Wir alle kennen die hübschen Miniaturen, die aus den Kartonbogen mit Ritzen, Falzen, Schneiden und Kleben entstehen, Schlösser, Kirchen, Villen, Bauernhäuser. Der Anblick der im Kleinformat zur Idylle gewordenen Welt beeindruckt. Wer den dahinter steckenden Fleiss fingerfix bastelnder Kinder bewundert, liegt nur zur Hälfte richtig. Weil auch Erwachsene die Leidenschaft packt, die zweidimensionalen Modellbogen während Tagen und Nächten in dreidimensionale Pracht zu verwandeln. Als Bastler möchten sie nicht bezeichnet werden, sondern gewürdigt als Konstrukteure und Bewahrer eines kulturellen Erbes.
Vom Denkmalschutz zum Denkmalschutz
Zum Beispiel der in Winterthur lebende Dieter Nievergelt, der als diplomierter ETH-Architekt und ehemaliger Denkmalpfleger der Stadt Zürich privat 10'000 Modellbaubogen aus allen Epochen sammelte und selber über 300 Objekte fertigte, darunter den extrem kniffligen Brüsseler Marktplatz aus schier 1’000 Einzelteilen samt 116 winzigen Aufbauten auf dem Rathausdach.
Der Architekt, der einst denkmalgeschützten Häusern bei Umbauten oder drohenden Abbrüchen zum Recht auf Wertbewahrung verhalf, erforscht auch die Geschichte der Modellbaubogen, die auf ihre Weise dem Denkmalgeschützten die Reverenz erweisen. Er publiziert mit Akribie recherchierte Fachbücher und gehörte vor bald zwanzig Jahren zu den Gründern des „Arbeitskreises Geschichte des Kartonmodellbaus (AFG) e. V.‟ mit Sitz in Esslingen am Neckar. Eine Kapazität.
Internet avant la lettre
Die ersten bekannten Modellbaubogen stammen aus dem frühen 16. Jahrhundert. Es sind das Sonnenuhr-Kruzifix des Nürnberger Mathematikers Georg Hartmann und die Planspiele von Reinhard Graf zu Solms für die kampftaktische Offiziersausbildung.
Beide Modellbaubogen nehmen die moderne Kommunikation vorweg. Was in ihren Genen schlummert, vollendet sich 200 Jahre später in der Fotografie, nach 300 Jahren im Fernsehen und in der computergesteuerten Konstruktion, nach 350 im Internet. Nämlich die Möglichkeit, einerseits entlegenste Objekte und fernste Ereignisse jederzeit und immer wieder vor die eigenen Augen zu holen und anderseits Ideen aus dem Kopf blitzschnell in konkrete Darstellungen zu transformieren. Das uns technisch alltäglich Gewordene avant la lettre.
Zeitgeschichtliche Dokumente
Die Modellbaubogen entstanden in einer Zeit, als das Reisen beschwerlich und nur für wenige erschwinglich war, die Nachrichtenübermittlung der Aktualität um Wochen hinterherhinkte, der Buchdruck sich erst allmählich entwickelte. Aber an Neugier fehlte es nicht. Die Geschichte der Bogen ist eine Zeitgeschichte. Ihre Sujets verraten, wofür sich die Menschen, auch einfache, kaum Bücher lesende, in den verschiedenen Epochen interessierten. Die Verleger der Modellbaubogen, gewiefte Kaufleute, druckten, was massentauglich war.
Freude an fiktiven Reisen
Modellbaubogen erlauben es, Kostbares als Souvenir zu einem erschwinglichem Preis zu besitzen und mit einer räumlichen Darstellung die Imagination zu stärken. Diese Faktoren brachten die Modellbaubogen im 19. Jahrhundert in Europa, ebenfalls in der Schweiz, in Nordamerika und Australien zur kommerziellen Blüte. Drucktechnisch vom Holzschnitt über den Kupferstich zur Lithographie und deshalb in der Originaltreue stets verbessert, deckten sie das Verlangen nach fiktiven Reisen zu den Wahrzeichen rund um den Globus. Sie kamen mit der Pferdepost nach Hause.
Grosse Ereignisse wie die Einweihung des Eiffelturms oder die Enthüllung der Freiheitsstatue, an Schönheit überragende Bauten wie die Palazzi in Venedig, der Taj Mahal in Indien, Rathäuser, die dem Bürgerstolz schmeichelten, oder Ehrfurcht gebietende Kathedralen, architektonisch Skurriles wie Schloss Neuschwanstein, aber auch Malerisches wie Dörfer oder technisch Erstaunliches wie Ozeanriesen fanden den Gefallen einer wachsenden Käuferschaft. Sie bearbeitete die Modellbogen, setzte sich mit den Sehenswürdigkeiten auseinander, verinnerlichte diese und ergötzte sich an den Bauten. Mit Do-it-yourself zum Wohlgefühl.
Ganz im Sinne Pestalozzis
Auch die Pädagogik entdeckte die Modellbaubogen, Pestalozzis Prinzip folgend, es seien beim Lernen Kopf, Herz und Hand anzusprechen. Die Kinder übten Geduld, Genauigkeit und Geschicklichkeit, wurden mit der Geometrie vertraut, stärkten das räumliche Vorstellungsvermögen und befassten sich mit den historischen, architektonischen und technischen Eigenheiten der aus dem flachen Karton zur Plastizität gebrachten Objekte.
Ein erzieherischer Fortschritt. Sofern es sich um Kinder aus gehobenen Kreisen handelte, die sich ihre Freizeit vertreiben wollten und das Ergebnis als Trophäen ihres Talentes auf dem Kaminsims und den Bücherregalen platzierten. Den armen Kindern waren die fabelhaften Unterrichtsbehelfe eine fabelhafte Gelegenheit, für ein bescheidenes Zubrot in den Druckereien die Bogen von Hand zu kolorieren.
Auch diese Zweiklassen-Pädagogik ist ein Aspekt der Modellbaubogen-Geschichte. Die Privilegierten hätten sich ohne die von den malenden Kindern geschaffenen Voraussetzungen weder glücklich bilden noch fröhlich unterhalten können. Allerdings winkte allen Kindern mehr oder weniger die Chance, beim Einkauf des täglichen Bedarfs einen Modellbaubogen als Produktewerbung zu gewinnen.
Von der Aktualität zur Nostalgie
Nicht trotz, sondern wegen des Internets lebt die Nachfrage nach den Bogen auf. Hunderte von Sujets können, teils kostenlos, heruntergeladen werden. Der Weg von der digitalen Bezugs-Bequemlichkeit zur analogen Konstruktions-Mühsal wird emsig begangen. Doch das Angebot ist tief in der analogen Vergangenheit verankert. Alte Burgen, verträumte Dörfer oder friedliche Bauernhöfe bedienen bis zur Verkitschung die Liebe zur vermeintlich guten alten Zeit. Ariane-Raketen, Rennautos und S-Bahnen zählen zu den wenigen Modellen aus der Gegenwart.
Das war ursprünglich anders. Der Wissensdurst galt bestaunenswerten Neubauten. Die Faszination der Bogen war deren Aktualität. Heute ist es nostalgisch die ideale Welt – wenn nicht real, dann wenigstens aus Halbkarton. Die Modellbaubogen mit ihrer gesellschaftlich, architektonisch, technisch und pädagogisch so spannenden Geschichte erfüllen die Träume der jeweiligen Zeit.
Weiterführend:
Dieter Nievergelt (Hrsg.): Von der zweiten in die dritte Dimension – 500 Jahre bauen mit Karton. Aue-Verlag GmbH, Möckmühl, 2015.