Da ist die Geschichte von einem französischen Aristokraten, der auf dem Weg zum Schafott noch um ein Papier bittet, um sich etwas zu notieren, und es wird ihm gewährt. Man könnte die Notiz ja vernichten, wenn sie sich an irgendjemanden richtet. Aber das ist nicht der Fall, es ist ganz und gar eine Notiz für ihn selbst.
Am 17. März 1973 notiert Max Frisch diese Anekdote in Berlin in ein Ringbuch. Einen Monat vorher hatte der 62-Jährige darin festgehalten:
„Ich weiss jetzt, dass ich nicht schreibe, weil ich andern irgendetwas zu sagen habe (…) Ich schreibe, um zu arbeiten. Ich arbeite, um zuhause zu sein.“
Zuhause sein, damit meinte der Tagebuchschreiber sicher nicht nur den Schreibtisch am warmen Ofen. Sondern wohl eine Art von mentaler Poetik-Baustelle: Poesie in der ursprünglichen griechischen Bedeutung des Wortes, also ein Schaffen, eine Kreativität.
Frisch hat die Berliner Tagebücher nicht vernichtet, wie er es teilweise mit anderen Aufzeichnungen tat. Er verfügte aber vor seinem Tod eine zwanzigjährige Sperrfrist für die Publikation. Er hatte dem Schrifsteller Uwe Johnson eine Kopie zur Aufbewahrung bei einem Notar überlassen und schrieb Ende 1980 in einem Brief:
„Ich möchte, dass die Kopie in Ihren persönlichen Besitz übergeht, lieber Uwe, unter der Bedingung, dass Sie dieses Journal niemand zeigen und, wenn Sie es als Einziger gelesen haben, mit niemand darüber sprechen.“
Frisch hatte gute Gründe für die Sperrfrist. Christa Wolf, Günter Grass und andere seiner Bekanntschaften der Berliner Jahre lebten noch, und die Tagebuch-Notizen waren starker Tobak. Der Schweizer Schriftsteller – deutschsprachig, aber eben nicht Deutscher – nimmt keine Rücksicht auf deutsche Befangenheiten auf der linken oder rechten Seite. Er wirft einen unbestechlichen und nüchternen Blick auf die Zustände im Ostberlin der siebziger Jahre. Es ist ein Blick unter die Oberfläche der Wörter, eine Röntgenaufnahme. Selten wurde das intellektuelle und ideologische Klima im real existierenden SED-Staat so luzide analysiert wie in diesem „Berliner Journal“ .
Max Frisch hat das Tagebuch als literarische Form – eine Mischung von Fiktion und Autobiographischem – zu seiner Ausdrucksform schlechthin entwickelt. Es stimmt also nicht, wenn er notiert, er schreibe nur für sich selbst. Und dennoch stimmt es. Die eine Hälfte der Wahrheit ist, dass er Literatur produziert und davon lebt, die andere Hälfte ist, dass er schreiben muss, weil er Zuflucht im Schreiben findet. Sein Schreiben ist ein Ritual, das die Funktion hat, eine Zeitinsel für Nachdenken und Besinnung zu schaffen.
Eine Zeitinsel für Besinnung
Dieses Ritual teilten Max Frisch und die grossen Diaristen der Weltliteratur mit Tausenden anderer Schreiberinnen und Schreiber, deren Aufzeichnungen nie jemand zu Gesicht bekommen wird, weil sie vor dem Tod vernichtet wurden. Wo das nicht der Fall ist, werden sie vielleicht auf einem verstaubten Dachboden entdeckt, wenn die Nachkommen die Wohnung der Verstorbenen räumen. Dort finden sich die vergilbten Briefe, die mit Schleifen zu kleinen Päckchen gebündelt wurden, die alten Fotos, die Tagebücher. Wer sie zur Hand nimmt, spürt mit leichtem Schauder die merkwürdige Gegenwart einer Vergangenheit, eine im Wunder der Schrift geronnene Zeit. All das wird irgendwann entsorgt, geht ins Feuer oder ins Altpapier.
„Ich liebe es, den fliegenden Tag nach seinem sinnlichen und andeutungsweise auch nach seinem geistigen Leben und Inhalt festzuhalten, weniger zur Erinnerung und zum Wiederlesen, als im Sinn der Rechenschaft, Rekapitulation, Bewussthaltung.“
Das schreibt Thomas Mann am 11. Februar 1934 in Küsnacht. Der Germanist Michael Maar zitiert ihn in seiner Studie über Tagebücher und stellt fest, diese seien im Grunde
„der lebenslange Versuch, die stetig rinnende und davonströmende Zeit durch kleine Dämme zu bremsen“.
Ein Versuch, der immer scheitern muss. Doch durchs Aufschreiben gewinne man die Illusion, wenn man der Zeit schon ausgeliefert sei, dann nicht ganz ohne Gegenwehr.
Erst in der sprachlichen Formulierung wird das Erlebte geordnet. In der „Niederschrift“ verfestigt sich zu einer greifbaren Substanz, was vorher ein diffuser Strudel von Zweifeln und Emotionen, Ängsten oder ekstatischen Glücksmomenten war. Was benannt ist, wird wirklicher als das wortlos Verflossene. Für manche wurde das Tagebuch in schwierigen Zeiten zum Sauerstoffgerät.
Zeugnisse einer Zeit
„Zog meinen neuen farbigen Seidenanzug an und meine neue Perücke. Was wohl für eine Mode in Perücken kommt, wenn die Pest vorüber ist? Jetzt wagt niemand, Haar zu kaufen, aus Angst, es könnte von einer Pestleiche stammen.“
Das liest man unter dem Datum vom 3. September 1665 im legendären Tagebuch des Samuel Pepys, er war Abgeordneter des britischen Parlaments und Leiter der Proviant-Abteilung der Königlichen Flotte zu London. Der Mann führte fast ein Jahrzehnt lang akribisch ein Tagebuch, welches erst im 19. Jahrhundert entdeckt und publiziert wurde. Es ist wohl eine der wertvollsten Fundgruben für alle, die etwas über das tägliche Leben und den Zeitgeist im England des 17. Jahrhunderts erfahren wollen.
Alltagsgeschichte, Grassroots-History oder wie auch immer die Etiketten heissen mögen, mit denen die historische Forschung solche Lebenszeugnisse einordnet, spannend wird die Lektüre stets dort, wo die grosse Weltpolitik in das kleine, private Leben eines Menschen einbricht. Bei dieser Kollision entstehen, in der Collage von Grossem und Kleinem, die typischen Sätze, die die Faszination von Tagebüchern ausmachen.
In den Aufzeichnungen des Samuel Pepys kommen die Pest oder der grosse Brand, der halb London vernichtet, gleich neben Feststellungen wie derjenigen, er habe sich eine grüne Brille gekauft oder er streite mit seiner Frau, weil diese ohne seine Genehmigung ein Halstuch und eine Nadel gekauft habe. Erstaunlicherweise sind es genau diese Stellen im Text, wo uns Lesenden der Eindruck von Wahrheit entsteht. Denn nichts scheint uns einleuchtender als die Feststellung, dass das wirkliche Leben ein Nebeneinander von katastrophalen Erschütterungen und kleinen Banalitäten ist.
Samuel Pepys notiert 1666, man mokiere sich am Hof zu London über die merkwürdigen Sitten in Madrid:
„Der König von Spanien pisst nur, wenn ein anderer ihm den Nachttopf hält.“
In der Respektlosigkeit vor der Monarchie kündigt sich das radikale Enlightenment des 18. Jahrhunderts an. Der Bettler, der sich für einen König hält, ist ein Trottel. Aber selbstverständlich ist auch der König, der sich für einen König hält, ein Trottel. Fast wie eine tröstliche Lebensphilosophie wirkt es auf uns, wenn wir in einem Tagebuch aus dem 19. Jahrhundert lesen, dass auch während der historischen Schlacht noch Pfannkuchen gebacken oder Socken geflickt werden in irgendeinem Bauernhaus bei Waterloo.
Aber Tagebücher sind nicht immer leichte Kost. Die Banalität des Bösen kann in wenigen Sätzen komprimiert hervortreten und uns einen Schlag versetzen wie wohl keine andere Form schriftlicher Zeugnisse:
„Mit Waltraud bin ich heute Abend in die Volksoper gegangen: es war eine schaurige Oper: 'Die vier Grobiane'. So ein Quatsch, ein richtig albernes Stück. Am Alex in der U-Bahn haben uns noch drei Soldaten angesprochen. Wir hatten kein Interesse mitzugehen. Es werden überall Juden abgeholt. Bei uns gegenüber der Schneider auch.“
Notiz im Tagebuch eines 15-jährigen Berliner Mädchens am 27. Februar 1943.
Wahrheit oder Fiktion? Die falsche Frage
Natürlich gibt es auch die Herzensergüsse von Pubertierenden, die Tagebücher voller Weltschmerz und Sehnsucht nach Schöngeistigem, voll von egozentrischen Grübeleien und Phantomschmerz. Da wird allenthalben gefunden, was gesucht wurde: eine Welt der Empfindsamkeit und der Seelenverwandtschaften.
Ein Tagebuch kann so zum Roman des eigenen Lebens werden. Aber möglicherweise ist dies mehr oder weniger bei jedem Tagebuch so. Ein Filter der Wahrnehmung, ein Bodensatz von Fiktion liegt jedem dieser Lebenszeugnisse zugrunde, und sicher ist dieser Sachverhalt nicht hinlänglich in den Kategorien Wahrheit oder Unwahrheit zu fassen.
Problematisch sind nämlich nicht nur die willentliche Selbstzensur oder die bewussten Aussparungen in diesen Selbstgesprächen, sondern auch die Erkenntnisfähigkeit des Schreibenden. Selbstverständlich erzählt er nicht „sein wirkliches Leben“ sondern das, was er als sein Leben wahrnehmen kann. Die Ethnologinnen und Ethnologen, die ihrer eigenen Disziplin misstrauen, haben ganze Bibliotheken gefüllt mit der Diskussion der Frage, wie weit ein Mensch in der Lage ist, sich selbst und seine eigene Kultur zu erkennen und zu beschreiben – geschweige denn die Begegnung mit einer fremden Zivilisation. Unvermeidlich wäre also eine Quellenkritik, die ins Feld der Sprachphilosophie und der Psychologie führt.
Ein ehrliches Tagebuch ist in letzter Konsequenz immer ein Sich-Ausliefern, ein psychischer Striptease. Nicht nur Exhibition der eigenen Stärke und Lebensfreude, sondern auch aller Ängste und Fehler bis hin zu kriminellen Phantasien oder tatsächlichen Missetaten. Bertolt Brecht ging auf dieser Strecke bis an den Rand des Erträglichen. Seine frühen Tagebücher (1920–1922) sind ein gnadenloses Sezieren seiner selbst und der anderen.
Gleichzeitig erscheint in diesen spröden Sätzen eine frühe Meisterschaft der poetischen Bildsprache, die einen bei der Lektüre schier umwirft:
„Man hat seine eigene Wäsche, man wäscht sie mitunter. Man hat nicht seine eigenen Wörter, und man wäscht sie nie. Im Anfang war nicht das Wort. Das Wort ist am Ende. Es ist die Leiche des Dinges.“ (7.Sept 1920)
Die Eroberung des Nutzlosen
Wenn es ein Dutzend Tagebücher gibt, die zur grossen Literatur des 20. Jahrhunderts zu rechnen sind, dann gehören dazu die Aufzeichnungen, die Werner Herzog ab Juni 1979 während der Dreharbeiten zu seinem Film „Fitzcarraldo“ im peruanischen Regenwald machte. Er hat sie 2009 unter dem Titel „Eroberung des Nutzlosen“ publiziert, dreissig Jahre nach den Ereignissen. Und er nimmt dabei keine Rücksicht auf noch lebende Beteiligte.
Die Idee, an Originalschauplätzen zu drehen und mit Hunderten von indianischen Statisten, Holzfällern und einer schwierigen Crew (Klaus Kinski u. a.) einen Amazonas-Dampfer von einem Flusslauf über einen Hügel in einen anderen Fluss zu ziehen, war ein Projekt, das damals von der gesamten Filmbranche als Wahnsinn bezeichnet wurde. Und eben diese wahnwitzige Besessenheit ist es, die in den Aufzeichnungen hervortritt und die Lektüre mitreissend macht.
Zwei Wochen am Rio Camisea. Bei der Rückkehr nach Iquitos fand ich das kleine Regal in meiner Hütte eingebacken in einen Termitenhügel; die paar Bücher, das Radio, Briefe und Tagebücher musste ich aus dem harten Material herauslösen und das letzte Tagebuch, das oben auflag, ist aufgefressen, bis auf den Umschlagkarton, der in Plastik steckt. Ein Satz steht dort, als einzig verbliebener: … brütet ein Gewitter. Über dem Urwald siedet ein Hass.” (4.8.1980)
Die Amazonasregion erweist sich als die wilde und unkontrollierbare Kehrseite westlicher Rationalität und Zivilisiertheit. Der Urwald, „den jede Unzucht freut“, ist ein Ort des Faulens, Vermoderns und Gebärens, dem die Filmcrew sich ausgeliefert sieht. Da ist der indianische Waldarbeiter, der von einer Giftschlange gebissen wird und sich im Wissen um die schnelle tödliche Wirkung mit seiner Motorsäge den Fuss amputiert. Die Angst vor dem Grauenhaften geht bei Herzog einher mit einer obsessiven Faszination für jene Wildnis, die keine Moral und keine zivilisatorischen Normen kennt, sondern nur das Naturgesetz des Fressens und Gefressenwerdens.
Die Faszination ist begreiflich, denn die Fahrt ins „Herz der Finsternis“ ist nichts anderes als eine Reise ans dunkle Ufer des eigenen Ich. Unter dem dünnen Lack der Zivilisiertheit kocht eine unterirdische Magmablase des Unkontrollierten und Unbewussten. Herzog notiert ähnliche Eindrücke, wie sie der Erzähler im berühmten Roman von Joseph Conrad beschreibt. Man darf annehmen, dass Herzog sich dieser Mythologisierung bewusst war und sie in seine Notizen einfliessen liess.
„Erst durch das Schreiben komme ich zu mir“, hält Herzog fest und sagt in diesem einen Satz alles, was über Tagebücher zu sagen ist. Die Niederschrift bringt Ordnung in unser inneres Chaos und bannt die Geister, die uns bedrängen. In diesem Sinn sind wir Höhlenmaler unserer Ängste und unserer Freuden. Und die Tagebücher wären demzufolge – wie die Höhlenmalereien – beständiger als das Leben.
Martin Walser geht noch einen Schritt weiter. In einem Interview sagte er 2016, Literatur sei für ihn Sinnstiftung in einer Welt, der es andauernd an Sinn fehle:
„Ich empfinde eine Aufgehobenheit im Sprachlichen. Verstehen Sie, Literatur ist nichts anderes als Religion.“
***
Max Frisch: Aus dem Berliner Journal. Berlin 2014.
Michael Maar: Heute kühl und bedeckt. München 2013.
Bertolt Brecht: Tagebücher 1929 -1922. Frankfurt 1975.
Werner Herzog: Eroberung des Nutzlosen. Frankfurt 2009.