Die Ergebnisse des 2. Durchgangs der französischen Parlamentswahlen sind für den wiedergewählten Präsidenten ein Desaster und für Frankreich der Beginn einer Periode der Ungewissheiten.
Man kann dieses Wahlergebnis drehen und wenden, wie man will, eines ist sicher: Emmanuel Macron ist gestern abgestraft worden. Und zwar gewaltig. Jupiter hat ausgespielt.
Nach den Parlamentswahlen vor fünf Jahren besetzten die Abgeordneten von Macrons damals gerade erst gegründeten Partei «La République en Marche» alleine 314 von 577 Abgeordnetensitzen.
Bestätigen und dann abwatschen
An diesem 20. Juni 2022 bleiben davon gerade noch 160, also fast nur noch die Hälfte. Mit seinen Partnern der Zentrumspartei «Modem» und der Bewegung «Horizons» des ehemaligen Premierministers, Edouard Philippe, kommt das Macronlager gerade mal auf 246 Sitze. Unerwartet weit entfernt von der nötigen Mehrheit, die in der Pariser Nationalversammlung bei 289 Sitzen liegt.
Noch nie seit 2002, als die Amtszeit des französischen Präsidenten von sieben auf fünf Jahre reduziert wurde und die Parlamentswahlen den Präsidentschaftswahlen folgen, hatten Frankreichs Wähler, von denen gestern nur 46% an die Urnen gegangen sind, dem frisch gewählten Staatsoberhaupt eine parlamentarische Mehrheit verweigert.
Gewiss, das Wahlverhalten der Franzosen hat auf den ersten Blick etwas Schizophrenes. Erst wählt man einen Präsidenten für weitere fünf Jahre und wenige Wochen später watscht man ihn ab. Und wie!
In gewisser Weise jedoch unterstreicht dies nur, was man nach Macrons Wahlsieg am 24. April feststellen konnte: Die Franzosen hatten in dieser Stichwahl mehrheitlich nicht für ihn gestimmt, sondern gegen Marine Le Pen.
Regimekrise?
Die Lage ist jedenfalls gründlich verfahren und es gab am gestrigen Wahlabend in den Fernseh- und Radiostudios tatsächlich altgediente Kommentatoren, die angesichts der Wahlergebnisse und der damit verbundenen Perspektiven für die kommenden Monate von einer «Regimekrise» sprachen.
Und im Laufe des Wahlabends mehrten sich auch die Stimmen aus der Politik, die die Verfassung der 5. Republik und das Wahlsystem in Frage stellten. Der Bürgermeister von Marseille etwa, ein ehemaliger Sozialist, sprach davon, man müsse dringend «eine neue Republik erfinden».
Und in der Tat scheint etwas in diesem französischen System der 5. Republik nicht mehr zu funktionieren .
Da wird erst ein Präsident mit 58% der Stimmen wiedergewählt, doch sieben Wochen später müssen er und seine Regierung nun schauen, wie sie künftig von Fall zu Fall eine Mehrheit in der Nationalversammlung für ihre Gesetzesvorhaben finden können.
Und finden können sie sie eigentlich nur bei der bürgerlich- konservativen Rechten, den Abgeordneten von «Les Republicains», deren Zahl von bisher 100 auf knapp 70 geschrumpft ist. Doch unter denen gibt es mittlerweile eine ganze Reihe, die sich eher mit dem rechtsextremen «Rassemblement National» zusammentun würden als mit dem Lager von Präsident Macron.
Mit anderen Worten: Die Suche nach einer parlamentarischen Mehrheit wird für Macron und seine Regierung extrem kompliziert, um nicht zu sagen: ziemlich aussichtslos.
Elisabeth Borne, die neue Premierministerin, erklärte noch in der Nacht, sie werde schon heute damit beginnen, an einer Lösung zu arbeiten, um eine Mehrheit zu finden. Man ist versucht, ihr dabei viel Glück zu wünschen, denn es fällt schwer, sich vorzustellen wie diese Mehrheit konkret aussehen könnte.
Marine Le Pens Erfolg
Der Premierministerin, von der man angesichts des Wahlergebnisses nicht weiss, ob sie in einigen Tagen immer noch Regierungschefin sein wird, und dem Präsidenten stehen, wie erwartet, im Parlament nun über 150 Abgeordnete der Linken im weitesten Sinn gegenüber – drei Mal so viele, wie während der vergangenen Legislaturperiode.
Aber auch – und das hatte niemand erwartet – 89 Vertreter der extremen Rechten, mehr als die der traditionellen Konservativen, «Les Republicains». Meinungsumfragen hatten dem «Rassemblement National» bestenfalls 40 vorhergesagt.
Dieses Ergebnis ist im Grunde die echte Sensation dieser Wahl. In den letzten fünf Jahren verloren sich gerade mal 8 Abgeordnete des Rassemblement National im Abgeordnetenhaus, was ihnen nicht mal einen Fraktionsstatus gewährte.
Dass nun, trotz des Mehrheitswahlrechts, welches die Le-Pen-Partei bislang stets benachteiligt hatte, 89 Vertreter dieser vor 50 Jahren gegründeten Partei in der Nationalversammlung Platz nehmen dürfen, zeigt, wie weit Frankreich in den letzten Jahren nach rechts gerutscht ist. Es gibt jetzt sogar ein halbes Dutzend Departements im Land – so etwa das Departement Var an der Côte d’Azur und im Hinterland –, die aus sämtlichen Wahlkreisen nur rechtsextreme Abgeordnete nach Paris entsenden werden.
Grausame Symbolik
Wie gross die Wahlschlappe für Emmanuel Macron ist, kann man letztlich daraus ersehen, dass gleich mehrere Spitzenpolitiker aus seinem Lager gesalzene Niederlagen einstecken mussten.
Unter ihnen die gerade frisch ernannte Gesundheitsministerin und ihre Kollegin, die für die Umwelt zuständig sein sollte. Beide dürfen laut einem ungeschriebenen Gesetz nach dieser Niederlage in ihren Ministerien gleich wieder die Kartons packen.
Und selbst Minister und Ministerinnen aus dem Macronlager, die die Hürde genommen haben, taten es teilweise nur mit minimalem Vorsprung – Premierministerin Borne z. B. brachte es in einem erzkonservativen Wahlkreis in der Normandie nur auf 52% und der Chef der Macronpartei, Stanislas Guerini, in Paris nur auf knapp über 50%.
Am härtesten aber dürfte Präsident Macron treffen, dass auch zwei seiner Parteigänger der allerersten Stunde – beide bis 2016 Mitglieder der sozialistischen Partei – ins Gras beissen mussten und dies in Wahlkreisen, in denen diese politischen Schwergewichte seit zwei Jahrzehnten verankert waren.
Zum einen der Fraktionschef der Macronpartei und ehemalige Innenminister, Christophe Castaner, zum anderen der Parlamentspräsident der vergangenen Legislaturperiode und Macronintimus, Richard Ferrand.
Und, auch dies höchst symbolisch: Macrons ehemalige Sportministerin, Roxana Maracineanu, verlor in einem Pariser Vorortwahlkreis gegen Rachel Keke, eine 47-jährige Farbige, die sich als Anführerin eines Monate dauernden, erfolgreichen Streiks des Reinigungspersonals einer internationalen Hotelkette einen Namen gemacht hatte.