In der mit starken Argumenten geführten Debatte am Dienstag im Ständerat standen folgende Fragen im Vordergrund: Sollen jugendliche Sans-papiers nach der Volksschule zwar das Gymnasium und eine Universität besuchen dürfen, aber weiterhin aus legalistischen Gründen von einer Berufslehre ausgeschlossen bleiben? Oder soll ihnen dank einer wirklichen Gerechtigkeit der Zugang zur Lehre ermöglicht werden? Die Kommissionsmehrheit und Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf betonten, Familien ohne Aufenthaltsbewilligung mit Kindern, welche die Schulen in der Schweiz besuchten, könnten ein Härtefallgesuch stellen, das gute Chancen habe, angenommen zu werden. Auf diese Weise würde der Jugendliche und seine Familie, jedenfalls für die Dauer der Berufslehre, eine Bewilligung erhalten und einen Lehrvertrag abschliessen können.
Da Härtefallgesuche in den Kantonen unterschiedlich behandelt werden und die Ablehnung eines Gesuches, je nach Kanton, die Ausweisung der ganzen Familie aus der Schweiz bedeuten kann, wurde dieser Weg vom Ständerat als zu unsicher und zu ungerecht erachtet, um jugendlichen Sans-papiers eine berufliche Ausbildung zu ermöglichen. Mit dem Ja zur Motion des Genfer CVP-Nationalrats Luc Barthassat bleibt das grosse Problem der Regularisierung der Sans-papiers zwar ungelöst, aber ein kleines Türchen für Jugendliche wird sich öffnen.
Arbeitskräfte, die fast unsichtbar sind
In der Schweiz leben schätzungsweise über 100'000 Sans-papiers. Viele haben irgendwelche Ausweise, einen Arbeitsvertrag, aber keine gültige Aufenthaltsbewilligung. Die meisten sind praktisch unsichtbar, halten sich stets an die Regeln, fahren nie ohne Billett: sie tun alles, um nicht aufzufallen. Es gelingt ihnen, während vieler Jahre in der Schweiz zu arbeiten, ohne kontrolliert zu werden. Ein grosser Teil der Frauen arbeiten in privaten Haushalten, in der privaten Krankenpflege, die Männer u.a. im Gastgewerbe, in der Landwirtschaft, teils auf Baustellen. Manche zahlen AHV-Beiträge und Steuern.
Zahlreiche Sans-papiers besassen eine Aufenthaltsbewilligung, die nicht erneuert wurde, oder sie waren Saisonniers, erfüllten aber nicht alle Voraussetzungen, um eine Jahresaufenthalterbewilligung zu erhalten, als das Saisonnier-Statut aufgehoben wurde. Zudem änderte der Bundesrat in den 90er Jahren die Einreiseregeln: seither werden nur hochqualifizierte Personen aus nicht EU-Staaten als Arbeitskräfte zugelassen. Trotzdem werden auch in unserem Land weiterhin Zehntausende wenig qualifizierte Arbeitskräfte benötigt, für die sich kaum jemand mit einer Arbeitsbewilligung finden lässt. Aus diesem Grund sehen sich viele Arbeitgeber veranlasst, Sans-papiers zu beschäftigen; nicht nur in Zeiten der Hochkonjunktur, auch während der Rezession sind sie gefragt. Das ist der Beweis, dass diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oft unverzichtbare Tätigkeiten verrichten: Sie erfüllen eine wichtige wirtschaftliche Funktion, das wissen nicht nur die Arbeitgeber, sondern auch die kantonalen Behörden. Die Polizei sucht deshalb auch nicht systematisch nach Sans-papiers, denn sonst würden viele Arbeitgeber protestieren. Die Behörden wissen, dass man die Sans-papiers braucht, aber sie sind nicht bereit, ihnen Bewilligungen zu erteilen: die heuchlerische Haltung der Behörden auf dem Buckel dieser fast rechtlosen Menschen dauert an.
Genf forderte Bewilligungen vom Bundesrat
In Genf unterstützt die gewerkschaftliche Vereinigung mit katholischen Wurzeln SIT seit Jahren Sans-papiers. Es handelt sich in Genf vor allem um Frauen aus Lateinamerika und Südostasien, die in Haushalten arbeiten. Manche arbeiteten im Hause von Botschaftsangestellten ihres Landes mit einer Bewilligung, doch wenn ihr Arbeitgeber zurückberufen wurden, blieben die Frauen in Genf, arbeiteten weiterhin in Familien, aber ohne Bewilligung. Das Kantonsparlament setzte sich bereits 2003 für die Sans-Papiers ein. In der Folge erhielt die Genfer Regierung vom SIT 2500 Dossiers, die 5000 Personen betrafen, und nach eingehender Prüfung gelangte sie Anfang 2005 an den Bundesrat mit dem Begehren, die 5000 Sans-Papiers sollten eine Bewilligung erhalten. Die Begründung: Für die Wirtschaft sind die über 6000 in der Hauswirtschaft tätigen Personen, zu drei Vierteln ohne Bewilligung, ein wichtiger Faktor, zudem sind auch die Rechte der Arbeitnehmerinnen besser zu schützten.
Mit seinem Gesuch wollte der Kanton Genf eine breite Diskussion über die unhaltbare Situation der Sans-Papier auslösen, was in der Westschweiz ein grösseres Echo auslöste als in der Deutschschweiz. Obschon ab 2008 Eveline Widmer-Schlumpf Christoph Blocher als Justizministerin ablöste, wehrt sich der Bundesrat gegen eine einmalige kollektive Regularisierung. Der Bündner Bundesrätin gehen gar jene Kantone zu weit, in denen Sans-papiers, welche AHV-Beiträge bezahlen, eine sogenannte graue AHV-Karte erhalten. Das ist ein weiterer Hinweis, dass die Bundesbehörden die Augen vor der Wirklichkeit verschliessen. Diese Menschen sind hier und arbeiten, aber die Behörden wollen verhindern, dass sie auch in der Statistik in Erscheinung treten und die Zahl der Ausländer ansteigt.
Die Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen hatte 2003 eine Arbeitsgruppe gebildet, die mithelfen sollte für das heikle Problem der Sans-papiers Lösungen zu suchen. Sie musste allerdings zu Kenntnis nehmen, dass in Härtefällen eine Angleichung in der Erteilung von Bewilligungen zwischen den Kantonen nicht möglich war, worauf sich die Arbeitsgruppe Ende 2007 auflöste. Inzwischen hat die Kommission eine Studie über die Situation dieser Ausländergruppe in Auftrag gegeben und erarbeitet Empfehlungen zuhanden der Behörden, die bis Ende Jahr veröffentlicht werden sollen.
Die Schule ist offen für alle
Obschon die Regularisierung von „Sans-papiers“ weiterhin blockiert ist, hat sich ihre Lage in den letzten 20 Jahren teilweise entspannt. Kinder von Sans-papiers können in der ganzen Schweiz die Schule besuchen, und zwar aus zwei Gründen: Erstens ist der Schulbesuch für alle Kinder obligatorisch, ungeachtet der Ausweispapiere, zweitens gibt die von der Schweiz vor 20 Jahren ratifizierte Kinderrechtskonvention der Uno allen das Recht auf Bildung.
Neben den „traditionellen“ Sans-papiers, die arbeiten und nicht auf Sozialhilfe angewiesen sind, entsteht eine wachsende Gruppe von Sans-papiers, die zu einem grossen Teil ein Asylgesuch gestellt hatten, das abgelehnt wurde. Diese Sans-papier leisteten dem Gebot, die Schweiz zu verlassen, keine Folge. Sie befinden sich weiterhin illegal in der Schweiz, ein Teil von ihnen bezieht Nothilfe, andere werden von Landsleuten und Bekannten unterstützt, einige finden eine Arbeit. Je stärker diese Gruppe wächst, desto schwerer wird es für die „traditionellen“ Sans papiers, in einem grösseren Rahmen Aufenthaltsbewilligungen zu erhalten.