Spitzentreffen, Krisengipfel, Scheidungstermin – die Schlagzeilenmacher in den deutschen Redaktionen legten ihren Phantasien wirklich keine Zügel an bei den Vorberichten zu der Zusammenkunft der Parteioberen der Polit-„Schwestern“ CDU und CSU im Berliner Konrad-Adenauer-Haus.
Zornig knurrende Tiger
Tatsächlich marschierten (ausweislich der TV-Bilder und bildlich gesprochen) scheinbar zornig knurrende Tiger in die christdemokratische Zentrale an der Spree. Und was kam nach einigen Stunden wieder heraus? Sanft schnurrende Kätzchen, deren Körpersprache bereits von Friede, Freundschaft und Einigkeit kündete!
Genug der Symbolik. Was die CDU-Chefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer mitsamt ihrem jeweiligen Gefolge bei diesem Treffen hingekriegt haben, war erstens dringend notwendig und wäre, zweitens, bei einigermassen gutem Willen vorher völlig überflüssig gewesen. Man muss sich das einfach nur noch einmal in Erinnerung rufen. Da steht eine wichtige Bundestagswahl mit einem für die Bürger erklärtermassen zentralen Thema (Flüchtlinge) vor der Tür, und die Unionsschwestern (immerhin führende Regierungskräfte) sagen dem Wahlvolk nicht etwa, wie sie das Problem zu lösen gedenken, sondern teilen ihm mit, dass sie in diesem Punkt leider uneins seien.
Überflüssiger Streit um ein Wort
Im Märchen geht der Streit um des Kaisers Bart. In der deutschen Politik hingegen verzankte man sich viele Monate lang um ein Wort: Obergrenze. Genauer: um ein Limit bei der künftigen Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden aus den diversen Kriegs- und Hungergebieten der Welt. Dies geschah, nachdem der ungebremste und nicht kontrollierte Zustrom im Herbst 2015 einerseits zu grandiosen Hilfeleistungen geführt hatte, zum anderen aber auch zu mitunter chaotischen Zuständen.
Das mag verstehen, wer will. Aber die von Beginn an von Horst Seehofer und seiner Partei genannte Höchstzahl von allenfalls 200’000 Menschen pro Jahr ist (allerdings nur wegen der Grenzzäune auf dem Balkan und in Ungarn) längst erreicht. Auch die Notwendigkeit einer solchen „Deckelung“ ist – abgesehen von der „Linken“ – inzwischen bei allen Parlamentsparteien unumstritten. Selbst bei der Mehrheit der „Grünen“. Trotzdem tobte der Deutungskrieg um eine „Obergrenze“ unvermindert weiter und drohte sogar die Union zu spalten. Absurd.
Zusammenraufen
Und nun? Seit der Bundestagswahl mit ihren bemerkenswerten Ergebnissen sind inzwischen mehr als zwei Wochen vergangen. Die Sozialdemokraten, katastrophal gebeutelt, haben sich festgelegt: Nicht noch einmal eine Koalition mit der CDU/CSU! Also haben die Wähler – weil die „Linken“ als Erben der einstigen DDR-Einheitspartei SED und die rechtsnationale „Alternative für Deutschland“ (AfD) als Partner ausgeschlossen werden – den beiden Unionsparteien, den Liberalen und den Grünen den Auftrag erteilt, sich zu einer gemeinsamen Regierung zusammenzuraufen. Punkt. Ende.
Das wissen sie auch. Zumindest sagen sie es: „Jedem muss klar sein, es geht jetzt nicht mehr in erster Linie um die Befindlichkeit unserer Partei, sondern um die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland.“ Originalton Cem Özdemir von den Grünen. Und aus den anderen Lagern tönt es genauso.
Dann fangt doch endlich an!
Nach der Beendigung des politischen Geschwisterkrieges im Hause Merkel/Seehofer mag den Beteiligten noch eine kurze Wartezeit von wenigen Tagen eingeräumt werden – bis zur vorgezogenen Neuwahl des niedersächsischen Landtags am kommenden Sonntag. Denn natürlich ist auch dieser regionale Urnengang noch einmal ein Test der öffentlichen Befindlichkeit. Danach aber gilt für die Verhandler nur noch die Order: „Schluss mit den Polit-Kaspereien! Jetzt fangt endlich an!“ Schliesslich wird die Sache nicht dadurch einfacher, dass von allen Beteiligten immer wieder betont wird, dass – und warum – es schwierig werde, sich irgendwann einmal zumindest auf den berühmten kleinsten Nenner zu einigen.
Das weiss ohnehin jeder auch nur einigermassen politisch interessierte Zeitgenosse. Die Klüfte etwa zwischen CSU und Grünen (für die Freien Demokraten gilt das nicht minder) sind nicht dadurch kleiner geworden, dass die Wähler mit ihrem Votum eine unangenehme Situation geschaffen haben. Wahrscheinlich liegt eine Ursache für das Zaudern auf allen Seiten auch in dem Wissen, dass jeder Beteiligte (ob konservativ, liberal oder Öko-verpflichtet) am Ende der Verhandlungen und als Regierungs-Verantwortlicher beträchtliche Abstriche an seinem traditionellen Glaubensbekenntnis gemacht haben wird.
Änderung des Parteiengefüges
Und das führt zwangsläufig zu der Erkenntnis, dass – sollte es in Deutschland tatsächlich zu der politischen Farbenkombination kommen, die mittlerweile als „Jamaika“ beschrieben wird – sich das Parteiengefüge zwischen Konstanz und Flensburg, Aachen und Görlitz erheblich verändern wird. Vielleicht sogar dramatisch. Auch mit entsprechenden Auswirkungen auf die Wahlbevölkerung. Was wird, etwa, in Zukunft „konservativ“ bedeuten, wenn die Union wegen des von den Grünen unnachsichtig eingeforderten Klimaschutzes deutliche Abstriche bei ihren traditionellen wirtschaftspolitischen Überzeugungen machen muss? Wie viele ihrer Barrieren gegen weitere Überwachungsmassnahmen wird die FDP beiseite räumen müssen, weil die Gefährdung der inneren Sicherheit das möglicherweise unumgänglich macht? Und natürlich werden die harten Realitäten des Tagesgeschäfts manche bisher sorgsam gehütete Utopie der einstigen Sonnenblumenfreunde verblasen.
Die kommenden vier Jahre werden, ohne jeden Zweifel, spannend werden. Nicht nur, aber eben auch, in Deutschland. Ist den Bürgern die gewohnte (und, keine Frage, insgesamt erfolgreiche) Parteiendemokratie auch noch in Zukunft vermittelbar? Ist der Sinkflug der bisherigen „Volksparteien“ nur ein vorübergehendes Phänomen, oder atomisiert sich die Gesellschaft immer mehr in von singulären Interessen gesteuerte Grüppchen? Wie weit sind Politik und Öffentlichkeit auf die allseits beschworenen Herausforderungen der Digitalisierung vorbereitet? Wird der spätestens am Ende dieser Wahlperiode unvermeidliche personelle Wechsel an der Staatsspitze und an den Parteiführungen klug vorbereitet und reibungslos vollzogen?
Bündelung der Kräfte
Die Aufzählung der sich aufdrängenden Fragen, Probleme und Herausforderungen lässt sich mühelos fortsetzen: Mit welcher Sozialpolitik kann sichergestellt werden, dass – angesichts der umgekehrten Alterspyramide – auch nachfolgende Generationen keine Angst vor dem Alter haben müssen? Wie werden vor allem die friedensbewegten Grünen mit der, nicht zu leugnenden, Tatsache fertig, dass von Deutschland eine sehr viel stärkere aussenpolitische Beteiligung verlangt wird. Nazi-Vergangenheit hin oder her.
Mit welchen Massnahmen glaubt man, das wirtschaftliche Niveau in einer Zeit unverändert hoch halten zu können, in der (mit China an der Spitze) mächtige Konkurrenten auf die Märkte drängen? Kurz: All das sollte bei den bevorstehenden Koalitionsverhandlungen Grund genug sein, auf sinnloses Herumzicken zu verzichten und stattdessen die Kräfte und Talente zu bündeln. Wenn das gelingt, bleibt am Ende für alle ganz gewiss genügend Stoff für die jeweilige parteiliche Profilierung übrig.