Die meisten Schulen im Zentrum und Süden Somalias sind zerstört oder geschlossen. Zwar fallen diese Kalamitäten gerade mit den Sommerferien für Schüler und Lehrer zusammen. Eine vergangene Woche vor Ort erstellte "Rapid Assessment Study" warnt jedoch vor dramatischen Langzeitfolgen: "Nach Jahrzehnten der Vernachlässigung des Schulsystems müssen wir alles tun, damit sich die bereits auf ein schreckliches Niveau herabgesunkenen Bildungsmöglichkeiten nicht weiter verschlechtern", fordert die Vertreterin des UNO-Kinderhilfswerks Unicef in Somalia, Rozanne Chorlton.
Die von Unicef und 14 anderen Hilfsorganisationen auf die Schnelle durchgeführte Untersuchung von 589 Ausbildungsstättenstätten gelangt zu dem Ergebnis, dass in Somalia 1,8 Millionen in Schulen eingeschriebene Kinder von fünf bis 17 Jahren keinen Unterricht mehr erhalten. Das ist enorm im Verhältnis zu der schon vor der Hungersnot äusserst niedrigen Einschulungsrate. Zuletzt hatten bloss 30 Prozent der Kinder in dem zerfallenen Land am Horn von Afrika Gelegenheit, eine Schule zu besuchen.
Schulen in Kenias Notsituation
Die Entwurzelung von fast einer Million Menschen auf der Suche nach Nahrung und Sicherheit trägt zum Zerfall des unterentwickelten Bildungswesens bei. Nach den Zahlen des Flüchtlings-Hochkommissariats (UNHCR) vom Freitag haben bisher 440.000 Somalier Lager in Kenia erreicht. Darunter befinden sich etwa 200.000 Kinder im Schulalter. Jeden Tag treffen weitere 1500 Flüchtlinge in Kenia ein. Derweil suchen in der weitgehend kriegszerstörten somalischen Hauptstadt Mogadischu 470.000 Binnenflüchtlinge eine Unterkunft.
"Bildung ist ein kritischer Bestandteil des Umgangs mit Notsituationen", schreibt Chorlton in ihrem Report, "Schulen sind für Kinder nicht nur Plätze zum Lernen, sondern sie bieten auch Gesundheitspflege und andere lebenswichtige Dienstleistungen an." Unicef hat zusätzliche 20 Millionen Dollar beantragt, um 435.000 Kindern - in und ausserhalb der Flüchtlingslager - einen minimalen Unterricht zu organisieren.
Nicht nur die Zahl der Schüler, sondern auch jene der Lehrer geht in Somalia drastisch zurück. Die von Unicef ausgewerteten Umfragen lassen befürchten, dass zum Beginn des neuen Schuljahres im September die Hälfte der Lehrer in den zentralen und südlichen Provinzen nicht an ihre Arbeitsplätze zurückkehren wird. Neben den tödlichen Gefahren bei der Ausübung ihres Berufs ist diese Lehrerflucht auf die lausige Entlöhnung zurückzuführen. Die meisten der rund 10.000 Lehrer in den untersuchten Regionen überlebten schon in der Vergangenheit hauptsächlich dank des Geldes, das ihnen staatliche und private internationale Hilfswerke beisteuerten. Der von Unicef vorgeschlagene Plan zur Rettung des Bildungswesens sieht daher Zuschüsse für 5750 Lehrer vor, etwa in Form von Lebensmittelgutscheinen.
Bildung statt Kalaschnikows.
Mangels nationaler Statistiken ist es schwierig, die Bedürfnisse realistisch abzuschätzen. In den Jahresberichten des UNO-Entwicklungsprogramms (UNDP) über die "menschliche Entwicklung" scheint Somalia schon lange nicht mehr auf. Zu den wenigen Zahlen, die im Bericht 2010 enthalten sind, gehört der angebliche Zufriedenheitsgrad der Somalier mit ihrem Bildungssystem und den Schulen: 56 Prozent.
Nach 20 Jahren Bürgerkrieg und ausländischen Militärinterventionen, ohne eine funktionsfähige Regierung, gilt Somalia gemeinhin als ein Fass ohne Boden. Die mit Al-Kaida und den Taliban vernetzten Al-Schabab-Milizen behindern die Hilfe für die Zivilbevölkerung. Besonders weltliche Schulen sind ihnen ein Gräuel. Ihrer Meinung nach genügt das Auswendiglernen des Korans. Die heilige Schrift beantworte alle Fragen. Die Förderung der Volksbildung ist daher auch eine Antwort an die religiösen Eiferer mit den Kalaschnikows.