „Frau Baerbock, das ist wie damals Willy Brandt. Mehr Demokratie wagen!“. Ob solche Gedanken das Empfinden von Mehrheiten ausdrücken? Auf jeden Fall sollten sie den traditionellen Politikbetreibern zu denken geben.
Jetzt warten die Mühen der Ebenen
Mit ihrem Coup und dem reibungslosen Ablauf davor haben die Grünen dem Politgeschehen im Land auf jeden Fall ein Beispiel gesetzt und deutlich gepunktet. Jetzt freilich wartet nach dem Höhenflug die Mühsal der Ebene. Die Partei bezeichnet sich nach wie vor als „linksliberal“, hat sich im Zuge ihrer Regierungsbeteiligungen in den Ländern jedoch von utopischen Weltbildern entfernt und ist erkennbar Richtung Mitte gerückt. Vielen Anhängern schwebt trotzdem ein Bündnis mit den Sozialdemokraten und der kommunistischen Linken als Idealziel vor. Hier, wiederum, stellt sich die Frage nach der Zukunft der Union. Ist es wirklich vorstellbar, dass sich CDU und CSU als (nach dem dramatischen Absturz der SPD) letzte verbliebene Volkspartei selbst zerlegt? Auch das würde eine Zeitenwende markieren.