Pascal Mercier – eine der wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – ist verstummt. Der Schriftsteller, der auch unter seinem bürgerlichen Namen Peter Bieri als Philosoph bekannt war, starb im Alter von 79 Jahren. Sein drittes Buch «Nachtzug nach Lissabon» machte ihn weltberühmt und wurde auch von Hollywood verfilmt. – Luzia Stettler erinnert sich an einen Besuch.
Ende Januar 2020 empfing mich Pascal Mercier in seiner Villa in Wannsee bei Berlin. Sein neuer Roman «Das Gewicht der Worte» war eben erst erschienen, und ich wollte den Autor für die Sendung «52 Beste Bücher» auf «SRF 2 Kultur» interviewen. Er erzählte spontan von seinen Jugendjahren am Berner Kirchenfeldgymnasium, wo er das Glück hatte, von sehr motivierten Lehrern unterrichtet zu werden. Latein, Hebräisch, Griechisch gehörten zum Stundenplan. Dort sei für ihn der Grundstein zu seiner Affinität zu Sprachen gelegt worden; er habe damals sogar eine Zeit lang Sanskrit gebüffelt.
Die Suche nach Authentizität
Sein Roman «Das Gewicht der Worte» dreht sich genau um diese zentrale Frage: Was macht eigentlich Literatur aus? Welche Bedeutung kommt den Worten zu? Und vor allem: Wie findet ein Autor seine authentische Stimme?
Dies sei das tägliche Brot des Schriftstellers, betonte Pascal Mercier: «Wer eine Erzählung beginnt, muss entscheiden, was für einen Tonfall, welchen Rhythmus, welche Sprache soll der Text haben». Man sei in dieser Kunst immer unsicher, ob das, was aufs Papier oder in den PC fliesst, auch wirklich aus einem selbst komme, also authentisch sei oder eben nur Zitat. «Und es gibt nichts, was ein Literat mehr fürchtet, als den eigenen Verdacht, unbewusst etwas zu kopieren.»
Wie kann er überprüfen, ob er mit seinem Text auf dem richtigen Weg ist? «Man liest die Passagen mit lauter Stimme, man schreibt sie von Hand, man legt den Text weg, man überprüft ihn nochmals eine Woche später – und irgendwann stellt sich das Gefühl ein, doch, das ist echt.» Es sei eine rein intuitive Sache: «Es gibt keine Kriterien, worin dieses Echtheitsgefühl besteht.»
Schreiben war für Pascal Mercier mehr als nur eine Leidenschaft: Es war sein Lebenselixier, das ihn gleichzeitig herausforderte und an eigene Grenzen führte: «Schreiben ist ein ständiger Kampf um das Eigene, das Echte in sich selber.» Er kenne keine andere Tätigkeit, bei der es darum geht, sich schonungslos kennenzulernen, «und ich weiss von keiner anderen Tätigkeit, die derart glücklich macht».
Die Angst, vernichtet zu werden
Peter Bieri fand erst spät zur Literatur; als sein allererster Roman «Perlmanns Schweigen» erschien, war er bereits anfang fünfzig und arbeitete als Philosophieprofessor an der Freien Universität Berlin. Und dieser Start als Romancier markierte einen Wendepunkt in seinem Leben: «Als ich merkte, dass ich diese Kunst beherrsche – egal ob gut oder weniger gut – zumindest wusste ich, worauf es ankommt – da spürte ich: Erst jetzt beginne ich der zu sein, der ich sein könnte.»
Er hatte seine Bestimmung also gefunden; gleichzeitig war sich Peter Bieri bewusst: Die Regeln im akademischen Betrieb sind gnadenlos. «Ich hatte Angst, das Milieu zu verlassen, denn die Sanktionen und Gepflogenheiten sind sehr strikt; und jeder Versuch, auszubrechen, ist riskant.» Er habe tatsächlich damit gerechnet, als Philosoph «vernichtet zu werden», sollte seine literarische Ambition publik werden.
Die Wahl eines Pseudonyms
Deshalb wählte Peter Bieri «aus reinem Selbstschutz» das Pseudonym Pascal Mercier. Drei Jahre lang gelang es ihm, seine Identität dahinter geheim zu halten; beim zweiten Roman «Der Klavierspieler» lüftete er dann freiwillig das Geheimnis seiner Doppelrolle, behielt aber das Pseudonym weiterhin für die Fiktion. Das befürchtete Gewitter an der Uni blieb aus. Und es gehörte fortan zu seinem Markenzeichen als Schriftsteller, dass er das Philosophische stets geschickt mit dem Literarischen verband.
Pascal Mercier war ein Zweifler, hinterfragte ständig, ob das, was er geschrieben hat, auch wirklich taugt. Selbst der internationale Durchbruch mit seinem Weltbestseller «Nachtzug nach Lissabon» änderte daran wenig. Es sei nicht automatisch so, dass ein Erfolg zu innerer Sicherheit führe, «beim nächsten Buch müssen Sie wieder ganz von vorne beginnen».
Vor diesem Hintergrund erstaunt es wenig, warum er in den vergangenen dreissig Jahren nur gerade vier Romane und eine Novelle geschrieben hat.
Schreiben als das ultimative Glück
Noch nie hatte ich einen Autor erlebt, der mit einer derartigen Leidenschaft und Ernsthaftigkeit vom Umgang mit Worten erzählte. «Verglichen mit den Stunden hier am Tisch, in denen ich eine Erzählung von Satz zu Satz weiterschreibe, eine Figur entwickle, eine Dialog mir ausdenke, verglichen mit dieser Erfahrung ist alles andere im Leben zweitrangig; nichts kann es mit dem Glück aufnehmen, das ich am Schreibtisch – oft in nächtlichen Stunden – empfinde.»
Der letzte Roman: sein Vermächtnis
Im Rückblick kann man seinen letzten Roman «Das Gewicht der Worte» auch als sein Vermächtnis lesen; hier hat er all seine Überlegungen und Einsichten zur Essenz von Literatur in einer packenden Geschichte gebündelt.
Der Protagonist, Simon Leyland, ist wie sein geistiger Vater Mercier ein Mensch, der dem Zauber von Worten nachspürt. Schon als Kind hatte er einen Traum: Er wollte die Sprachen aller Länder lernen, die ans Mittelmeer grenzen. Sein Ziel hat er nie ganz erreicht, obwohl er sich auch mit Maltesisch und Sardisch beschäftigte. Aber die Faszination für den tieferen Sinn von Worten hat Leyland später nie mehr losgelassen: Er wurde Übersetzer. Und wenn er an einer Stelle formuliert, was er ihnen verdankt, ist dahinter unweigerlich auch Pascal Mercier zu erkennen: «Stets sind es die Wörter, die mir helfen, den Bann der Zeitlichkeit zu brechen. Poesie verlangsamt die Zeit, hebt sie auf und befreit uns von ihr – sei es die Poesie der Worte in der Literatur oder die Poesie der Töne in der Musik.»