Da ist, erstens, die geringe Wahlbeteiligung. Nie zuvor in der deutschen Nachkriegsgeschichte und somit natürlich auch nie seit der nationalen Vereinigung sind mit 48,5 Prozent weniger als die Hälfte der Abstimmungsberechtigten an die Urnen gegangen. Damit haben die Sachsen in der politischen Geschichte Deutschlands einen Negativrekord aufgestellt. Dieser wirft nicht nur ein fragwürdiges Licht auf das politische Bewusstsein der Bevölkerung, sondern zugleich auch auf die wirkliche Aussagekraft des Wählervotums. Das gilt, nicht zuletzt, für die zweite große Überraschung – das aus dem Stand heraus mit 9,7 Prozent erreichte, geradezu sensationell gute Abschneiden der erst im vorigen Jahr gegründeten europakritischen „Alternative für Deutschland“ (AfD). Denn, erfahrungsgemäß, hängen gerade bei kleinen, mit populistischem Gedankengut arbeitenden Parteien Erfolg oder Misserfolg stark von der Wahlbeteiligung ab. Vereinfacht gesagt: Je geringer die allgemeine Beteiligung, desto höher der relative Stimmenanteil.
Signalwirkung aus Sachsen?
Inwieweit von dem Urnengang in Sachsen Signalwirkung ausgeht, wird sich bereits in zwei Wochen zeigen. Am 14. September werden nämlich in den beiden, ebenfalls ostdeutschen, Bundesländern Thüringen und Brandenburg auch neue Regionalparlamente gewählt. In Sachsen hat die bisher mit den Freien Demokraten regierende CDU von Ministerpräsident Stanislaw Tillich zwar geringfügig (0,8 Prozent) gegenüber dem vorigen Mal eingebüßt, besitzt aber mit einem Stimmenanteil von 39,4 Prozent nach wie vor eine satte Mehrheit. Allerdings muss sich Tillich einen neuen Koalitionspartner suchen. Denn die liberale FDP (nur 3,8 Prozent) ist im Dresdener Landtag künftig nicht mehr vertreten; wie schon zuvor im Bundestag sowie in den Landtagen von Hessen und Bayern, liefen ihr auch in Sachsen die Wähler gleich in Scharen (- 6,2 Prozent) davon. Für die freidemokratische Traditionspartei ist in der Vergangenheit zwar schon häufig – voreilig - das Sterbeglöckchen geläutet worden. Aber so ernst, wie jetzt, ist die Gefahr, dauerhaft von der politischen Landkarte zu verschwinden, noch nie gewesen.
Jetzt, da der eigentliche Regierungs-Wunschpartner FDP nicht mehr zur Verfügung steht, hat der – aus der an der Oder lebenden Volksgruppe der Sorben stammende – Ministerpräsident Tillich theoretisch vier Möglichkeiten, eine Mehrheit zu bilden: SPD, Grüne, AfD und Linke. Tatsächlich dürfte es jedoch wohl auf eine schwarz/rote Koalition mit den Sozialdemokraten hinauslaufen. Die aus der einstigen DDR-Staatspartei SED hervorgegangenen und sich seither mehrfach umbenannten Linken kommen für die Union im Allgemeinen und einen im SED-Staat sozialisierten CDU-Ministerpräsidenten schon gar nicht als Partner infrage. Und der „Alternative für Deutschland“ hat Tillich bereits in der Wahlnacht eine klare Absage erteilt. Dass das Wahrscheinlichkeits-Pegel am Ende in Richtung SPD ausschlagen wird, könnte vor allem zwei Gründe haben. Mit einem schwarz/roten Bündnis an der Elbe würden die sächsischen Christdemokraten ganz sicherlich ihrer Bundesvorsitzenden und Kanzlerin Angela Merkel einen Gefallen tun. Zudem wären die „Sozis“ in Dresden kaum in der Position, die Koalitionsinhalte zu bestimmen. Sie legten zwar am Sonntag um 2 Prozent auf 12,4 Prozent zu, befinden sich damit im sächsischen Parteienranking jedoch nur auf einem deprimierenden dritten Platz hinter der Post-SED (18,9 Prozent). Außerdem würde es der CDU notfalls auch mit den Grünen zu einer – zwar dünnen, aber immerhin – Mehrheit reichen.
Die AfD – das unbekannte Wesen
Wie immer das Tauziehen hinter den Kulissen in Dresden und Berlin (sowie in zwei Wochen auch in Erfurt und Potsdam) verlaufen und ausgehen wird – das eigentlich spannende Beobachtungsfeld der näheren und mittleren Zukunft trägt die Bezeichnung „Alternative für Deutschland“. Die AfD ist vor kurzem bereits mit einem beachtlichen Ergebnis ins Brüssel/Straßburger Europaparlament eingezogen. Mit dem Landtag in Dresden konnte sie jetzt zum ersten Mal eine (wenn auch nur regionale) nationale Volksvertretung „erobern“. Und alles deutet darauf hin, dass dieser Weg in die politischen Institutionen noch weiter gehen wird. Übernimmt die, bislang vor allem als Protestkraft gegen zu große „Brüsseler Einflüsse“ und ungebremste Zuwanderung aufgetretene, Partei möglicherweise die Rolle der FDP? CDU und CSU versuchten bisher vor allem, die AFD möglichst gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, ja sie quasi totzuschweigen. SPD, Linke, Grüne und FDP wurden hingegen nicht müde, den in ihren Augen frechen Polit-Neuling in eine fremdenfeindliche, in radikaler Gegnerschaft zur europäischen Einigung stehende, ja rechtsextreme Ecke zu stellen.
Die Wähler (auf jeden Fall genügend davon) sehen das offensichtlich ziemlich anders – und zwar zu Recht. Ohne Zweifel findet man bei der AfD konservativ-nationale und rechtsliberale Positionen. Und ihr Programm (soweit man überhaupt von einem solchen sprechen kann), ist ein wahres Sammelsurium: Zuwanderung, Kriminalität, Brüssel-Schelte. Aber es ist nicht absolut reaktionär, nicht platt ausländerfeindlich, und die Partei zeigt sich auch nirgends etwa kompromissunwillig. Und wer die Personen an der Spitze durchleuchtet, muss gewiss nicht zum Fan werden; aber „Undemokraten“, Fremdenfeinde (und wie die Anschuldigungen alle heißen) sind das ganz sicher nicht. Richtig ist hingegen, dass sich nicht Wenige aus dem rechten Rand des deutschen politischen Spektrums zur AfD hingezogen fühlen, oder sich subversiv anzuschleichen versuchen. Damit fertig zu werden, ist ohne Zweifel ein Problem der „Alternative für Deutschland“.
Ist doch Platz rechts von der Union?
Wobei die eigentlich interessante Frage so lauten müsste: Warum wählt rund ein Drittel des deutschen Wahlvolks dezidiert rechte oder linke Positionen? Wieso dominieren nicht selten blanke Emotionen und simple populistische Parolen mit leicht erkennbar unrealistischen Inhalten über die Ratio? Sind die Zeiten wirklich so schwierig und die Ereignisse derart unübersichtlich geworden, dass selbst die politische Elite sie nicht mehr zu durchschauen oder zumindest zu erklären vermag? Von Franz Josef Strauß stammte einmal das Postulat an seine Partei, die CSU: „Rechts von uns darf kein Platz für eine andere Partei sein“. Das scheint heute so nicht mehr zu gelten. Immerhin, freilich, ist die wirklich rechtsradikale NPD nach zwei Wahlperioden im Dresdener Landtag von den sächsischen Wählern jetzt aus dem Parlament geschmissen worden. Es gibt halt auch in der Politik immer mal eine gute Nachricht.