Stimmt es, dass im Zusammenhang mit Putins Ukraine-Krieg das russische Volk und die russische Kultur pauschal verurteilt und verteufelt wird? Es gibt punktuell solche Tendenzen. Doch mehrheitlich sind die Urteile differenzierter. Nur im Falle Putins gibt es nichts zu relativieren.
Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan aus Charkiw, der im Oktober mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, hat eine Art Tagebuch über seine Erfahrungen, Gefühle und Gedanken seit dem 24. Februar, dem Tag des russischen Überfalls auf sein Land, veröffentlicht. Das Buch mit dem Titel «Himmel über Charkiw» ist schnell auf die deutschsprachige Bestsellerliste geklettert.
Der Schriftsteller, der auch eine Rockband leitet, mit der er bei ukrainischen Truppen auftritt, und der mit Freunden Lebensmittel und andere Hilfsgüter in ukrainische Dörfer fährt, geht in seinen Texten mit dem russischen Aggressor scharf ins Gericht. In seinem Eintrag vom 2. März schreibt er: «Die Russen sind Barbaren, sie sind gekommen, um unsere Geschichte, unsere Kultur unsere Bildung zu vernichten.»
Vier Tage später heisst es im Tagebuch: «Tolstoi und Dostojewski haben eine vernichtende Niederlage erlitten.» Das gelte auch für das russische Ballet, die russische Avantgarde («die zum Grossteil gar nicht russisch, sondern unsere ukrainische ist») und auch das russische Eishockey. «Ein Volk, das nicht in der Lage ist, vor der Bombardierung von Städten in einem fremden Land Halt zu machen», habe nicht das Recht die Schuld an allem Bösen Adolf Hitler zuzuschieben. «Das ist jetzt eure gemeinsame Last. Ihr seid jetzt gezeichnet … Hinter Dostojewski könnt ihr euch nicht mehr verstecken.»
Ein Verehrer russischer Literatur in Kiew
Man mag solche Vorwürfe an das russische Volk als allzu pauschal und undifferenziert empfinden. Aber sind solche wütenden Anklagen knapp zwei Wochen nach dem geballten Überfall russischer Armeen auf die Ukraine und angesichts der in jenen Tagen drohenden Einnahme der Stadt Charkiw nicht verständlich? Was würden wir hierzulande ins Tagebuch schreiben (oder, wie Zhadan, auf Facebook posten), wenn unsere Städte und Dörfer plötzlich von einem Nachbarland mit mörderischer Artillerie und Raketen beschossen würden, wenn Häuser zerstört sind und Tote auf den Strassen liegen?
Eine andere Stimme aus der Ukraine, die aber weniger direkt vom Kampf an der Kriegsfront betroffen ist als Zhadan, bringt auch andere Meinungen und Betroffenheiten gegenüber der russischen Kultur zum Ausdruck. Die Stimme gehört einem Bekannten in Kiew, mit dem ich seit einigen Jahren gelegentlich korrespondiere. Dieser Bekannte ist ein guter Kenner und grosser Verehrer der russischen Literatur. Auch er verflucht Putin, den er für diesen mörderischen Krieg verantwortlich macht. Aber er leidet gleichzeitig unter der allgemeinen Verteufelung der russischen Kultur und insbesondere der russischen Literatur, die seit Putins blutigem Feldzug gegen die Ukraine weitverbreitet ist. Hitzige ukrainische Nationalisten verlangen die Beseitigung von Denkmälern für den Dichtergott Puschkin, dem im russischen Kulturraum mindestens der Rang eines Shakespeare oder Goethe eingeräumt wird.
Ob mein Bekannter in Kiew je sein Vorhaben, eine Biografie über einen renommierten russischen Schriftsteller zu schreiben, der in der Endphase des Sowjetregimes zu den bekanntesten literarischen Namen zählte, je vollenden kann, ist zurzeit absolut ungewiss. Die in der Ukraine über längere Zeit hinweg bestehende Koexistenz zwischen ukrainischer und russischer Literatur scheint durch den Krieg zerbrochen.
Idealisiertes und dämonisiertes Russland
Ein langjähriger anderer Freund in St. Petersburg grämt sich nicht weniger über die im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg zumindest punktuell bestehende Tendenz, alles Russische, inklusive Sprache und Kultur, einer Sphäre des Bösen und Gewalttätigen zuzuordnen. Was liegt solchen Vorstellungen zugrunde? fragt dieser Freund. Seine Antwort lautet: Unkenntnis. Viele Leute im Westen (aber auch in Russland selber) reduzierten ihre Russlandbilder auf zwei gegensätzliche Clichés: Entweder generelle Idealisierung oder Dämonisierung. In Wirklichkeit aber sei auch Russland (ähnlich wie manche andere Länder, heute zum Beispiel die USA) ein gespaltenes Land, das nur vordergründig – bedingt durch Zensur und Repression – Putins Feldzug gegen die Ukraine scheinbar geschlossen unterstütze. Es versteht sich von selbst, dass dieser gründliche Kenner der russischen Realitäten Putins verbrecherischen Krieg gegen die Ukraine selber aus tiefster Seele verurteilt und in jeder Hinsicht für ein fürchterliches Unglück hält.
Mit den Ambivalenzen des aktuellen Russland-Bildes im Westen hat sich unlängst auch der deutsche Schriftsteller Eugen Ruge auseinandergesetzt. Ruge ist ein profunder Kenner, nicht nur der russischen Geschichte und Gegenwart, sondern auch der Realitäten in der untergegangenen DDR. Über diese Themen hat er zwei bewegende, vielschichtige Familienromane geschrieben: «In Zeiten des abnehmenden Lichts» und «Metropol». Vor kurzem hat sich Ruge, dessen Mutter Russin ist, in einem Artikel für die «Frankfurter Allgemeine» kritisch mit der europäischen Diskussion über Russland im Zusammenhang mit Putins Angriffskrieg auseinandergesetzt. Er spricht in diesem Kontext von einem inzwischen verbreiteten «Russenhass» und verweist dabei auch auf die wütenden antirussische Äusserungen des ukrainischen Friedenspreisträgers Serhij Zhadan.
Ruges Bedenken über negative Pauschalurteile zum Thema Russland sind zwar ebenso verständlich wie diejenigen der erwähnten Korrespondenzpartner in Kiew und St. Petersburg. Doch gleichzeitig kann man durchaus bezweifeln, ob ein solches undifferenziertes und kollektives Russland-Bashing tatsächlich eine vorherrschende Tendenz in der öffentlichen und medialen Auseinandersetzung mit dem Russland-Thema darstellt.
Kritik an Putin ist nicht Russland-Bashing
Eindeutig falsch und irreführend ist es hingegen, die in der westlichen Öffentlichkeit aus gutem Grund nach wie vor mehrheitliche harte Kritik an Putins unverzeihlichem Ukraine-Krieg als pauschale Russland-Verteufelung zu interpretieren. An dieser Legende strickt nicht nur die monströse russische Propaganda-Maschine. Sie wird auch von den sogenannten Putin-Verstehern im Westen gerne ausgewalzt. Diese Putin-Verharmloser behaupten in Übereinstimmung mit dem Lügen-Handbuch der Kreml-Regisseure, der «überlegene Stratege Putin» (Originalton Köppel) sei zum Einmarsch in der Ukraine eigentlich gezwungen worden, denn nur so habe er die offensiven Pläne der Nato gegenüber Russland durchkreuzen können. Ob diese einseitigen Putin-Erklärer selber an ihre antiwestlichen Verdrehungen glauben oder sie nur deshalb opportunistisch aufblasen, um möglichst viel Wind zu machen und damit das eigene Geschäftsmodell in Schwung zu halten, muss hier nicht näher untersucht werden.
Die Grundregel lautet: Bei der Einschätzung anderer Länder und Völker ist pauschales Bashing immer fragwürdig und oft die Folge mangelnden Wissens oder Nachdenkens. Bei Politikern vom Schlage Putins, dessen Skrupellosigkeit inzwischen glasklar zutage liegt, gibt es dagegen nichts zu relativieren. Er ist das personifizierte Böse. Wenn der Charkiwer Friedenspreisträger Zhadan die Russen als Barbaren bezeichnet, so wird er mit diesem Schimpfwort in erster Linie den Kriegsherrn Putin und seine Soldateska im Sinn haben. Ohne diesen gewissenlosen Barbaren im Kreml gäbe es auch keinen Ukraine-Krieg mit zehntausenden von Toten, zerstörten Städten und Dörfern und Millionen von Flüchtlingen.