Dass die Muslimbrüder die Wahlen gewinnen würden, war vorauszusehen. Sie sind im Wahlkampf die einzige wirklich organisierte Partei gewesen. Sie besitzen eine politisch erfahrene Führerschaft, die als Gegner und Gegenspieler des bisherigen Regimes nicht von dessen Missetaten und Zusammenbruch gefärbt sind. Die Brüder hatten mitgewirkt bei den grossen Volksdemonstrationen vom Januar 2011, die Mubarak schliesslich zu Fall brachten. Nicht als die eigentlichen Auslöser der Bewegung, jedoch - nach anfänglichem Zögern ihrer älteren Führungsgeneration und unter dem Druck der Jüngeren - als eine der wichtigsten Kräfte, welche die Strasse mobilisierte und die Bewegung zäh gegen alle Niederhaltungsversuche der Polizei verteidigte.
Politische Pläne im Zuge der Zeit
Ihre politische Ausrichtung, die Islam und Demokratie zu vereinen sucht, liegt im Zuge der Zeit, nachdem die arabische Welt Militärdiktaturen und nationalistische Ideologien zusammen mit sozialistischen und radikal islamischen durchprobiert und alle für ungut befunden hatte.
Die Bruderschaft hatte sich auch über die Jahrzehnte ihrer Niederhaltung hinweg stets eine treue Gefolgschaft in der ägyptischen Bevölkerung bewahren können, nicht zuletzt dank ihres sozialen Wirkens für die Bedürftigen unter den Ägyptern.
Wer sind die Salafisten?
Überraschend war jedoch der zweite Rang, den die "Nur" (Licht) Partei der Salafisten errang. Diese Salafisten waren vor den Wahlen praktisch unbekannt, jedenfalls als politische Kraft. Salafistische Gruppen unter verschiedenen Gottesgelehrten und Predigern bestanden vor der Revolution. Diese galten als unpolitisch und predigten Abstinenz von allen politischen Ambitionen. Manche sagten sogar, alle guten Muslime hätten die Obrigkeit anzuerkennen, solange diese den Muslimen erlaube, als Muslime zu leben. Erst nach dem Durchbruch der Revolution haben diese unterschiedlichen Gruppierungen begonnen, sich zu einer Partei zusammenzuschliessen. Erst jetzt gaben sie ihren Willen bekannt, sich an den Wahlen zu beteiligen.
Nachfolge des Propheten in allen Details
Die salafistische Lehre geht darauf aus, das Gesetz und das Vorbild des Propheten Mohammed ganz ernst zu nehmen, wortwörtlich, wie es geschrieben steht, ohne Interpretation und Anpassungsversuche an die heutige Zeit. Dass der Prophet im siebten Jahrhundert nach Christus gelebt hat, ist für sie kein Grund, seine Lehre und sein Vorbild auch nur im geringsten mit der heutigen Zeit vereinbar zu machen. Im Gegenteil, die heutige Zeit soll sich dem Vorbild der Wüstenstädte Mekka und Medina, so wie sie damals waren, anpassen. Denn das Gesetz stammt direkt von Gott, und das Verhalten des Propheten war das eines in jeder Hinsicht gottgefälligen Menschen.
Der Begriff "Salaf", der "Nachfolge" bedeutet und die Nachfolge des Propheten und seiner ersten Genossen meint, trifft genau ihre Glaubensrichtung. Saudi Arabien ist die Hochburg dieser Lehre. Sie hat sich jedoch in den letzten Jahrzehnten über die ganze islamische Welt ausgedehnt. Sie verurteilt alle späteren Entwicklungen innerhalb des Islams, besonders die Mystik und die Verehrung von Heiligen Männern als "Neuerungen", das heisst unerwünschte und vom wahren Glauben abweichende, "heidnische" Züge, die den reinen Islam entstellen. Sie anerkennt jedoch, dass es "technische" Neuerungen und Errungenschaften gebe, welche dem Islam nicht widersprächen. Diesen stehen die Salafisten offen.
Das Gottesgesetz als das einzige Mass
Massstab dafür, was erlaubt und verboten sei, geben einzig die Gesetze der Scharia, des islamischen Gottesrechtes, das von den muslimischen Gelehrten der ersten drei Jahrhunderte nach dem Propheten auf Grund der koranischen Weisungen und des überlieferten Vorbilds des Propheten ausgearbeitet wurde. Die Auslegung dieser Gesetze und ihre Anwendung auf die heutige Zeit steht nach Ansicht der Salafisten den Regionsgelehrten zu, vorzüglich jenen ihrer eigenen Glaubensrichtung.
Unterstützung durch Saudi Arabien
Der Erfolg der salafistischen Glaubensrichtung in der heutigen islamischen Welt hat zwei Wurzeln. Zum ersten geniesst sie als die Religionsrichtung Saudi Arabiens die Unterstützung der saudischen Krone. Ihre Gottesgelehrten und deren Freunde und Anhänger in allen islamischen Ländern können auf finanzielle Unterstützung aus Saudiarabien zählen. Sie kommt von staatlichen aber auch von privaten Geldgebern. Sie hat über die Jahre dazu geführt, dass es überall in der weiten islamischen Welt von der salafistischen Glaubensrichtung unterhaltene oder unterstützte Moscheen und Gelehrte gibt, die diese Lehre verbreiten.
Gewissheit gegen das Fremde
Doch wichtiger ist wahrscheinlich die zweite Wurzel – eine Wurzel nicht materieller, sondern geistiger Natur. Der Islam sieht sich weltweit herausgefordert, nicht nur wie in der jüngsten Zeit, weil er von Andersgläubigen allzu leicht mit Terrorismus gleichgesetzt oder des Fanatismus angeklagt wird, sondern auch seit viel längerer Zeit und viel tiefer gehend, weil er unter dem Druck einer materiell und machtmässig erfolgreicheren nicht islamischen, oftmals sogar a-religiösen, "Weltkultur" steht, die ursprünglich im westlichen Christentum entwickelt wurde, aber heute weltweit die Grundlage für Erfolg, Macht und Reichtum der "modernen" Gesellschaften bildet.
Eine Hochflut aus der Nachbarkultur
Die islamischen Gesellschaften haben sich seit rund zwei Jahrhunderten gezwungen gesehen, fortlaufend immer mehr Neuerungen im materiellen, technischen, kulturellen und fast allen anderen Bereichen des menschlichen Lebens zu übernehmen, die nicht aus ihrer eigenen Kultur stammen, sondern vielmehr aus jener der "Nicht-Muslime". Die Übernahmen des "Nichtmuslimischen" war Vorbedingung des eigenen Überlebens als Gesellschaften. Doch sie entkleidete schrittweise die eigene Kultur ihrer eigenen Lebensformen, die fremden breiteten sich aus.
Die Religion bildete einen letzten Hort der eigenen Identität, zusammen mit einigen anderen mit ihr verwobenen Lebensbereichen, wie etwa das Zusammenleben in der Familie; eigene Küche (jedoch fremde Essmanieren, heute am Tisch mit Gabel und Messer); eigene Sprache (jedoch "modernisiert" und notgedrungen mit neuen Sprachschöpfungen ausgestattet); Überreste einer eigenen sozialen Oganisation, z. B. im Stammeswesen; eigene Kleidungsformen nur noch in Restbeständen; langsam verschwindende Altstädte mit ihren monumentalen Bauten aus vergangener "voll islamischer" Zeit (heute unter Denkmalschutz und Touristenattraktionen) usw.
Der Hort des Eigenen
Unter diesen Umständen wird die Religion defensiv. Sie dient als der zentrale Bereich des Eigenen, an dem man unter dem Ansturm des Fremden festhalten will. Sie ist auch das "Stabile" in der Flut der von aussen hereinströmenden Neuerungen. Sie stiftet Identität, Würde, Eigenständigkeit in einer Welt, die vom Fremden, der Macht, dem Erfolg, dem Geld der Anderen überflutet wird und allmählich darin zu ertrinken droht.
In dieser Rolle als letzter Halt muss die Religion fest gefügt sein, unverrückbar, etwas, an das man sich halten kann, was geschrieben steht und was immer so war, wie es ist, und immer so bleiben wird.
Der Islam als "Nachfolge" (Salaf) ist ein defensiver Islam; ein Islam, der als Festung dient gegen den beständig zunehmenden und immer noch anwachsenden Ansturm des Fremden.
Nah an der alten Zeit
Dass er unveränderlich sei, so wie er von Beginn an war und stets bleiben soll, macht ihn anziehend für alle, die Schutz und Geborgenheit suchen. Eine Festung mit dicken Mauern. Die Salafisten sind einfache Leute, die klare Regeln und fest umschriebene Vorstellungen fordern. Sie sind auch Leute in Lebenszusammenhängen und Umständen, die sich nicht allzu sehr von jenen der Zeit der Propheten unterscheiden, so dass ihr unmittelbarer Vorbildcharakter für heute und hier glaubwürdig und annehmbar erscheint, ohne eines neuen Verständnisses und einer Neuausauslegung zu bedürfen. Diese würden die Solidität und Dichte des Vorbildes notwendigerweise abschwächen, wenn nicht sogar letztlich kompromittieren.
Menschen in Lebensumständen, die sich von jenen des siebten Jahrhunderts in der arabischen Halbinsel nicht allzu sehr unterscheiden, gibt es in Ägypten millionenweise. Es sind die Fellachen, die Bauern im Niltal, in den Tausenden von Dörfern, aber auch viele Bewohner der Armenviertel und Hüttenstädte in den Grossstädten und an ihrer Peripherie. Für sie alle ist es nicht unglaubwürdig, sondern vielmehr anstrebenswert, dem Vorbild des Propheten in möglichst allen Einzelheiten, die von ihm überliefert sind, nachzueifern.
Es sind die predigenden Gottesgelehrten des Salafismus, die ihnen diese Vorbilder vor Augen führen. Gewiss in mehr mythischen, idealisierten als historisch genau zutreffenden Zügen: einen Bart, wie er ihn trug, Umgang mit seiner Familie und mit seinen Gefährten, wie er ihn pflegte, Kleidung nach seinem Vorbild usw. gehören für sie zum wahren Islam.
Tiefer eingetaucht in die Moderne
Es gibt aber auch Millionen von Ägyptern, die heute in einem Umweltzusammenhang leben, der es ihnen weder erlaubt noch als wünschenswert erscheinen lässt, sich allzu mechanisch an die Normen jener Zeit, der des Propheten, zu halten. In der "heutigen Welt", welche die ihrige ist, wäre es absurd, schädlich, unangemessen, unsachgemäss, sich in jeder Hinsicht nach dem Vorbild des Propheten und seiner Gefährten auszurichten.
Essenzielles und Nebensachen
Dennoch möchten sie gute Muslime sein und bleiben. Die Notwendigkeit von Auslegung drängt sich ihnen auf. Die Nachfolge muss in den "wesentlichen Dingen" geübt werden. Welches sind sie, und welches sind blosse zeitgebundene Nebensachen? - Zum Beispiel die viel umstrittene Frauenfrage. Sollen die Frauen genau gleich behandelt werden, wie sie damals - nach Angaben der Gelehrten - behandelt worden sind? Oder geht es darum, zu erkennen, was der Prophet den Frauen gegenüber für Absichten hegte; was er wollte, dass mit ihnen geschehe, auch wenn das vielleicht in seiner Gesellschaft nicht immer möglich war, oder nicht immer opportun? - Zum Beispiel das Staatswesen: genau so wie damals, nach den überlieferten Texten und Darstellungen, oder eher so, wie es erlauben könnte, heute die Ziele besser zu erreichen, von denen man annehmen darf, dass sie auch jene waren, die der Prophet verfolgte, in seiner Zeit und mit den damals gegebenen Mitteln?
Zeitgemässes Religionsverständnis
An der Antwort, die sie auf solche Fragen geben, unterschieden sich die Muslimbrüder, als flexiblere Salafisten von den Ur-Salafisten. Die Antworten, die gegeben werden und die einleuchten, hängen zusammen mit den Lebensumständen, denen man ausgesetzt ist. Je weniger eingetaucht in die Flut der ("westlichen") Modernisierung man lebt, desto absoluter können sie sein. Je mehr man den Veränderungen der Moderne ausgesetzt ist, desto weitergehend sieht man sich darauf angewiesen und dazu angeregt, zwischen Essenz der Lehre und ihren zeit- und ortbedingten Äusserlichkeiten zu unterscheiden.
Lebensräume der Ur-Salafisten
In Afghanistan haben Ur-Salafisten in der Form der Taleban prosperiert und sind (mit pakistanischer Hilfe) vorübergehend Herrscher des Landes geworden. In Ägypten bilden sie nicht die Mehrheit, jedoch immerhin die zweitgrösste Partei. Sie sind keine Taleban. Bei diesen spielt ein durch das paschtunische Stammeswesen beeinflusster und wohl auch verunstaltetes Islam-Verständnis und eine der Gewalt verpflichte Stammeskultur hinein. Doch sie sind auch Leute, denen ein Leben, wie der Prophet es führte, in allen vermeintlichen und echten Details, nicht absurd oder unzeitgemäss erscheint, sondern vollumfänglich realisierbar und gänzlich wünschenswert.
Erfahrungswege der Brüder und jene der Salafisten
Bei den Muslimbrüdern ist es anders. Einst, als sie gegründet wurden, vor fast hundert Jahren, glaubten sie das wohl auch. Doch inzwischen haben sie erfahren und gelernt, dass man in der gegenwärtigen Welt Muslim sein muss und sein kann, ohne alle äusseren Umstände und Lebensformen des siebten Jahrhunderts in Mekka reproduzieren zu wollen. Die heute gegebene Welt macht Anpassung, Auslegung, eindringendes Verständnis zu einer Notwendigkeit, wenn man in ihr leben und wirken will. So haben sie es erfahren und gelernt. Doch das Niltal mit seiner Übervölkerung und mit seiner Bauerntradition aus pharaonischen Zeiten, bietet auch vielen Millionen Raum, deren Lebensumstände sie dazu veranlassen, jenen Predigern zuzustimmen, die sie aufrufen, dem Vorbild des Propheten in allen Details, mit möglichst geringen Abweichungen, zu folgen.