Das Ende der Beobachtermission ist ein Rückschlag für die internationale Diplomatie. Die Beobachter sind zwar noch vor Ort, doch sie mussten zugeben, dass sie nicht in der Lage sind, ihre Mission zu erfüllen. Sie haben erklärt, bis auf Weiteres würden sie ihre Unterkünfte in den syrischen Städten nicht mehr verlassen. Die Mission der unbewaffneten Uno-Beobachter werde zu gefährlich. Die beiden Kampfparteien seien nicht bereit, den versprochenen Waffenstillstand einzuhalten. Dieser hätte von den Beobachtern kontrolliert werden sollen.
Eine neue Initiative?
Damit ist auch der Annan-Plan vorerst gescheitert. Es sei denn, es gelänge, ihn neu zu beleben. Soll dies die internationale Diplomatie versuchen? Oder soll sie neue Wege beschreiten? Wenn ja, welche?
Leider haben sich die Grundverhältnisse in Syrien nicht verändert. Beide Seiten in dem uneingestandenen Bürgerkrieg glauben, dass sie letztlich gewinnen werden. Beide Parteien fürchten, dass sie, falls sie verlören, von der Gegenseite "liquidiert" würden, was immer dies in der Praxis bedeuten könnte. Nach den Massakern ist diese Angst noch grösser geworden. Deshalb kämpfen beide Seiten weiter. Sie sind der Ansicht, Schlimmeres, als "besiegt" und "liquidiert" zu werden, könne ihnen ohnehin nicht geschehen.
Das Ausland fördert den Krieg
Beide Seiten haben nach wie vor ihre ausländischen Stützen. Das Asad-Regime die Russen, die Chinesen und die Iraner. Die Aufständischen können in erster Linie auf die Saudis und die anderen Golfstaaten zählen. Aber auch die Türken, die Europäer und die Amerikaner stehen auf der Seite der Aufständischen, wenn auch eher diplomatisch als praktisch.
Beide Seiten blockieren einander. Wenn die internationale Diplomatie nichts erreichen kann, wird der Bürgerkrieg intensiver und immer grausamer werden. Er wird mehr Zerstörung bringen und immer mehr Menschenleben kosten.
Sein Ausgang ist nicht voraussehbar. Zwar sind die Regierungstruppen mit ihrem Waffennachschub aus Russland ohne Zweifel überlegen und werden es wohl geraume Zeit bleiben. Doch ob sie das Land unter Kontrolle halten können, bleibt offen – ein Land, in dem sich die Mehrheit immer verzweifelter gegen die Regierung auflehnt.
Eine der entscheidenden Fragen ist, ob die syrische Armee der Desertionsbewegung Herr werden kann. Diese Absetzbewegung macht ihr schwer zu schaffen und reduziert ihre Kampfkraft. Dies ist ein Krieg im Krieg, von dem man, wie von allen Kriegen, nicht voraussagen kann, wozu er noch führen wird.
Eine andere entscheidende Frage ist, wie weit und wie lange Russland und Iran das Regime weiterhin unterstützen werden.
Warum hilft Russland dem Asad-Regime?
Die Vermutungen gehen weit auseinander, warum Moskau Syrien unterstützt. Ist es "nur" wegen der materiellen Interessen, wie dem syrischen Waffenmarkt und der russischen Marine-Basis in Tartous? Oder erfolgt die Unterstützung aus politischen Gründen? Will Moskau kein zweites Libyen sehen? Will Moskau verhindern, dass ein befreundetes Regime durch westliche Einflüsse abgesetzt wird? Wäre eine vom Westen unterstützte Volksbewegung erfolgreich, könnte dies ein Präzedenzfall sein und auch andere von Moskau unterstützte Klientel betreffen – vielleicht sogar Moskau selbst. Sieht Peking dies ähnlich?
Könnte Russland zu einer Lösung Hand bieten?
Diese Fragen sind wichtig. Von ihrer Gewichtung hängt ab, ob die künftigen diplomatischen Schritte erfolgreich sein werden. Geht es Moskau vor allem um seinen lockeren Verbündeten Syrien und um die Vorteile, die dieses Klientelverhältnis bringt? In diesem Fall könnten die Diplomaten damit rechnen, dass Moskau früher oder später erkennt, dass dieser Klient, verstrickt in einen langfristigen und verderblichen Bruderkrieg, an Nutzen verliert.
Dann gilt, was die diplomatischen Quellen oft andeuten: "An einem Chaos in Syrien hätte Moskau auch kein wirkliches Interesse". Deshalb kann der Moment kommen, und man kann versuchen, ihn möglichst rasch herbeizuführen, in dem Russland die Hand bietet zu einer Beruhigung des syrischen Streits, selbst wenn damit Asad und sein Regime geopfert werden müssten.
Vorgeschobene Selbstverteidigung
Doch wenn es Moskau weniger um Syrien geht, sondern darum, den Präzedenzfall „Absetzung durch Volkserhebung, unterstützt durch den Westen“ zu verhindern, dann sind die Aussichten, eine Mitarbeit Moskaus zu erwirken, sehr viel geringer. In diesem Fall könnte sich Moskau sagen: Besser ein Bürgerkrieg in Syrien als das Risiko eingehen, dass ein solcher Bürgerkrieg auch bei uns ausbricht – oder genauer: vom Westen zum Ausbruch gebracht werden kann.
Kenner der Verhältnisse in Russland neigen zu diesem zweiten Szenario. So ist anzunehmen, dass die Hilfe Russlands für Syrien bis zum bitteren Ende nicht aufhören wird. Denn in diesem Fall betrachtet Moskau diese Hilfe als eine Art vorgeschobene Selbstverteidigung. Ohne sie könnten die eigenen Machtverhältnisse tangiert werden. In der Ukraine und im georgischen Kaukasus hat es schon Bewegungen gegeben, die für Moskau ein Alarmzeichen sind.
Iran sieht sich als belagerte Festung
In Teheran liegen die Beweggründe für eine syrische Unterstützung etwas anders, doch sie sind letzten Endes verwandt. Der Westen glaubt sich von Teheran herausgefordert. Doch Teheran sieht sich mit eher besseren Gründen seinerseits vom Westen herausgefordert. Bessere Gründe vor allem im Sinne von "mehr gefährdet".
Teheran argumentiert so: „Israelische und amerikanische Militärstützpunkte liegen rund um uns herum. Israelische und amerikanische Atombomben bedrohen uns. Amerikanische Waffenexperten rüsten Saudiarabien und andere Golfstaaten mit amerikanischen Waffen auf. Auch das ist eine Gefahr für uns. Vor allem mit unseren schiitischen Brüdern in der arabischen Welt versuchen wir Einfluss im Nahen Osten zu erlangen. Dies ist ein Selbstschutz; wir wollen den Drohungen, die gegen uns gerichtet sind, entgegentreten. Wir bauen Barrikaden und Hindernisse auf, damit dem Feind ein möglicher Angriff gegen uns teuer zu stehen käme. Falls wir uns doch noch dazu entschliessen sollten, eine Atombombe zu bauen, geschähe dies auch aus den gleichen Gründen, gewissermassen als Notwehr."
Jahrzehnte des Drucks auf Iran
Von dieser Grundhaltung wird Teheran nicht abweichen, solange es seine gegenwärtige politische Marschrichtung weiterführt. Deshalb wird Iran Asad und - via Syrien - die Hizbullah in Libanon weiter unterstützen. Diese Politik begann mit der Khomeiny-Revolution 1979. Seither haben die USA alles getan, was sie vermochten, um Iran dazu zu veranlassen, bei dieser Marschrichtung zu bleiben und sie nach Kräften weiter auszubauen. Dazu gehört die Unterstützung Saddam Husseins in seinem achtjährigen Krieg gegen Iran. Bis heute gibt es keine diplomatischen Beziehungen der USA mit Teheran. Alle Vermittlungs- und Versöhnungsinitiativen, die Iran einleiten wollte, wurden zurückgewiesen. Es folgte der Atomstreit mit den amerikanischen Forderungen, alle Uran-Anreicherung einzustellen, sogar jene, welche Iran nach den internationalen Verträgen erlaubt ist. Folge davon sind Boykott-Aktionen, die darauf abzielen, die gesamte iranische Wirtschaft zu zerstören.
Bindeglied in der heutigen Politik Teherans
Teheran sieht dies als eine Art von Generationenkrieg, die "der grosse Teufel", wie Khomeiny die USA taufte, „gegen uns anstrengt.“ Syrien ist für Iran ein Pufferstaat gegen die amerikanische Bedrohung – vor allem das Syrien der Alawiten und des Asad-Regimes.
Asad kann so lange auf iranische Hilfe zählen, wie Teheran am bisherigen Kurs festhält. Wenn aber Iran dazu überginge, freundschaftliche Beziehungen zu seinen nahöstlichen Nachbarn zu knüpfen – auch zu den schwer zu befreundenden sunnitischen Nachbarn – müsste Asad fürchten, dass er keine Hilfe mehr aus Teheran kriegt. Im Fokus steht hier Saudiarabien, der sunnitische Vorkämpfer gegen Iran. Die Saudis sind Schützlinge und Financiers der USA. Auch die iranische Politik gegenüber Washington müsste neu ausgerichtet werden. Und natürlich auch jene gegenüber Israel.
Für Syrien kommt alles zu spät
Die 30 Jahre verfehlter amerikanischer Politik wiegen schwer. Doch auch Iran müssen grosse Fehler angerechnet werden, zum Beispiel die Geiselnahme der amerikanischen Diplomaten im ersten Jahr der iranischen Revolution. Wenn es je eine Umorientierung in den verfehlten Beziehungen geben sollte, wird sie im besten Falle in kleinen Schritten vorankommen. Ein Beispiel wäre die amerikanische China-Politik seit Nixon und Kissinger. Für Syrien ist das alles viel zu spät! Doch die Entwicklung in Iran wird sich auch auf den syrischen Bürgerkrieg auswirken.
Wie Mäuse im Tretrad
All dies lässt befürchten, dass sich die Syrien-Diplomatie im Kreis drehen wird. Solange sich die Grundverhältnisse nicht ändern, erinnert diese Diplomatie an das Tretrad der Mäuse. Man strampelt, doch man dreht sich am gleichen Ort.
Die Grundverhältnisse könnten geändert werden, wenn sich der Westen zum Beispiel an einen Interventionskrieg à la Jugoslawien entschliessen könnte. Dadurch würden, mit robusten Methoden, neue Grundlagen geschaffen.
Doch auch so gäbe es viel Unvorhersehbares. Vor den amerikanischen Wahlen wird dies nicht geschehen. Und nach ihnen? Im Zusammenhang mit einem – wahrscheinlich katastrophalen – iranischen Krieg? Wer weiss? In Syrien wird in der Zwischenzeit noch viel gelitten.