Präsident Putin beschwört Einheit und Zusammengehörigkeit von Russen und Ukrainern. Aber er unterlässt nichts, die Klein-Russen, wie man die Nachbarn abwertend nennt, von sich wegzustossen – wie es zahlreiche Herrscher des Imperiums schon vor ihm taten.
Es gibt tatsächlich vieles, das die beiden Länder gemeinsamen haben. Die russische und die ukrainische Sprache sind nahe Verwandte, die Leute hier und dort kennzeichnen ähnliche Mentalitäten, man ist im orthodoxen Glauben verbunden, hat vergleichbare Lebenserfahrungen mit den Obrigkeiten gemacht, schlägt sich mit der eher geringen Wirtschaftsleistung und der hoch entwickelten Korruption herum, stand sich während Jahrhunderten im kulturellen Leben nahe.
Eigentlich läge es auf der Hand, dass die beiden Staaten gemeinsame Sache machten. Etwa wie Deutschland und Frankreich, denen es, trotz immenser Gegensätze, schliesslich gelungen ist, ihre ewigen Rivalitäten zu überwinden. Gewiss folgte jene Einigung in einem komplett anderen Kontext, aber letztlich kam sie zustande, weil hüben wie drüben Persönlichkeiten regierten, die das Format hatten, sich auch mal in die Situation des andern zu versetzen.
Eine Abfolge von Katastrophen
Eine solche Option war und ist im Osten nicht denkbar. Präsident Putin gräbt sich immer tiefer in seinen grossrussischen Chauvinismus ein, derweil die Ukraine um ihre Unabhängigkeit bangt. Für das Land, das so viel mit Russland verbindet, ist das keine neue Situation.
Viermal hat es im 20. Jahrhundert seine Unabhängigkeit proklamiert. Das erste Mal 1918 während der bolschewistischen Revolution, dann 1939 und 1941 unter bedenklichen Umständen, das vierte Mal 1991, als die Sowjetunion zerbrach. Für die Ukrainer war das 20. Jahrhundert eine dichte Abfolge dramatischer Ereignisse.
Es begann bereits im Bürgerkrieg nach der Revolution, den die «Roten» (Bolschewiken) wie die «Weissen» mit aller Härte führten – auch in der Ukraine. Dort ist die so genannte Machnowschtschina noch heute nicht vergessen. Benannt ist diese agrarrevolutionäre Bewegung nach ihrem charismatischen Anführer Nestor Machno, der eine Miliz von 100’000 Mann auf die Beine gestellt hatte, mit der er seine Ziele, unabhängig von den neuen Machthabern in Moskau, zu erreichen suchte. Als die «Roten» in Bedrängnis kamen, gelang es Revolutionsführer LeoTrotzki, den eigenwilligen Machno auf seine Seite zu ziehen, zerschlug aber dessen Bewegung gnadenlos, als die Bolschewiken wieder Oberwasser hatten.
Diese beendeten auch den Traum einer unabhängigen Volksrepublik Ukraine. Revolution und Bürgerkrieg waren eine erste Lektion darüber, wie nach den Zaren das neue Regime den Nachbarn behandeln bzw. traktieren würde.
Der grosse Hunger
Die erste ganz grosse Katastrophe folgte rund 10 Jahre später. Am 27. Dezember 1929 erklärte Josef Stalin, man werde nun mit aller Macht die Kollektivierung der Landwirtschaft angehen und das bedeute, «einen Schlag gegen das Kulakentum zu führen, dass es sich nicht mehr aufrichten kann». (siehe: Alan Bullok: Hitler und Stalin. Parallele Leben). Die Kulaken waren «private» Bauern, die vor die Wahl gestellt wurden: Eintritt in die Kolchosen oder Vernichtung. Die von Stalin angeordnete Konfiskation von Erträgen und Gerätschaften löste zu Beginn der 1930er Jahre in ganz Russland eine Hungersnot aus, die insbesondere in der Ukraine, dem traditionellen «Brotkorb» des Imperiums, katastrophale Ausmasse annahm: Auf vier Millionen wird dort die Zahl der Todesopfer geschätzt.
Für die heutige ukrainische Regierung ist mit der gezielten Vernichtung einer ganzen Bevölkerungsgruppe der Tatbestand eines Genozids erfüllt; Moskau will von einem Genozid nichts wissen. Wiederum zehn Jahre später ereilte die Ukraine der nächste Schicksalsschlag: Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Sommer 1941. Ein Vergleich der Landkarten vor und nach dem Krieg zeigt zwar, dass das Territorium der Sowjetrepublik Ukraine um 15 Prozent zugenommen hatte. Nur: Das Land war total zerstört. Sieben Millionen Menschen (15 Prozent der Bevölkerung) kamen während des Kriegs ums Leben, Zehn Millionen hatten kein Dach mehr über dem Kopf, 2,2 Millionen wurden als Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert, das waren 80 Prozent aller «Ostarbeiter», die Industrieproduktion sackte auf 25 Prozent des Vorkriegsniveaus ab. Die deutschen Truppen gingen in ihrem erhofften neuen «Lebensraum» mit ungehemmter Brutalität vor. Erleichtert wurde dieses Vorgehen durch einen verhängnisvollen Fehler Stalins. Sein eigener Geheimdienst hatte den Sowjetdiktator vor einem deutschen Überfall gewarnt, doch Stalin bezeugte, gestützt auf den 1939 abgeschlossenen Nichtangriffspakt, mehr Vertrauen in seinen Verbündeten Adolf Hitler. Daher standen die Truppen der Sowjetarmee im Sommer 1941 nicht dort, wo sie zur effizienten Abwehr einer Invasion hätten stehen müssen. Und nach der Dezimierung der höheren Armeekader während der grossen Säuberung 1937/38 sah sich die Generalität nicht in der Lage, ihren obersten Feldherrn zur Räson zu bringen.
Eine der vielen Folgen von Krieg und Zerstörung war, neben nationalistischen Umtrieben, Repressionen gegen Nazi-Sympathisanten, Rachefeldzügen von Partisanen, eine weitere Hungersnot. Die Stabilisierung der neu installierten kommunistischen Regime in den Satellitenstaaten des «Ostblocks» hatte für Moskau höchste Priorität. Das bedeutete unter anderem, dass Versorgungsengpässe möglichst vermieden werden mussten.
Daher ordnete Stalin, unbesehen des Elends in der Ukraine, wiederum Konfiskationen von Weizen an, der nach Polen, in die CSSR usw. geschickt wurde. Diese Exporte – und eine extreme Trockenperiode – hatten zur Folge, dass 1946/47 in der Ukraine wiederum nahezu eine Millionen Menschen hungers starben.
Das Kleinmachen der Kleinrussen
In den 1950er und 1960er Jahren forcierte Moskau die Industrialisierung in der Ukraine massiv. Riesige Chemiefabriken entstanden, der militärisch-industrielle Komplex wurde führend in der Produktion von Atomwaffen und der Entwicklung von Weltraumtechnik.
Entlang des Dnjeprs entstand eine Kette neuer Kraftwerke, der Flusslauf wurde durch Stauungen, Schleusen und Umleitungen stark verändert, grossflächige Seen entstanden, die entsprechend grosse Kulturflächen verschwinden liessen. Diese Investitionen schafften zwar Arbeitsplätze, sie brachten aber auch, wie der ukrainisch-stämmige Harvard-Professor Serhil Plokhy in «The Gates of Europe – A History of Ukraine» schreibt, das ökologische Gleichgewicht unter Druck.
Die von Moskau gesteuerten strategischen Anlagen hatten in erster Linie die Stärkung der Grossmacht UdSSR im Auge; die Wohlfahrt der kleinen Leute vor Ort, die zur Gestaltung ihres Landes nichts zu sagen hatten, zählte wenig, trotz aller propagandistischer Floskeln zur fortschrittlichen Nationalitätenpolitik. Das Gross/Klein-Gefälle gehörte gewissermassen permanent zu den Erfahrungen der Ukraine: hier das imperiale Grossrussland, da die aus zahlreichen Identitäten zusammengewürfelte Ukraine oder eben: «Kleinrussland». Ursprünglich hatte der Begriff lediglich eine geografische Bedeutung, allmählich aber füllte er sich mit Verachtung und kultureller Zurückstufung. Die Bolschewiken zogen den Begriff, weil diskriminierend, zwar aus dem Verkehr, doch der Ruch der Zweitklassigkeit blieb an der Ukraine hängen.
Vergleichbar mit dem Ausdruck «les boches», mit dem die Franzosen die Deutschen verächtlich machten (und es manchmal immer noch tun), bringen die Russen mit der Bezeichnung «chochol» zum Ausdruck, was sie von den Ukrainern halten – nicht eben viel. Auch ihre Sprache ist für sie eigentlich keine richtige, Moskau wies deren Gebrauch immer wieder in Schranken, namentlich, wenn es nationalistische Umtriebe am Werk vermutete. Verachtende Herablassung manifestierte sich immer wieder auch auf russischen Theaterbühnen.
Regisseure liessen jene Schauspieler, die den Part eines geistig etwas zurückgebliebenen Individuums darstellten, gerne Ukrainisch sprechen – zum Gaudium des Publikums, das sich in seinen Vorurteilen bestätigt sah.
Die Verletzlichkeit von Grenzen
Präsident Putin hat den Ende 1991 erfolgten Zerfall der Sowjetunion als die «grösste Katastrophe» des Jahrhunderts bezeichnet. Aus seiner Sicht mag diese Feststellung verständlich sein. Alle, die nur irgendwie konnten, kehrten Russland den Rücken, nicht nur die Satellitenstaaten im Westen, die in die Nato und die EU drängten, sondern auch die andern zwölf Sowjetrepubliken, die mit Russland die UdSSR ausmachten.
Die Einfluss- bzw. Pufferzonen, die das russische Kernland bisher umsäumten, hatten sich in kürzester Zeit in Nichts aufgelöst. Abgemeldet hatte sich auch die Ukraine, deren Bevölkerung am 1. Dezember 1991 mit 90 Prozent die staatliche Unabhängigkeit guthiess (selbst die mehrheitlich von Russen bewohnte Krim stimmte mit 54 Prozent zu). Der Verlust der Ukraine war für Russland auch deshalb besonders schmerzhaft, weil auf dem Territorium seines nicht mehr kontrollierbaren Nachbarn ein riesiges Arsenal an Atomwaffen lagerte.
Gemeinsam mit den USA und Grossbritannien wurde 1994 im Budapester Memorandum ein durchaus vernünftiger Deal vereinbart: Die Ukraine gibt Russland sämtliche Atomwaffen zurück, dafür respektiert Russland die Souveränität der Ukraine. Jenes Memorandum verweist ausdrücklich auf die KSZE-Schlussakte von 1975, in der die Unverletzlichkeit staatlicher Grenzen verankert wurde. Es war seinerzeit die Sowjetunion, die auf diesem Punkte beharrte, weil sie dergestalt die Nachkriegsgrenzen in Osteuropa für immer festschreiben konnte.
Was heute die Ukraine betrifft, so ist Putins Russland nicht geneigt, das hehre Prinzip unverletzlicher Staatsgrenzen zu befolgen. Der Kreml macht, wie seinerzeit die Zaren und Bolschewiken, gewissermassen ein natürliches und ewiges Recht auf Einflusssphären geltend. Unbestreitbar ist, dass auch Russland Anspruch auf Sicherheit hat. Und in gewisser Weise hat es seine Logik, dass Moskau die Ukraine, den unmittelbaren Nachbarn, in sein Sicherheitsdispositiv integrieren möchte.
Nur, die Ukraine hat wie vielleicht nur noch Weissrussland, erlebt, was es heisst, Pufferzone, Kriegsschauplatz, Anhängsel einer Grossmacht zu sein. Das Erlebte und Erlittene liegt zwar teils weit zurück, aber es ist eingelagert im Gedächtnis der Menschen. Sie wollen unter keinen Umständen die Repetition der Geschichte. Sie haben deren Lehren gezogen.
Gefangen in altem Machtdenken
Von Russland lässt sich das nicht behaupten. Weshalb, fragt man sich, hat Russland nie versucht, den offensichtlich unentbehrlichen Nachbarn nach Kriterien der Gleichwertigkeit, der Vernunft, des Interessenausgleichs zu behandeln? Woher kommt dieser eigentümliche Zwang, sich dem andern gegenüber, den man an sich binden möchte, maximal unattraktiv zu machen? Hat es nichts anderes zu bieten, als seiner Umgebung mit protziger Machtenfaltung entgegenzutreten?
Russland hätte anderes zu bieten. Es bedürfte endlich einer Aufarbeitung und Debatte über die verhängnisvollen Irrwege, die das Riesenreich seit hundert Jahren eingeschlagen hat. Die intellektuelle Potenz, eine solche Altlast-Debatte zu führen, hätte das Land ohne Zweifel. Doch Putins Regime debattiert nicht, es bremst systematisch jene aus, die – wie etwa Memorial – diesen Anspruch haben. Dafür wird von Staates wegen die Geschichte als Patriotismusquelle missbraucht und Stalin, dessen Personenkult und Verbrechen sein Nachfolger Chruschtschow in der berühmten «Geheimrede» von 1956 gegeisselt hatte, wieder aufs Podest gehoben.
Russen und Russinnen verdienten Besseres als solche Stagnation.