Sie haben 1,8 Millionen Facebook-Follower und beherrschen mit ihrem Album „Jung, brutal, gutaussehend 3“ die Charts. Gemeint sind die beiden Gangsta-Rapper Kollegah & Farid Bang. Ihr aktuelles Album „JBG 3“ wurde innerhalb weniger Tage über 30 Millionen Mal gestreamt. Vor zehn Tagen erhielten sie dafür den „Echo“-Preis 2018 der deutschen Musikindustrie. Ihre Stücke erreichen enorm hohe Verkaufszahlen – das einzige Preis-Kriterium für das „Album des Jahres“. Mit dabei die Bertelsmann Music Group BMG. Der Verlag verdient viel Geld mit diesen Rap-Songs.
Ob gut gemeinte Proteste wirken?
Bereits im Vorfeld wusste man um die problematischen und gewaltverherrlichenden Texte der Skandal-Rapper. Sie seien frauenverachtend und homophob, antisemitisch und geschmacklos. Doch der Ethik-Rat und die Jury liessen die Texte passieren. Die künstlerische Freiheit stünde höher, hiess es; eine Intervention oder ein Ausschluss vom Wettbewerb seien nicht angebracht.
Nun wurden Proteste laut, „Echo“-Preise zurückgegeben, Konzerte abgesagt und Konsequenzen gefordert. Die BMG löste den Vertrag mit den Rappern auf – dies trotz grosser Lobeshymnen. Anstandsgesten? Und erreicht diese öffentliche Empörung die jungen Menschen?
Sexualisierte Texte kommen bei Jugendlichen gut an
Zehntausende von Kindern und Jugendlichen tanzen und singen zu den Songs von Kollegah und Co. Den Text „0815“ kennen sie auswendig.[1] In diesem Lied ist zu hören: „[…] mach’ dein Bahnhofsghetto zu Charlie Hebdo.“ Und im gleichen Song taucht auch die berüchtigte Zeile auf: „Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen.“ Da wird der Fettgehalt im Körper malträtierter und zu Tode gequälter Menschen von damals mit jenem heutiger Bodybuilder verglichen und der eigene Muskelaufbau gepriesen.
Zynischer geht’s kaum. Doch die Angriffe auf Randgruppen stört die Jugendlichen nicht. Im Gegenteil. Provokation und Verachtung sind im Gangsta-Rap Programm, Hass und Gewalt Geschäftsmodell. Darum kommen sexualisierte Texte, die provozieren, auch gut an. Cool seien die Rapper und krass gut, echte Maschinen, so die Schülerinnen und Schüler einer Schweizer Schulklasse. [2] Und sie dürften in ihrem Urteil kein Einzelfall sein. Anders lassen sich die imposanten Absatzquoten nicht erklären.
Gegenwelten aufzeigen – durch Dilemma-Situation
Der Lehrer dieser Klasse wollte und konnte nicht einfach tolerant bleiben und wegschauen. Doch wie reagieren? Der Pädagoge hat weder moralisiert noch verteufelt. Er fragte seine Schüler nur, ob sie Auschwitz kennten und wüssten, was damals passiert sei. Die Jugendlichen schwiegen. Er las ihnen einige Textstellen aus Primo Levis Buch „Ist das ein Mensch?“ vor. In diesem autobiographischen Bericht schildert Levi seinen elfmonatigen Zwangsaufenthalt im KZ Auschwitz. Erneutes Stillschweigen. Dann zeigte der Lehrer seinen Schülern Bilder eines verhungerten KZ-Insassen und eines Bodybuilders. Worin wohl der Unterschied liege?
„Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen.“ Die Jugendlichen fingen an zu verstehen: Der Bodybuilder schindet sich für seinen Körper, der Ausschwitzinsasse wurde geschunden. Und plötzlich merkte eine Schülerin: „Die Rapper haben ja null Mitleid. Die sind ja krank.“
Blitzlicht aus dem Schulalltag: Es zeigt einen Lehrer, der erzieherisch handelt, der seine Schüler zum Nachdenken führt – zum Denken als innerem Dialog zwischen sich und sich selbst, wie es bei Platon heisst. Der Lehrer macht sie so „zu Verstehenden“.
Diskurssituationen führen zu Heureka-Erlebnissen
Angesichts der modernen Wertepluralität und der divergierenden Normansprüche können Schule und Unterricht nicht im Ruf nach Toleranz verbleiben; sie müssen erzieherisch handeln. Die Pädagogik kann und darf in vielen Fällen aber nicht entscheiden, was richtig oder falsch ist; und doch muss sie die Schülerinnen und Schüler zur Verantwortung und damit zu einer humanen Haltung erziehen. Das geht nur, wenn Jugendliche eine Problembewusstheit entwickeln. Sie müssen verantwortlich Entscheide treffen und sie auch begründen können.
„Die Rapper haben ja null Mitleid. Die sind ja krank“, urteilte die Schülerin. Eine Art Heureka-Erlebnis. Sie begann zu verstehen.
Schule als eine Art Gegenwelt
Dieser Lehrer schuf ein Refugium der Nachdenklichkeit. Nicht mit Arbeitsblättern zum Holocaust, nicht via digitale Lernprogramme übers Dritte Reich, nicht über selbstreguliertes Lernen mit Lektürevorlagen. Der Lehrer als Person wirkte. Seine Empathie war es und die gelesene Geschichte mit den authentischen Bildern. Er schuf eine Dilemma-Situation und verwickelte seine Schülerinnen und Schüler in einen sokratischen Dialog. Ohne grosse Worte führte er sie in einen inneren moralischen Konflikt.
Der Lehrer baute so etwas wie eine Gegenwelt zum Rapper-Kosmos auf. Die Schule – ein Ort der Reflexion und des tieferen Verstehens in der Unübersichtlichkeit der Alltagswelt. Eine solche Schule ist für junge Menschen vielleicht gerade deshalb attraktiv, weil sie Halt gibt, weil sie Sicherheit und Verlässlichkeit vermittelt – eine Atmosphäre der ruhigen Nachdenklichkeit eben; sie ist Grundlage für wirkliches Lernen.
Mit Nachdenken humanes Interesse am Du gewinnen
Kaltschnäuzige, menschenverachtende Rapper-Songs und die Schule als gegenhaltende Kraft: Das pädagogische Handeln im Kleinen erreicht vielleicht mehr als die gut gemeinten grossen Empörungsgesten. Sie verwehen im Wind und bewirken wohl wenig. Der Lehrer dagegen zielte auf das Kernproblem, auf ein humanes Interesse am Du. Nicht mit lautem Lärm, nein! – durch leises Nachdenken.
[1] Maria Ossowski, Echo-Eklat: Politische Bildung statt Shitstorm. In: https://www.ndr.de/kultur/Kommentar-zum-Echo-Eklat-um-Kollegah-und-Farid-Bang,kommentarecho100.html [Status: 19.04.2018]
[2] Ebda.