Frankreich stimmt heute in einem zweiten und entscheidenden Wahlgang über die endgültige Zusammensetzung seiner Nationalversammlung ab. Ein historischer Urnengang, der von einer Frage beherrscht wird: Wie hoch fällt die Mehrheit für das rechtsextreme «Rassemblement National» (RN) von Marine Le Pen am Ende aus? Ja reicht es vielleicht sogar für eine absolute Mehrheit?
Es knistert gewaltig im Land nach Ende dieses extrem kurzen und eigentlich unsäglichen Wahlkampfs, den Präsident Macron mit seiner Entscheidung vom 9. Juni, das Parlament aufzulösen, den Parteien und vor allem der ohnehin weitgehend verunsicherten und höchst pessimistischen französischen Bevölkerung eingebrockt hat.
Der enorme Erfolg der extremen Rechten im ersten Durchgang der Parlamentswahlen sorgt seit einer Woche für zusätzliche Anspannung und Ängste in der Gesellschaft, ja hat reihenweise Schleusen geöffnet und ohnehin brüchige Dämme brechen lassen.
Vorfälle
Die Zahl rassistischer Vorfälle quer durch das Land ist in den letzten Tagen geradezu explodiert und selbst beim Kleben von Wahlplakaten wird bereits geprügelt, selbst die Regierungssprecherin hat es erwischt, das Innenministerium zählte über 50 solcher Gewaltakte.
Auch wenn die extreme Rechte noch nicht wirklich an der Macht ist und trotz ihres enormen Stimmenzuwachses auch nicht den Premierminister stellen wird – ihre Anhänger und Wähler zeigen ganz offensichtlich schon einmal, aus welchem Holz sie geschnitzt sind.
Nebenbei machen diese Art von Anhängern zwar die jahrelangen Bemühungen von Marine Le Pen zunichte, die alles tat, um ihre Partei auf Hochglanz zu polieren und sie hoffähig zu machen und dafür zu sorgen, dass das «Rassemblement National» als eine Partei wie alle anderen auch daherkommen kann.
Doch was soll’s? Schliesslich wird man einen Wahlsieg ja wohl noch feiern dürfen und sei es auf eine etwas ruppige Art und Weise.
Kratzt man am Lack …
Und überhaupt ist das mit der Hoffähigkeit des «Rassemblement National» so eine Sache. Kratzt man, wie dieser Tage, ein wenig an der Oberfläche dieser Partei, so wird es ganz schnell eher unappetitlich.
Im Lauf der vergangenen Wochen hat man unter den 577 Kandidatinnen und Kandidaten der extremen Rechten mindestens 50 ausfindig gemacht, die in der Vergangenheit mit rassistischen, frauenfeindlichen, homophoben und auch antisemitischen Aussagen von sich reden gemacht haben. Da gab es sogar Kandidaten, die sich mit einer SS-Schirmmütze auf dem Kopf fotografieren liessen.
Man schreibe es sich hinter die Ohren: Der 1972 von Vater Le Pen, sowie von ehemaligen SS-Mitgliedern und Nostalgikern des Vichy-Regimes und eines französischen Algeriers gegründete «Front National» hat unter Tochter Marine Le Pen zwar die Fassade, das heisst seinen Namen geändert und tritt nun als «Rassemblement», als «Sammlungsbewegung» auf, was weniger martialisch und reichlich einnehmender klingt – im tiefen Inneren des Hauses Le Pen hat sich grundsätzlich kaum etwas geändert.
Der tumbe, nationalistische und zutiefst ausländerfeindliche Charakter und Bodensatz dieser Partei – die nach mehreren Urteilen des obersten französischen Verwaltungsgerichts sehr wohl als «rechtsextrem» zu bezeichnen ist – taucht sofort wieder auf, wenn der Lack auch nur ein wenig abblättert.
Daran ändert auch nichts, dass ihre bislang 81, zumeist männlichen, Abgeordneten der Nationalversammlung eine strikte Kleiderordnung befolgen und grundsätzlich nur im dunklen Anzug und mit Krawatte auf ihren Abgeordnetensitzen Platz nehmen. Und der 28-jährige Jordan Bardella, aalglatter Ziehsohn von Marine Le Pen, Shooting-Star der Partei und zeitweise gar als möglicher, künftiger Premierminister gehandelt, er setzt dem Ganzen sogar noch eins drauf und hat sich seit einigen Wochen den Dreiteiler, den Anzug mit Weste verordnet – das macht einen etwas älter und man ist, bitteschön, seriös.
Die komplizierte Stichwahl
Um zu verhindern, dass diese ach so seriöse und geläuterte Partei heute Abend über eine absolute Mehrheit von 289 Sitzen in der Nationalversammlung verfügen könnte, haben das Linksbündnis aus vier Parteien (Le Nouveau Front Populaire) auf der einen und die Partei von Macron (Ensemble) auf der anderen Seite getan, was zu tun war.
Zwischen den beiden Wahlgängen haben sie letztlich in 70% der 306 Wahlkreise, in denen heute drei Kandidaten hätten antreten können, den jeweils Drittplatzierten von ihnen zurückgezogen und die Wahlempfehlung abgegeben, für den jeweils anderen, verbleibenden Anti-Le Pen-Kandidaten zu stimmen.
Sie haben damit zumindest so etwas wie den Grundstein dafür gelegt, dass es heute Abend – wie sich jüngst ein Bekannter ausdrückte – im Land der Aufklärung nicht dunkel wird. Auf Französisch: «Tout faire pour qu’il ne fasse pas noir au pays des Lumières.»
Nun müssen nur noch die Wähler auch wirklich mitspielen – und das ist alles andere als hundertprozentig sicher und bereitete den Le-Pen-Gegnern bis zuletzt heftige Kopfschmerzen. Einen gestandenen, wertkonservativen Wähler der Rechten davon zu überzeugen, dass er in seinem Wahlkreis heute auch wirklich für einen Kandidaten der Linken stimmt, um den Kandidaten der extremen Rechten zu verhindern, war in dieser kurzen Woche alles andere als einfach. Nicht unwahrscheinlich, dass so mancher dieser Wähler sich nicht überwinden kann und zu Hause bleibt.
Dasselbe gilt natürlich, in noch weit stärkerem Ausmass, auch andersherum. Die linken Wähler, die plötzlich gehalten sind, heute für einen konservativen Kandidaten der Rechten oder des Macron-Lagers zu stimmen, haben es nicht leichter, auch wenn man sagen könnte, sie sind das schon gewohnt.
Denn schon bei den Präsidentschaftswahlen 2002 haben Millionen linker Wähler in der Stichwahl massiv für Jacques Chirac und gegen Jean-Marie Le Pen gestimmt.
Bei den Präsidentschaftswahlen 2017 und 2022 wiederholte sich das Ganze zu Gunsten von Macron, nur dass inzwischen Tochter Marine Le Pen in der Stichwahl auf respektive 33 und 42% kam – weit mehr als die 18%, die Vater Le Pen 2002 erzielt hatte.
Auch hier ist nicht auszuschliessen, dass eine Reihe von linken Wählern genug davon hat, in den entscheidenden Momenten ständig gegen jemanden und fast nie für jemanden stimmen zu müssen.
Dies ist eine der perversen und für den Wähler wahrlich frustrierenden Seiten des französischen Mehrheitswahlsystems mit seinen zwei Durchgängen, das immer wieder gescholten wird, an dessen Reform sich aber seit 20 Jahren niemand gewagt hat.
Absolute Mehrheit?
Und doch müssen die linken und die rechten Wähler es heute noch einmal tun, und sei es mit geschlossenen Augen und zugehaltener Nase und ein Bulletin gegen das «Rassemblement National» in die Urnen werfen, damit zumindest das Schlimmste verhindert wird und die extreme Rechte so wenig Sitze wie möglich in der künftigen Nationalversammlung bekommt.
Glaubt man den Meinungsumfragen – die man allerdings kaum zu zitieren wagt, so gross sind die Unterschiede und die Spannbreiten –, so dürfte eine absolute Mehrheit der extremen Rechten von 289 Sitzen nicht zustande kommen.
Die eine Umfrage sagt dem «Rassemblement National» zwischen 210 und 250 Sitzen voraus. Eine andere nur 175 bis 210.
Mit anderen Worten: Auch die Meinungsforscher sind sich höchst unsicher, wie viele Wähler vom einen Ufer heute letztlich wirklich bereit sind, für eine Kandidatin oder einen Kandidaten des anderen Ufers zu stimmen.
Vielleicht lassen sich dabei ja die eine oder der andere den schönen und immer noch zutreffenden Satz von Albert Camus durch den Kopf gehen: «Wenn die Demokratie krank ist, kommt der Faschismus an ihr Krankenbett, jedoch nicht, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.»
Es ist nicht der Faschismus, der vor der Tür steht und sich anschickt, ans Krankenbett der angeschlagenen und verstaubten französischen Demokratie zu eilen. Aber allemal eine illiberale Demokratie nach Vorbild eines Viktor Orbán, deren erste Opfer, darüber besteht kein Zweifel, eine freie Presse und eine unabhängige Justiz sein würden, von den im Land lebenden Ausländern ganz zu schweigen.
Praktische Anleitung zum besseren Verständnis
Die landesweiten Prozentzahlen für die einzelnen Parteien werden heute Abend nach 20 Uhr unwichtig sein.
Denn gewählt wird nur noch in 501 von 577 Wahlkreisen, in den restlichen 76 haben die Kandidatinnen und Kandidaten schon im 1. Durchgang mehr als 50% erzielt und sind damit gewählt – darunter 39 vom Rassemblement National und 31 seitens des Linksbündnisses «Nouveau Front Populaire».
In über 300 Wahlkreisen hätten sich heute jeweils drei Kandidaten präsentieren können. Wer im ersten Wahlgang mehr als 12,5% der Zahl der eingeschriebenen Wähler erreicht, darf auch im 2. Durchgang antreten.
Letztlich ist das heute aber nur noch in 89 Wahlkreisen der Fall, 224 Vertreter der Linken und des Macron-Lagers und nur 3 unter den Konservativen, die allesamt als 3. in ihrem jeweiligen Wahlkreis rangierten, haben sich zurückgezogen, damit der verbleibende Kandidat der klassischen Rechten, des Macron-Lagers oder der Linken mehr Chancen hat, sich gegen den Kandidaten des Rassemblement National durchzusetzen.
Die eigentliche Machtdemonstration der extremen Rechten hat bereits letzten Sonntag im 1. Wahlgang stattgefunden. Landesweit erzielte sie bei hoher Wahlbeteiligung von 67% ( 20% mehr als vor zwei Jahren ) mehr als 33% – in realen Zahlen ausgedrückt: 10,5 Millionen Stimmen, zählt man die 1 Million für die Verbündeten des Rassemblement National hinzu.
Noch nie in der Geschichte des Landes – mit Ausnahme bei den Stichwahlen um das Amt des Präsidenten 2017 und 2022 – konnte die extreme Rechte in Frankreich so viele Stimmen auf sich vereinen.
Noch bei den Parlamentswahlen 2017 waren es nur knapp 3. Millionen gewesen, bei den Parlamentswahlen 2022 dann 4,2 Millionen. Diesmal vereinte der RN am letzten Sonntag alleine 9,5 Millionen Stimmen auf sich, satte 5 Millionen mehr als vor nur 2 Jahren.
Diesen Erfolg gedenkt der «Rassemblement National» heute Abend in eine möglichst hohe Zahl an Sitzen in der Nationalversammlung umzumünzen.
Die Mehrheit liegt bei 289 Sitzen.