Als Folge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sind weltweit etwa 360 Milliarden US-Dollar an russischen Vermögen blockiert worden. Je länger der Krieg dauert, desto lauter werden Forderungen, diese blockierten Vermögen einzuziehen und der Ukraine zur Verfügung zu stellen. Eine Schweizer Stiftung, die konfiszierte afghanische Zentralbank-Vermögen verwaltet, könnte dabei als Vorlage dienen
Der internationale Druck auf die Schweiz nimmt zu. Anfang April erhielt der Bundesrat einen harschen Brief der Botschafter der G-7-Länder, einem Club der grössten demokratischen Industrienationen. Darin steht, dass die Suche nach russischen Geldern in der Schweiz intensiviert werden müsse. Dabei hat sich die Schweiz — was die finanziellen Sanktionen gegen Russland betrifft — für ihre Verhältnisse schon weit bewegt. Seit der Kriegseskalation im Februar 2022 übernimmt sie alle EU-Sanktions-Pakete gegen Russland. Und die Schweiz hat im Zusammenhang mit den Sanktionen bisher mehr private russische Vermögenswerte gesperrt als jedes einzelne EU-Land.
Am diesjährigen WEF in Davos überraschte der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis zudem mit der Aussage, dass die eingefrorenen russischen Vermögen in der Schweiz konfisziert werden könnten und eine mögliche Quelle für den Wiederaufbau in der Ukraine seien. Das Statement war zwar eingebettet in der Forderung, dass solche Massnahmen international abgestimmt und auf einer passenden Gesetzesgrundlage umgesetzt werden müssten. Trotzdem waren das ganz neue Töne für Schweizer Regierungsmitglieder.
Vor allem in EU-Ländern, den USA und Kanada sind seit Monaten Bestrebungen im Gange, die Vermögen von sanktionierten Oligarchen und der russischen Zentralbank effizienter aufzuspüren, zu blockieren und möglicherweise zu enteignen und danach der Ukraine zur Verfügung zu stellen. Und Politiker aus der EU und den USA haben der Schweiz wiederholt klargemacht, dass sie bei den internationalen Massnahmen zur Unterstützung der Ukraine nicht abseitsstehen könne. Ignazio Cassis’ überraschende Aussage am WEF war eine Reaktion darauf.
In der Schweiz sind bisher private Vermögen im Umfang von gut 7.5 Milliarden Franken eingefroren worden. Dazu kommt noch eine unbekannte Summe blockierter russischer Zentralbankgelder. Weltweit belaufen sich die blockierten russischen Vermögen insgesamt auf geschätzte rund 360 Milliarden US-Dollar. Davon gehören grob 300 Milliarden der russischen Zentralbank und etwa 60 Milliarden sind private Vermögen.
In einem Tweet vom 30. November 2022 fand EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen deutliche Worte darüber, was mit den blockierten Vermögen gemacht werden soll: «Russland muss für seine grausamen Verbrechen bezahlen. … Wir werden dafür sorgen, dass Russland mit den eingefrorenen Geldern der Oligarchen und den Vermögenswerten seiner Zentralbank für die von ihm verursachten Verwüstungen bezahlt.»
Die rechtlichen Möglichkeiten sind umstritten
Eine Konfiszierung von russischen Vermögen ist aber heikel. Juristen warnen vor einer Unterhöhlung der Eigentumsrechte, falls Enteignungen von blockierten Geldern durchgeboxt würden. Auch das Bundesamt für Justiz kommt in einer kürzlich veröffentlichten Analyse zum Schluss, «dass die Konfiskation privater russischer Vermögenswerte gegen die Bundesverfassung und die geltende Rechtsordnung verstossen würde». Die Enteignung der russischen Zentralbank würde zudem die im Völkerrecht verankerte Immunität von Staaten verletzen.
Trotzdem gibt es für Konfiskationen von privaten und staatlichen Vermögen einige wenige Beispiele in der jüngeren Vergangenheit. Italien hat über Jahre Erfahrung mit Enteignungen von Vermögen gesammelt, die dem organisierten Verbrechen zugeschrieben werden. Laut dem Rechtsexperten Mark Pieth könnte auch die Schweiz auf Grundlage schon bestehender ähnlicher Gesetze Oligarchen enteignen.
Und erst im Februar 2022 wurde in den USA auf Anordnung von Präsident Joe Biden die Zentralbank von Afghanistan enteignet. Seit November 2022 werden dreieinhalb Milliarden Dollar dieser konfiszierten Vermögen von einer Stiftung in Genf mit Hilfe des Schweizer Aussendepartements verwaltet. Laut Matthias Goldmann, Professor für internationales Recht an der Universität in Wiesbaden, «könnte die Schweizer Stiftung als Muster für die Organisation und Verwaltung von konfiszierten russischen Zentralbankgeldern dienen.»
Alle Demokratien in Europa werden bedroht
Für Osteuropa-Kenner wie Timothy Ash stellt der russische Angriffskrieg die grösste Bedrohung für Europa seit dem Zweiten Weltkrieg dar. «Wir sollten nicht vergessen, dass der Krieg in der Ukraine nicht nur ein Angriff auf die Ukraine ist, sondern auch auf … unser System der westlichen liberalen Marktdemokratie», schreibt Ash. Und die russischen Aggressionen würden nicht aufhören, solange Putin nicht gestoppt werde.
Die Liste der bekannten aggressiven Handlungen des russischen Staatsapparates gegen den Westen und die Nachbarsstaaten Russlands war auch schon vor der Kriegseskalation in der Ukraine lang. Russische Troll-Fabriken versuchen seit Jahren, die öffentliche Meinung, Wahlen und Abstimmungen im Ausland zu beeinflussen; links- und rechtsextreme Parteien in Europa sind von Russland unterstützt worden, um Gesellschaften zu spalten; staatliche und private russische Hacker haben wiederholt ausländische Unternehmen und staatliche Infrastrukturen angegriffen, und Aufstände sind vom Kreml orchestriert worden, um Regierungen zu destabilisieren, die nicht Russland-freundlich sind.
Dazu kommen noch mehrere Mordanschläge, manchmal mit chemischen oder radioaktiven Substanzen, die durch russische Geheimdienste in europäischen Städten verübt worden sind.
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt jetzt, dass die russische Führung auch bereit ist, tausende Zivilisten umzubringen, zivile Infrastruktur zu zerstören, Folter, Vergewaltigungen und Entführungen von Kindern zu akzeptieren, um ihre Expansionsziele zu erreichen.
Aus diesen Gründen, argumentieren immer mehr Politiker und Experten, müsse ein Sieg Russlands gegen die Ukraine unbedingt verhindert werden.
Die Geldgeber der Ukraine entlasten
Seit der Eskalation des russisch-ukrainischen Kriegs im Februar 2022 haben vor allem westliche Länder der Ukraine militärische, finanzielle und humanitäre Hilfe im Umfang von gut 150 Milliarden US-Dollar zugesagt oder bereitgestellt. Dazu kommen noch Milliardenbeträge von multilateralen Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds, Hilfswerken und privaten Spendern.
Die weitere Finanzierung der Verteidigung der Ukraine, die Versorgung der ukrainischen Bevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern, die Reparatur der zerbombten Infrastruktur und der zukünftige Wiederaufbau der teilweise dem Erdboden gleichgemachten ukrainischen Städte werden nochmals hunderte Milliarden kosten.
Doch nicht alle Geldgeber wollen oder können kontinuierlich Milliardenbeträge für die Ukraine bereitstellen, obwohl das für den Kriegsverlauf entscheidend sein könnte. In den USA, dem grössten Geldgeber der Ukraine, nimmt der Druck einiger prominenter Mitglieder der republikanischen Partei zu, die Hilfen für die Ukraine zu kürzen. Der Gouverneur von Florida und mögliche republikanische Präsidentschaftskandidat, Ron DeSantis, sagte diesen März gegenüber Fox News: «Die USA haben viele wichtige nationale Interessen … eine weitere Verwicklung in einen Territorialstreit zwischen der Ukraine und Russland gehört nicht dazu.»
Durch die Beschlagnahmung der blockierten russischen Vermögen könnte die Infrastruktur und Wirtschaft der Ukraine finanziert werden, ohne die Geberländer zu belasten, argumentiert die Regierung der Ukraine. Zudem sei es sowieso nicht wahrscheinlich, dass die blockierten Vermögen zurückgegeben würden. Tatsächlich haben die UNO-Mitgliedstaaten im November 2022 eine Resolution verabschiedet, die Russland dazu verpflichtet, für die Schäden in der Ukraine aufzukommen. Und die Europäische Kommission schlägt vor, dass blockierte oder konfiszierte russische Vermögen mit zukünftigen Reparationsabkommen mit Russland verrechnet werden.
Die Kosten einer Enteignung sind hoch
Greta Fenner vom Basel Institute on Governance, ein Institut, das Korruption bekämpft, spricht sich im Schweizer Fernsehen aber klar gegen eine politisch erzwungene Konfiskation von Oligarchen-Vermögen aus: «Gelder schlichtweg einziehen, weil es sanktionierte Gelder sind … ist für mich heikel, denn das entspricht für mich eigentlich einer Art von Enteignung, die man aus Diktaturen kennt.»
Auch die Konfiszierung der russischen Zentralbankvermögen wäre wegen des Grundsatzes der Immunität von Staaten rechtlich fragwürdig. Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten schreibt darüber: «Die Staatenimmunität entzieht den Staat der Strafverfolgung durch die Gerichte anderer Saaten und schützt ihn vor der Zwangsvollstreckung seiner Guthaben und Vermögenswerte.»
Für Peter Kunz, Professor für Wirtschaftsrecht an der Universität Bern, ist es deshalb undenkbar, dass eine neutrale Schweiz die russischen Zentralbank-Reserven konfisziert. Laut Kunz wäre das nur dann akzeptabel, wenn eine solche Enteignung international breit abgestützt wäre und auch den Segen der UNO bekommen würde.
Die Finanzbranche fürchtet vor allem die wirtschaftlichen Kosten von Enteignungen. Die Konfiszierung von russischen Geldern würde zu massiven Abflüssen von Geldern aus Schweizer Banken führen, warnen Bankenvertreter. Im Februar sagte Josef Ackermann, ehemaliger Chef der Deutschen Bank, im Schweizer Fernsehen, dass eine Konfiskation «verheerend für den Finanzplatz wäre». «Dann müssten künftig auch Bürger anderer Länder Angst haben, in der Schweiz Geld anzulegen», sagte er weiter. «Denn sobald deren Regierungen völkerrechtlich etwas Zweifelhaftes tun — das geschieht ja durchaus auch in Nato-Ländern — müssten sie mit Konsequenzen rechnen.»
Auch die US-Finanzministerin Janet Yellen steht einer Enteignung der russischen Zentralbank kritisch gegenüber. Denn eine willkürlich wirkende Konfiskation von russischen Dollar-Vermögen könnte den Status des US-Dollars als globale Leit- und Reservewährung beschädigen.
Zudem müssten westliche Firmen nach einer Konfiszierung russischer Vermögen mit Gegenmassnahmen rechnen. Die Sprecherin des russischen Aussenministeriums kündigte bereits Vergeltung an, sollten die blockierten russischen Vermögen eingezogen werden. Auch der stellvertretende Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Dmitry Medwedew, machte schon kurz nach der Kriegseskalation im Februar 2022 deutlich, dass die Nationalisierung von westlichen Firmen in Betracht gezogen werde, falls russisches Eigentum konfisziert werden sollte.
Die Enteignungsprozesse laufen schon
Trotz aller Bedenken hat die Konfiskation von Vermögen von Oligarchen in einigen Ländern bereits begonnen. Die USA und Italien leiteten bereits erste gerichtliche Schritte ein, um blockierte Vermögen einzuziehen. Die kanadische Regierung begann schon im Dezember 2022, mit einer eigens für sanktionierte Personen geschaffenen Gesetzesgrundlage, einen Prozess gegen Roman Abramowitsch. 26 Millionen US-Dollar sollen von ihm konfisziert und der Ukraine zur Verfügung gestellt werden.
Und Kroatien plant die auf über 200 Millionen US-Dollar Wert geschätzte Jacht «Royal Romance» von Viktor Medwedtschuk, einer engen Bezugsperson von Putin, zu versteigern.
Spielraum für eine Zentralbankenteignung
Die russische Zentralbank wurde bisher noch von keinem Staat enteignet, obwohl die blockierten Reserven der russischen Notenbank mit geschätzten etwa 300 Milliarden US-Dollar den grössten Anteil an den weltweit blockierten russischen Vermögen ausmachen. Die rechtlichen Möglichkeiten für eine Enteignung der Zentralbank werden aber von vielen Ländern ausgelotet.
Verschiedene Rechtsexperten sehen einen Spielraum für eine Konfiskation der russischen Zentralbankvermögen. Für Matthias Goldmann habe Russland mit dem Angriffskrieg ein internationales Verbrechen begangen, und das sei ein schwerwiegender Verstoss gegen eine Norm des zwingenden Völkerrechts. Das «kann grundsätzlich auch von Drittstaaten geahndet werden». Und zu den Ahndungsmöglichkeiten könne je nach Interpretation auch die Enteignung der russischen Zentralbank gehören.
Der ehemalige Harvard-Professor für Verfassungsrecht, Laurence Tribe, argumentiert, dass der US-Präsident bereits die rechtlichen Mittel habe, um russische Zentralbankvermögen zu konfiszieren. Diese Mittel seien von Biden auch jüngst bei der Enteignung der afghanischen Notenbank angewendet worden.
Die Guten Dienste der Schweiz
«Im Sinne ihrer Guten Dienste», wie es in einer Medienmitteilung des Bundesrats heisst, half das Schweizer Aussen- und Finanzdepartments den US-Behörden die Genfer Stiftung «Fund for the Afghan People» zu gründen. Im November 2022 überwiesen US-Behörden der Stiftung Vermögen im Umfang von dreieinhalb Milliarden Dollar, die Joe Biden zuvor von der afghanischen Zentralbank konfiszieren liess. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit bestimmen seither zwei afghanische Wirtschaftsexperten, ein Beamter des US-Finanzministeriums und Alexandra Baumann, eine Beamtin des Schweizer Aussenministeriums, über die Verwendung dieser konfiszierten Zentralbankvermögen.
Die USA haben mit der Enteignung der afghanischen Zentralbank nicht zum ersten Mal Vermögen einer ausländischen Notenbank konfisziert. Auch Zentralbankvermögen des Irak, Iran und von Venezuela wurden in den vergangenen 20 Jahren aus unterschiedlichen Gründen eingezogen. Für die Verwaltung von allenfalls konfiszierten russischen Geldern sei das Modell des Genfer «Fund for the Afghan People» aber am ehesten ein Präzedenzfall, meint Matthias Goldmann.
Ob eine Konfiszierung von russischen Zentralbankvermögen schlussendlich durchgeführt wird, ist trotz aller rechtlicher Diskussionen eine politische Entscheidung. Die Praxis der Staaten beeinflusse auch die Interpretation des Völkerrechts im Sinne eines Gewohnheitsrechts, sagt Matthias Goldmann. «Auf jeden Fall sei es völkerrechtlich aber deutlich einfacher, eine Konfiszierung der russischen Zentralbankvermögen zu rechtfertigen als die Enteignung der afghanischen Zentralbank.» Aber während es bei der Enteignung von Afghanistan um einstellige Milliardenbeträge ging, wären bei der russischen Zentralbank geschätzte 300 Milliarden betroffen.
Die G-7-Staaten und die EU werden möglicherweise in naher Zukunft einen Entscheid fällen, ob die privaten Vermögen und Zentralbankreserven Russlands systematisch konfisziert werden. Die Schweiz wird sich dann einer wie auch immer ausgefallenen Entscheidung nicht entziehen können. Und vielleicht wird Aussenminister Ignazio Cassis bald wieder in irgendeiner Form die Guten Dienste der Schweiz anbieten müssen— mit dem internationalen Druck, der auf der Schweiz lastet, hat er keinen grossen Spielraum.