Dies bekam jetzt der deutsche Aussenminister Sigmar Gabriel zu spüren. Davon können aber auch Regierungskritiker im Land selbst ein Lied singen. Israel ist beileibe nicht das einzige Land, das nach diesem Muster tickt. Man kennt es aus Russland, wo regimekritische Gruppierungen kollektiv unter dem Verdacht des Volksverrats stehen. Und man kennt es auch aus Ungarn, wo als Staatsfeind gilt, wer Orbáns Politik nicht vorbehaltlos zustimmt. Zu fragen bleibt, warum das so ist.
Es ist relativ einfach, dahinter politisches Kalkül und undemokratische Gesinnung auszumachen. Aber reicht es aus, um zu erklären, warum manche Länder auf Kritik mit solch reflexartiger Abwehr reagieren? Gerade der Fall Netanyahus zeigt meines Erachtens, dass da noch ganz andere, meist uneingestandene oder auch unbewusste Beweggründe mit im Spiel sind. Ich meine jene tiefsitzenden Ängste, die als Folge der traumatischen Erfahrungen des Holocaust in der israelischen Gesellschaft nach wie vor virulent sind.
Physische wie psychische Traumata setzen ihr zerstörerisches Werk fort, wenn sie verdrängt oder mit einem Schweigegebot belegt werden. Das war in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Fall, wo auf politischer Ebene zwar viel in die sogenannte Vergangenheitsbewältigung investiert wurde, im privaten Bereich eine Auseinandersetzung mit Scham- und Schuldgefühlen jedoch vielfach ausblieb. Das war aber auch in Israel der Fall, wo die Traumata der Verfolgten bis zum Beginn des Eichmann-Prozesses 1961 in der öffentlichen Debatte kaum thematisiert wurden. Und nicht viel anders verhält es sich in Russland, wo das Leid des Volkes von der Zarenherrschaft bis hin zum Terrorregime Stalins noch immer weitgehend tabuisiert ist.
Die Folge solcher Verdrängungsstrategien sind wiederkehrende Ängste, die das Denken der Menschen beherrschen und sie irrational und selbstzerstörerisch auf vermeintliche Angriffe reagieren lassen. Nein, sie entschuldigen weder Putins Hatz auf Andersdenkende noch Netanyahus Misstrauen gegenüber regierungskritischen Organisationen. Und sie entschuldigen schon gar nicht den Affront gegen den Aussenminister jenes Landes, das auf Grund seiner Geschichte Israel mehr als jedes andere in unverbrüchlicher Treue zur Seite steht. Aber sie können vielleicht ein Stück weit verständlich machen, warum viele der sonst so debattierfreudigen Israelis die Fassung verlieren, wenn sie sich der Kritik am eigenen Verhalten ausgesetzt sehen.
So viel an Verständnis für die Folgen traumatischer Erfahrungen sollten Aussenstehende, zumal im Land der einstigen Täter, schon aufzubringen bereit sein.