Für viele im Westen ist das Ende der Sowjetunion auch zwanzig Jahre nach ihrem Zusammenbruch ein unbewältigtes Ereignis: Das „Imperium des Bösen“ ist ohne den „grossen Knall“ verschwunden, auf den der Westen so stark fixiert war. Es kam auch zu keinem Massenexodus aus der Ex-Sowjetunion, mit dem Westeuropa wegen einer befürchteten Hungersnot ernsthaft gerechnet hatte. Auch eine Weimarer Situation ist nicht entstanden, obwohl Massenarmut und Chaos nach einem „Retter“ verlangt hätten. Weder der Kommunist Sjuganow noch der rechtsextreme Schirinowski sind an die Macht gekommen.
Die im Westen in den neunziger Jahren weit verbreiteten Katastrophenszenarien sind also nicht eingetreten. Der Westen feierte den Zusammenbruch des Kommunismus und der Sowjetunion als „revolutionäre Zeitenwende“, als „Ende der Geschichte“, aus der er als Sieger hervorgegangen sei. Zwanzig Jahr später haben sich diese Einschätzungen als naiv erwiesen.
Trotz einer Heerschar von Sowjetologen wurde der Westen von den Ereignissen überrascht. „Ein so allumfassendes System kann nicht einfach sterben, sondern muss getötet werden“, schrieb damals beispielsweise der amerikanische Historiker Theodore Draper. Er traf damit die vorherrschende Stimmung recht gut. Man war vom Feind hypnotisiert, während Jahrzehnten waren die Rollen von Gut und Böse verteilt. Und plötzlich sollte man sich von den Denkschablonen des Kalten Krieges lösen, umdenken und Neues beginnen. Dieser Prozess ist bis heute noch nicht abgeschlossen.
Erfolgsgeschichte und Tragödie
Umdenken setzt eine realistische Beurteilung der „Zeitenwende“ voraus. So ruft der russische Politologe Dmitry Trenin wichtige Zusammenhänge in Erinnerung, die im Westen oft übersehen werden: „Wenn wir heute richtig einschätzen wollen, was der Kollaps der Sowjetunion bedeutet, dürfen wir nicht vergessen, dass es die russische Gesellschaft selber war, die dem kommunistischen Regime ein Ende bereitet hat, ohne Hilfe oder Ratschläge von aussen. Und das kommunistische System hat ein schreckliches Erbe hinterlassen - vor allem in menschlicher Hinsicht.“
Der Sturz des kommunistischen Regimes, so erinnert der Direktor des Moskauer Carnegie Zentrums, zog auch den Zerfall des sowjetischen Imperiums nach sich. Dieser „zweite“ Zusammenbruch, im Westen als Sieg im Kalten Krieg gefeiert, wird bis heute von einem Grossteil der russischen Bevölkerung bedauert. Als Wladimir Putin 2005 das Ende der Sowjetunion als „grösste strategische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete, provozierte er im Westen empörte Reaktionen, in Russland jedoch wusste er eine Mehrheit hinter sich.
„Bitterer Abschied vom Arbeiterparadies“
Denn in Russland fiel die Bevölkerung nach der „Zeitenwende“ trotz so mancher politischer Freiheiten auf das Niveau einer geradezu vormodernen Gesellschaft zurück. Sie verarmte in einem nicht für möglich gehaltenen Ausmass. Die Politik sah sich hilflos einer Schurkenwirtschaft gegenüber, die von Oligarchen, mafiösen Gruppen und Kadern der alten Nomenklatura beherrscht wurde. Was das Ende der Sowjetunion konkret für die russische Bevölkerung bedeutete, erfuhr ich im Juni 1993 bei einem Besuch in dem etwa 300 Kilometer nordöstlich von Moskau gelegenen Textilstädtchen Juscha. Während Jahrzehnten lebte hier die Bevölkerung in einem bescheidenen, aber gesicherten Wohlstand. Der Direktor der weit und breit einzigen Fabrik war für alles zuständig: nicht nur für den Betrieb, sondern auch für Strassen, Heizung, Kindergärten, Klinik.
Die Auflösung der Sowjetunion und Einführung der Marktwirtschaft hatten für Juscha dramatische Folgen. Die für die Textilindustrie zuständigen Ministerien wurden aufgelöst. Juscha war plötzlich sich selbst überlassen. Der Fabrikdirektor hätte jetzt die gleiche Baumwolle aus Usbekistan zu Weltmarktpreisen auf einer Rohstoffbörse einkaufen und mit eigenen Mitteln für das Marketing der Produkte sorgen müssen. „Uns fehlten die Erfahrung und die Mittel“, sagte der Direktor. Während Monaten stand der Betrieb still, die Belegschaft wurde in Zwangsferien geschickt, die Kantinen, Kindergärten und Gesundheitszentren wurden geschlossen. „Bitterer Abschied vom Arbeiterparadies“ hiess der Titel meiner Reportage. Zwei Jahre später befand sich die Fabrik in den Händen einer Moskauer Mafia. Der Direktor war unter mysteriösen Umständen gestorben.
Von der „Schocktherapie“ überrumpelt
Juscha war überall. Die Krise kristallisierte sich im Oktober 1993 in Moskau. Im russischen Parlament hatte sich eine Opposition gegen die radikalen Reformen verschanzt. Präsident Jelzin liess das Parlament verfassungswidrig durch die Armee stürmen. Die „Oktober-Ereignisse“ forderten weit über hundert Todesopfer. Warum, fragte sich die schockierte Bevölkerung, waren die Sowjetunion und der Kommunismus ohne grosses Blutvergiessen zusammen gebrochen, während die Einführung des Kapitalismus einen so hohen Blutzoll forderte ? Yegor Gaidar, Jelzins Premierminister und Architekt der Radikalreformen, versuchte auf diese Frage indirekt zu antworten: „Wir haben nichts erklärt und die Bevölkerung allein gelassen.“ Gaidars Selbstkritik bekräftigt die These, dass die russische Bevölkerung von der „Schocktherapie“ überrumpelt wurde, und erklärt auch, warum viele bis heute Demokratie und Marktwirtschaft mit Chaos und Bereicherung gleichsetzen.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion ist geschichtlich gesehen etwas Einmaliges. In anderen Imperien zerbrach die Welt der Krone und des Adels. Das Weltbild der Begüterten wurde erschüttert, aber nicht zwangsläufig das der Untertanen. In Russland jedoch war es umgekehrt: Dank der per Dekret erlassenen Privatisierung gelang es dem sowjetischen „Adel“, sich zusammen mit den Neureichen in die neue Welt hinüberzuretten. Für einen Grossteil der Bürger hingegen stürzte mit dem Ende des „Arbeiter– und Bauernstaates“ eine Welt zusammen. Es war nicht das versprochene Paradies auf Erden gewesen, aber - wie in Juscha - eine Welt der kleinen Gleichheit und Sicherheit. Die Privatisierung machte diesen sozialen Garantien ein Ende. In Russland entstanden frühkapitalistische Verhältnisse.
Aus westlicher Sicht brachte die „Zeitenwende“ weitgehende Presse- Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Präsident Jelzin durfte kritisiert werden, selbst der erste Tschetschenienkrieg konnte 1996 unter dem Druck einer von kritischen Medien informierten Bevölkerung beendet werden. Aber Massenverelendung und Chaos sind kein guter Nährboden für Freiheit. Was nützt es, die Wahrheit zu erfahren, wenn man nichts ändern kann – so dachten damals viele Russen. Was bringen uns all die Freiheiten, wenn die Gegenwart trostlos und unsere Zukunft ungewiss ist ?
Gegengift Putin und Sowjetnostalgie
Als Putin 2000 an die Macht kam, befand sich Russland in einem desolaten Zustand: Die Industrieproduktion war um etwa 53 Prozent geschrumpft. Die Sterblichkeitsrate war seit 1991 um 60 Prozent gestiegen und die durchschnittliche Lebenserwartung des Mannes auf 58 Jahre gesunken. Der gleiche Prozess, den Strobe Talbott – Russlandberater des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton - 1993 in einem Senats-Hearing, als „Beginn einer russischen Wiedergeburt“ bezeichnet hatte, entpuppte sich als „menschliche Krise monumentaler Proportionen“, wie das UN Development Program den Übergangsprozess in Osteuropa und den GUS Ländern 1999 charakterisierte. Als „Obervolta mit Atomraketen“ wurde der Nachfolgestaat der Sowjetunion im Westen verspottet.
Nach dem unpopulären, schwachen und alkoholabhängigen Jelzin präsentierte sich Putin als Garant eines „starken Staats“, der für „Sicherheit“ und „Stabilität“ sorgt. Der russische Politologe Alexander Domrin versteht die Wirkung Putins als ein „Gegengift für eine Bevölkerung, welche die Demütigung des wirtschaftlichen und politischen Zerfalls bis heute nicht überwunden und nicht vergessen hat, wie der Westen in der entscheidenden Phase der Weichenstellung falsche Strukturen und unpopuläre Politiker unterstützte.“
Unter Putin begann die russische Bevölkerung, wieder von den „guten alten Zeiten“ zu träumen. Zehn Jahre nach dem Ende der Sowjetunionwaren waren die Hoffnungen auf ein prosperierendes Russland erloschen. Und so erinnerten sich viele an die Breschnew-Zeit, die von Dissidenten als Stagnation kritisiert worden war und die Michail Gorbatschows Politik der Perestroika notwendig gemacht hatte. Aber hatte es in der Ära von Leonid Breschnew nicht ein funktionierendes Erziehungs- und Gesundheitssystem gegeben ?
Eigentum im Magnetfeld der Macht
Mittlerweile geht die Nostalgie soweit, dass das Wort „sowjetisch“ bei einer Mehrheit der Bevölkerung positive Gefühle weckt. Dafür sorgen unter anderem Filme, Lieder und Neuauflagen alter sowjetischer Programme, die auf Geheiss des Kremls jede Woche am Fernsehen ausgestrahlt werden.
Abgeschirmt durch diese Nostalgie-Kulisse begann Putin, die unter Jelzin an die Oligarchen verschacherte Wirtschaft wieder zu renationalisieren. Der dafür in den westlichen Medien oft gebrauchte Begriff „Staatsmonopolkapitalismus“ geht aber an der Wirklichkeit vorbei. Es ist nicht der Staat, der sich ein Monopol verschafft, sondern eine kleine Machtgruppe, die sich den Staat angeeignet hat und ihn als Instrument ihrer monopolistischen Interessen nutzt.
Das Monopol dient zwei Zielen, die sich gegenseitig stützen: Der Gewinnmaximierung und dem Machterhalt. Yegor Gaidar hatte mit der Privatisierung erstmals in der russischen Geschichte den verhängnisvollen Pakt von Eigentum und Macht brechen wollen. Als er nach seinem Rückzug aus der Regierung Jelzin (1994) verstanden hatte, dass ihm das misslungen war, meinte er: „Solange in Russland Eigentum im Magnetfeld der Macht zirkuliert, wird sich das Land nie zu einem modernen Staat entwickeln.“ Das „Magnetfeld“ blockiere die demokratische Öffnung. Denn die Elite werde nie freie Wahlen erlauben, weil sie wisse, dass sie dann nicht nur ihre Macht, sondern auch ihren illegitimen Reichtum verlieren würde.
(Zweiter Teil folgt)