Als Papst Franziskus für 2016 ein „Heiliges Jahr der Barmherzigkeit“ ausrief, konnte man noch nicht ahnen, was er damit alles im Sinn hatte. Nun weiss man es: Er lässt Bräuche katholischer Volksfrömmigkeit wieder aufleben, die aufgeklärte Katholiken für längst überholt hielten. Das eine ist die Verkündigung eines vollkommenen Ablasses, das andere eine Reliquienverehrung, wie sie auch Rom schon lange nicht mehr erlebt hat.
Volle sechs Tage, von Freitag vorletzter bis Donnerstag vergangener Woche, waren die sterblichen Überreste des angeblich stigmatisierten italienischen Volksheiligen Padre Pio im Petersdom ausgestellt: ein Leichnam, aufgebahrt wie Schneewittchen in einem gläsernen Sarg zur Erbauung der Gläubigen. Zu Zehntausenden strömten sie herbei, darunter vermutlich nicht wenige, die sich von der Berührung der Reliquie ein Wunder erhofften. 33 Millionen Besucher insgesamt werden in Rom bis Ende des Heiligen Jahres erwartet: Touristen, aber auch unzählige echte Gläubige, die überzeugt sind, mit dem Durchschreiten der Heiligen Pforte und dem Empfang des Sakraments in einer der vom Papst bestimmten Kirchen den erwähnten Ablass ihrer Sünden zu erlangen.
Luther würde sich im Grabe umdrehen, wenn er sehen könnte, wie wieder auflebt, was ihm einst Anlass seiner reformerischen Bemühungen gewesen war: der Ablasshandel und der Reliquienkult. Gewiss, Reliquien werden nicht mehr gehandelt und Ablasszettel nicht mehr verkauft, ein Geschäft für Rom und den Vatikan ist das Heilige Jahr allemal – und ein Rückschritt in vorreformatorische Zeiten ebenfalls.