Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder hat in einem langen Gespräch mit der «New York Times» seine Rolle im Gasgeschäft mit Russland und seine Freundschaft mit Putin verteidigt. Er nennt zwar den Ukraine-Krieg einen Fehler und behauptet, Putin wolle den Krieg beenden, sagt aber nicht unter welchen Bedingungen. Selbstbewusst betont er, er mache «jetzt nicht auf mea culpa». Das sei nicht sein Ding. Dafür stellt er seine unkritische Nähe zum Putin-Regime irreführend als eine Art Fortsetzung von Willy Brandts Ostpolitik dar.
Ein klassisches Interview ist es nicht, das der 78-jährige Schröder dem New Yorker Weltblatt gibt. Der am Wochenende veröffentlichte Text beruht nach Angaben der Zeitung auf zwei ausführlichen Gesprächen, die der Ex-Kanzler offenbar in seiner Wohnung in Hannover mit der Autorin Katrin Bennhold geführt hat und die von ihr zu einem Bericht mit vielen Zitaten und erklärenden Verweisen zusammengefasst worden sind. Man kann davon ausgehen, dass Schröder diesen Text vor der Publikation autorisiert hat.
Mit Putin am langen Kreml-Tisch
Detaillierter zur Sprache kommt darin Schröders Besuch bei Putin am 9. März im Kreml, bei dem der Gast versuchte, eine Vermittlung zur Beendigung des im Februar lancierten Ukraine-Krieges zustande zu bringen. Der Ex-Kanzler berichtet, dass er nach einem Treffen mit dem ukrainischen Parlamentarier Rustem Umerow in Istanbul von einem russischen Jet nach Moskau geflogen wurde. Dort habe er mit Putin im Kreml an dem mittlerweile berühmt-berüchtigten sechseinhalb Meter langen Tisch gesprochen.
Auf Einzelheiten des Gesprächs geht Schröder nicht ein. «Ich kann Ihnen nur sagen, dass Putin daran interessiert ist, den Krieg zu beenden», sagt er. Aber das sei nicht so leicht. Dazu müssten «ein paar Punkte geklärt» werden. Welches diese Punkte und deren Inhalt sein sollen, darüber hat sich Schröder gegenüber der «New York Times» ausgeschwiegen. Klar ist auch, dass Putin dem Wunsch seines deutschen Freundes nach einer wirksamen Vermittlungsaktion nicht entgegengekommen ist. Jedenfalls ist von konkreten russischen Schritten zur Beendigung des grausamen Krieges gegen die Ukraine nichts zu erkennen.
Schröder bezeichnet zwar diesen Krieg als «Fehler», verzichtet aber auf jede kritische Äusserung gegenüber Putin oder auf einen Hinweis darauf, von welcher Seite die militärische Gewalt überhaupt in Gang gesetzt wurde.
Nachdrücklich betont der Ex-Kanzler hingegen, dass die meisten deutschen Politiker und auch die deutsche Öffentlichkeit im grossen Ganzen die im Laufe der letzten Jahrzehnte zunehmenden Gas- und Ölimporte aus Russland unterstützt oder wenigstens akzeptiert hätten. «Aber jetzt wissen es alle plötzlich besser», sagt er sarkastisch im Gespräch. Er erzählt der Interviewerin von der «New York Times» weiter, dass ihn Putin nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler im Dezember 2005 persönlich angerufen habe, um ihn zur Übernahme des Vorstandsvorsitzes für das Pipeline-Projekt Nord Stream 1 zu bewegen. Zehn Jahre später wurde auch der Bau einer zweiten Gaspipeline (Nord Stream 2) bewilligt, die russisches Gas durch die Nordsee nach Deutschland transportieren sollte. Wiederum übernahm Schröder den Vorsitz dieses Unternehmens, dessen Geschäftssitz in Zug angesiedelt ist.
Ostsee-Pipelines zum Schaden der Ukraine
Schröder, der heute in Deutschland und weit herum im Ausland wegen seiner politischen und geschäftlichen Verbandelung mit Putin heftig kritisiert wird, unterstreicht in dem Gespräch, dass er als Jungpolitiker von Willy Brandts neuer Ostpolitik stark beeindruckt und inspiriert worden sei. Eine der Leitideen dieser Poliltik sei es damals gewesen, durch intensivierte Handels- und Wirtschaftsbeziehungen im damals kommunistisch beherrschten Ostblock gewisse innere Öffnungen und Entspannungstendenzen im Ost-Westverhältnis auszulösen. Solche Hoffnungen sind später tatsächlich teilweise eingelöst worden: Das totalitäre Herrschaftssystem des Sowjetkommunismus zerfiel, die früheren Satellitenländer Osteuropas wurden unabhängig, der Weg wurde frei zur deutschen Wiedervereinigung und selbst in Russland gab es Ansätze zu einem demokratisch-pluralistischen Gesellschaftssystem.
Was Schröder aber bei seiner Berufung auf die frühere deutsche Ostpolitik völlig ausblendet: Willy Brandt wäre es es nie in den Sinn gekommen, das wirtschaftliche und politische Beziehungsgeflecht mit Russland ausgerechnet zum Schaden der unabhängig gewordenen ehemaligen Satellitenländer Moskaus zu forcieren. Ihm ging es um Ausgleich und Versöhnung mit allen Ländern Osteuropas. Deshalb wurde seine Öffnungspolitik auch als Ostpolitik und nicht als Russland-Politik bezeichnet. Die neuen Gaspipelines durch die Ostsee aber sind nur für Russland und Deutschland und seine westlichen Nachbarn materiell interessant. Die bestehenden Leitungen durch die Ukraine und durch Polen werden zumindest teilweise umgangen und könnten längerfristig ganz überflüssig werden.
Damit werden vor allem der wirtschaftlich ohnehin schwachen Ukraine milliardenschwere Transiteinnahmen entzogen. Schröder hat sich als aktivster Promotor von Nordstream 1 und Nordstream 2 in keiner Weise um diese Problematik gekümmert. Und er war sich auch nicht zu schade, der Ukraine noch kurz vor dem Beginn des russischen Überfalls provozierendes «Säbelrasseln» vorzuwerfen.
Es stimmt, auch viele andere Politiker aus allen Parteien in Deutschland haben sich ungeachtet der Widerstände seitens anderer EU-Partner und aus den USA für den Bau der umstrittenen Ostsee-Pipelines eingesetzt. Doch immerhin haben sich manche dieser früheren Befürworter angesichts der russischen Ukraine-Invasion inzwischen eines Besseren besonnen. Und die Regierung Scholz sorgt dafür, dass die fertiggestellte zweite Gasröhre durch die Ostsee nicht in Betrieb genommen werden kann. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, ein ehemals enger Mitarbeiter Schröders, hat sich öffentlich dazu bekannt, dass er Putin und sein Regime früher falsch eingeschätzt habe.
Kein Verzicht auf russische Aufsichtsratsposten
Von der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel wartet man zwar immer noch auf eine nähere Stellungnahme zu der von Putins Angriffskrieg losgetretenen «Zeitenwende» in Europa. Auch sie hatte die Nord-Stream-Projekte konsequent unterstützt und sie als rein wirtschaftliche Unternehmungen bezeichnet. Doch eine «Putin-Versteherin» und Verharmloserin à la Schröder, wie einige Kommentatoren ihr unterstellen, war sie nicht. Immerhin hatte sie 2015 nach der Krim-Annexion Putin scharf kritisiert und sich energisch für die Verhängung von Sanktionen engagiert. Wie fast alle Beobachter und Experten im Westen konnte sich auch die frühere Bundeskanzlerin offenbar einen geballten russischen Überfall zur Auslöschung einer unabhängigen Ukraine nicht vorstellen.
Schröder aber äussert sich im Gespräch mit der «New York Times» so, als könne ungeachtet des Ukraine-Krieges im Verhältnis zu Russland und in Sachen Energie-Import alles so weitergehen wie bisher. Er erklärt, dass er nicht daran denke, von seinen verschiedenen lukrativen Posten bei russischen Energiefirmen (allein als Vorstandsvorsitzender des Ölriesen Rosneft verdient er offiziell 600’000 Dollar jährlich) zurückzutreten. Das komme nur in Frage, falls Russland seine Lieferungen in den Westen einstellen sollte. Er spricht sich auch gegen ein Embargo für russische Energielieferungen aus, wie das zurzeit in Europa lebhaft diskutiert wird.
Wieso der Ex-Kanzler sein Schweigen zur Ukraine-Katastrophe ausgerechnet gegenüber einem amerikanischen Medium gebrochen hat, bleibt sein Geheimnis. Vielleicht hoffte er, damit auf der internationalen Bühne ein gewisses Verständnis für sein Engagement als Gas-Lobbyist und jovialer Putin-Kumpel anregen zu können. Doch mit seiner selbstgerechten Ablehnung, die eigene bisherige Haltung kritisch zu hinterfragen oder ein Zeichen persönlicher Empathie für die mörderisch angegriffene Ukraine zu setzen, dürfte er genau das Gegenteil bewirkt haben. Schröder inszeniert das wenig erhebende Schauspiel der Selbstdemontage eines ehemals ziemlich erfolgreichen Politikers.