Wer ist schuld daran, dass Millionen Menschen in der Welt und Hunderttausende auch in Europa auf der Flucht vor Terror, Krieg, Hunger und Verfolgung sind? Wer hat den Klimawandel und damit natürlich auch das Abschmelzen der Pole zu verantworten? Wer den „Front National“ von Le Pen in Frankreich, wahrscheinlich auch die erneute finanzielle Pleite von Eddy „the Eagle“ in Grossbritannien, den verregneten Juli bei uns und damit viele versaute Ferien?
Wem verdankt mehr als die Hälfte der Deutschen einerseits das Gefühl existenzieller Zufriedenheit und doch zugleich auch wieder abgrundtiefer Sorge vor der Zukunft? Wer, wem, was, wie, warum? Ist doch ganz egal. Der Volkszorn, gespeist von Wutbürgern und in deren Fahrwasser den rasch meinungsgewandelten Medien, kennt selbstverständlich den Namen: Angela Merkel, wer denn sonst!?
Vom Gipfel in den Keller
Eine bemerkenswerte „Karriere“: Vor einem Jahr noch im Zenit scheinbar unangreifbarer politischer Macht, inzwischen fast schon zu einem Negativsymbol abgesunken, an dem eine geradezu explosionsartig steigende Zahl von Bundesbürgern Ängste, Zorn, Entrüstung sowie Empörung ablädt und - vor allem in den (un)sozialen Medien - Gift und Galle versprüht. Diese von der Bundeskanzlerin im Moment verkörperte Rolle ist in der Geschichte der Menschen nicht neu. Die Israeliten im Alten Testament hatten den „Sündenbock“, der – symbolhaft mit den Vergehen des Volkes beladen – in die Wüste geschickt wurde. Und zu Zeiten des Feudalismus durfte der „Prügelknabe“ das Fehlverhalten anderer abzubüssen.
Nun ist es ja wirklich nicht so als stehe die CDU-Vorsitzende und Berliner Regierungschefin grundlos in der Kritik. Und sollte sie nicht längst selber eingesehen haben, dass im Verlauf der von ihr (unter dem politischen und moralischen Druck der sich in Nahost und Afrika vollziehenden menschlichen Katastrophen) eingeleiteten Flüchtlingspolitik viele Fehler und Versäumnisse begangen wurden, so ist ihr (und ihrer Regierung) diese Einsicht spätestens durch die zwischenzeitlichen Wahlen eingebläut worden. Wobei der jüngste Urnengang für den neuen Landtag in Mecklenburg-Vorpommern mit dem Triumph der „Alternative für Deutschland“ (AfD) nur den vorläufigen Höhepunkt bildet – freilich einen, der schon am kommenden Sonntag in Berlin wieder übertroffen werden könnte. Nicht nur bei den etablierten deutschen Parteien herrscht nun eine mitunter schon an Panik grenzende Aufregung; auch durch die Gesellschaft als Ganze scheint ein Riss zu gehen.
„Nicht in Betroffenheit versinken“
Ja, es ist nach der Öffnung der Grenzen im September 2015 für das Heer der Kriegsflüchtlinge und Asylsuchenden eine grosse Anzahl (auch gravierender) Fehler und Unterlassungen begangen worden. Dazu gehört vor allem der viel zu lang dauernde Verzicht auf jegliche Registrierung und damit auch Kontrolle. Nicht zu vergessen auch das sofortige, nachhaltige Pochen auf die strikte Einhaltung der hierzulande geltenden Rechts-, Gesellschafts- und Moralnormen. Getreu dem alten und unverändert wahren Motto: „Wenn Du in Rom bist, benimm Dich wie ein Römer“. Der Silvester-Skandal am und um den Kölner Hauptbahnhof wäre dann - vielleicht - vermieden worden. Erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang natürlich auch die ausserordentlich zweifelhafte (und in diesem Fall gewiss nicht der Kanzlerin zuzuordnende) Rolle erheblicher Teile der Medien, die negative Auswüchse auf Seiten der Zuwanderer unter der moralisierenden Prämisse „Willkommenskultur“ lange Zeit entweder gar nicht oder nur verniedlichend beleuchteten. Die Reaktion darauf wird dem Journalismus nun mit dem (natürlich blödsinnigen und falschen) Begriff „Lügenpresse“ um die Ohren geschlagen.
Der legendäre Fernsehmann Hanns Joachim Friedrichs hat einmal die eigentliche Aufgabe von Berichterstattern so beschrieben: „Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache. Auch nicht mit einer guten. Nicht in Betroffenheit versinken. Im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein. Nur so schaffst du es, dass die Zuschauer dir vertrauen“. Recht hatte er damals und hätte er auch heute. Aber lebte er noch, würde er wahrscheinlich verzweifeln angesichts der permanenten Verstösse gegen diese einfache Regel. Die Aufgabe von Journalisten ist es zu berichten, was ist. Das ist häufig schlimm genug, und es bedarf nicht noch der Anweisung an den Kameramann, in einer langen Grossaufnahme traurige Kinderaugen zu zeigen. Oder wie war es nach der schlimmen Silvesternacht in Köln? Fünf Tage dauerte es, bis ARD und ZDF die Vorgänge endlich an die Spitze ihrer Nachrichtensendungen setzten…
Asche aufs Haupt
Alles richtig, und Asche aufs mediale Haupt. Aber ist denn da überhaupt kein Platz für die positive Seite der Geschehnisse? Wo bleibt eigentlich der Stolz im Lande auf das, was im Zuge der Aufnahme und Unterbringung von rund einer Million Menschen geleistet wurde? Beispielsweise von freiwilligen und ehrenamtlichen Helfern, die bisweilen weit über Grenze der physischen und seelischen Belastbarkeit hinausgingen. Aber auch auf die Leistungen von Kommunen, Landkreisen, Bundesländern und – ja auch! – von Bundesregierung und Bundestag. Klar, es bleibt noch ein langer Weg, bis wirklich Land in Sicht ist und die Probleme mit Sprache, Bildung und Arbeit wenigstens einigermaßen im Griff sind. Und noch einmal wäre ein ähnlicher Kraftakt in einer vergleichbaren kurzen Zeit nicht verkraftbar – zumal bislang ja praktisch jegliche Solidarität der europäischen Partnerländer ausblieb.
Weshalb also fehlt uns so offensichtlich die Fähigkeit, auch einmal jenseits von Fussball und Exportrekorden Stolz zu zeigen wegen eigener Leistungen zugunsten von Menschen und Menschlichkeit? Stattdessen Frust und Angstgeschrei wohin immer man hört. Ja, gar kein Vertun, es gibt (auch ohne die Flüchtlinge und Asylbewerber) in Deutschland viele offene, vor allem soziale Probleme. Die Frage nach der totalen Gerechtigkeit wird ohnehin nie zur allgemeinen Zufriedenheit beantwortet werden können. Schon gar nicht über die (hierzulande ungeübte) direkte Demokratie, also über Volksabstimmungen. Da so ziemlich jedermann anderslautende Vorstellungen von Gerechtigkeit hat, dürfte da eher ein wildes Hauen und Stechen anstelle eines – vielleicht unbefriedigenden aber – vernünftigen Ausgleichs treten.
Da rast der See…
Noch einmal: Angela Merkel (aber doch bei weitem nicht sie allein) hat in der Flüchtlingsfrage gravierende Fehler gemacht. Dafür muss sie heute schon büssen und wird in den kommenden Monaten politisch wohl noch viel mehr bezahlen müssen. Indessen - erklärt das jenen Massenansturm, nicht zuletzt aus der gut situierten bürgerlichen Mitte, zu einer Partei, die sich zwar „Alternative“ nennt, aber ausser Ziel-Formulierungen keine gangbaren Wege aufzeigt. Viele - wahrscheinlich sogar die meisten - dieser Wähler sind keine Rechtsradikalen oder gar verkappte Nazis. Nicht wenige sagen ja sogar offen, dass sie mit der AfD überhaupt nichts anfangen können. Sie wollten es „denen da oben“ nur ganz einfach „einmal zeigen“. Aber, bitte schön, was „zeigen“? Im ersten Aufzug von Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“ heisst es: „Da rast der See und will sein Opfer haben“. Im Moment, scheint es, ist der „See“ Deutschlands Volksseele, die nach ihrem „Opfer“ schreit. Und das heisst offensichtlich Angela Merkel.