Grosses hatte Hassan Rouhani vor vier Jahren angekündigt, um die Lage der religiösen Minderheiten im Iran zu verbessern. Anders als diese drei Glaubensgemeinschaften stellen die Sunniten zwar 10 Prozent der iranischen Bevölkerung, doch sie gelten – da Muslime – nicht als Minderheit. Am schlechtesten ist die Lage der Baha'i, die für die Islamische Republik gar nicht existieren.
Echte Metamorphose oder Kunst der Verstellung? Man ist sich nicht sicher. Seit fast vier Jahren stellt Präsidentenberater Ali Jounesi ein Rätsel dar, für das es bis heute keine Lösung gibt.
Jounesi ist der Beauftragte der iranischen Regierung für ethnische und religiöse Minderheiten. Und in dieser Eigenschaft sagt der 62-jährige Kleriker Sätze und besucht Orte, die für einen schiitischen Geistlichen ungewöhnlich, ja sogar frevelhaft sind. Er plaudert in jüdischen Gebetshäusern freundlich mit Rabbinern, lobt die längst abgeschaffte königliche Nationalfahne als nationales Erbe oder schwärmt für den persischen Nationaldichter Ferdowsi, der mit seinen 60‘000 Versen im „Buch der Könige“ das vorislamische Nationalepos der persischsprachigen Welt schuf.
Das Rätsel wird noch komplizierter, wenn man bedenkt, dass Jounesi vorher Geheimdienstminister und Revolutionsrichter und in diesen Positionen für seine Strenge respektive Gnadenlosigkeit berüchtigt war. Doch kaum im neuen Amt, erfand er sich mit völlig veränderten Ansichten praktisch selber neu. Was steckt dahinter: Haben sich die Zeiten so radikal verändert oder erleben wir tatsächlich die Verwandlung eines Mannes, der von revolutionären Methoden Abschied genommen hat?
Das Gebot der Verstellung
Oder ist die Sache noch viel einfacher? Wir haben es mit einem gläubigen Schiiten zu tun, der eine religiöse Pflicht erfüllt und praktiziert: die Verstellung, taghieh, تقیه. Verstellung ist mit der schiitischen Geschichte eng verflochten, denn man war in der islamischen Welt stets in der Minderheit. Und das Überleben unter Feinden war nur möglich, wenn man sich verstellte. Dieses Gebot jedoch verselbständigte sich im Laufe der Zeit so weit, dass man sich verstellt, wo es geboten scheint – auch wenn man nicht in der Minderheit ist.
Beispiele für berühmte, geschichtsentscheidende „Verstellungen“ gibt es aus der Vergangenheit ebenso wie aus der Gegenwart. Als etwa Ayatollah Ruhollah Khomeini kurz vor seinem Sieg über den Schah (1979) noch im Pariser Exil war, fragten ihn Journalisten aus aller Welt täglich, welche Art von Regime er eigentlich im Iran installieren wolle: Wie frei würden die religiösen Minderheiten in seiner künftigen Republik sein, welche Rolle würden dort Frauen oder Kommunisten innehaben? Khomeini beantwortete derartige Fragen vor laufenden Kameras stets mit solcherlei Sätzen: „Unsere Republik wird genauso sein wie die hiesige, französische, nur eben islamisch. Alle, auch Kommunisten und Frauen, geniessen Freiheit.“
Seine Versprechungen sind bestens dokumentiert und in TV-Archiven verewigt, so deutlich und zahlreich, dass sie nicht mehr zu leugnen waren. Nur vier Monate nach der siegreichen Revolution wagte ein Journalist Khomeini zu fragen, was er über seine Pariser Freiheitsversprechungen denke. Dessen Antwort war ebenso knapp wie religiös unbestreitbar: „Ich übte Taghieh aus, und im Kampf sind Verstellungskunst und Täuschung notwendig.“
Damit war alles beantwortet, die Widersprüche beseitigt.
Haben wir es auch jetzt, im Falle Ali Jounesi, wieder mit Verstellungskunst zu tun? Zeigt auch der Präsidentenberater nur religiösen Pflichteifer oder hat er sich tatsächlich verwandelt – oder ist gar von jedem etwas dabei? Das bleibt im Verborgenen.
Sprengkraft der religiösen Minderheiten
Verbergen lassen sich allerdings nicht jene Brüche, die in der multireligiösen und multiethnischen Gesellschaft Irans stetig und rapide zunehmen. Sie gefährden die nationale Sicherheit und die territoriale Einheit des Landes. Wie gross diese Gefahr ist, offenbarte Revolutionsführer Ali Khamenei am vergangenen Mittwoch. Bei einer Rede vor Kommandeuren der Revolutionsgarde warnte er die Präsidentschaftskandidaten mit drastischen Worten, sie sollten im Wahlkampf die religiösen, ethnischen und geographischen Brüche des Landes nicht weiter vertiefen, sonst werde das Volk „mit harten Ohrfeigen“ antworten. Khameneis Adressat war dabei sicherlich der amtierende Präsident Hassan Rouhani, der tags zuvor als einziger Kandidat die Probleme der Minderheiten kurz angesprochen hatte.
Zusammenhalt des Landes gefährdet
Die religiöse Kluft im Iran hatte Rouhani schon vor Jahren in seinem Buch als reale Gefahr und Herausforderung für den Zusammenhalt des Landes bezeichnet. Als er dann Präsident wurde, ahnte man, dass er etwas tun würde, aber was? Er war gerade drei Monate im Amt, als er auf einer spektakulären Pressekonferenz die Schaffung eines neuen Amtes in seiner unmittelbaren Umgebung bekannt gab: den Regierungsbeauftragten für ethnische und religiöse Minderheiten. Erst referierte der Präsident vor den Journalisten, welche Bedeutung die nationalen und religiösen Minderheiten im Iran hätten, welche Rolle sie beim Zusammenhalt der territorialen Einheit des Landes spielten und was die Revolution ihnen alles verdanke, dann stellte er den bekannten Geistlichen Ali Jounesi als ersten Minderheitenbeauftragten des Landes vor, der dem Präsidenten direkt unterstehe. Jounesi sei fähig und mutig genug, diese überaus wichtige und „sehr sensible“ Aufgabe zu meistern, so Rouhani.
Aber welche Sensibilität könnten die religiösen und ethnischen Minderheiten Irans von einem Mullah erwarten, dessen jahrzehntelange Karriere in der Islamischen Republik zwei Wörter umreissen: Revolutionsrichter und Geheimdienstminister. Doch kaum im Amt, versuchte Jounesi, diese Vergangenheit zu verbannen, und gab sich mit spektakulären Worten und Taten plötzlich als völlig neuer, bis dahin unterschätzter Mensch. Für die Sympathien der religiösen Minderheiten scheute er keine verbalen Tabubrüche.
Menschen 1. und 2. Klasse
Damit provozierte er zwar die mächtigen Hardliner, doch mehr als Sprüche hatte er nicht zu bieten. Denn die Verfassung der Islamischen Republik gibt nicht mehr her. Der Staat ist laut Artikel 12 der Verfassung eine Republik der Schiiten. Wie und wo sich die Minderheiten in der Republik bewegen dürfen, bestimmt die Verfassung genau: Kein Richter-, Minister- oder gar Präsidentenamt steht ihnen offen. Gesetzlich sind die Angehörigen der Minderheiten im Iran Menschen zweiter Klasse. Doch jene Geistlichen, die vor fast vierzig Jahren ihre eigene Republik in Verfassungsparagraphen gossen, konnten nicht ignorieren, dass der Iran ein multireligiöses Land ist, in dem seit Jahrhunderten nicht nur Juden und Christen leben, sondern das auch Geburtsort zweier Weltreligionen ist: jene von Zarathustra und die der Baha’i. Ausserdem sind zehn Prozent der iranischen Muslime keine Schiiten, sondern Sunniten, etwa die Kurden, Belutschen, Araber und Turkmenen, die hauptsächlich in den Grenzgebieten wohnen.
Synagogen und Kirchen …
Auch sicherheitspolitisch ist das eine heikle Angelegenheit. Nach Artikel 13 dürfen Christen, Juden und Zoroastrier in der Islamischen Republik in genau festgelegten Rahmen ihren religiösen Pflichten nachgehen und bei Parlamentswahlen einen Abgeordneten aus den eigenen Reihen wählen. Die Sunniten dagegen sind von solchen Regelungen und Quoten ausgenommen: Denn sie seien ja keine Minderheit, sondern Muslime, die in einer Islamischen Republik lebten. Wozu bräuchten sie also eigene Quoten oder spezielle Regelungen? So einfach und merkwürdig ist die Verfassungslogik der Islamischen Republik.
… aber keine sunnitische Moschee
Dieses Verständnis trägt seltsame Früchte: In Teheran mit ihren etwa 14 Millionen Einwohnern gibt es zwar Dutzende Synagogen und Kirchen, aber keine einzige sunnitische Moschee. Die Sunniten der Hauptstadt haben für sich zwar mit privaten Spendengeldern in Appartements oder Lagerräumen einige Gebetshäuser eingerichtet, doch auch diese werden von den Sicherheitsorganen stark überwacht. Und im ganzen Land gibt es keinen sunnitischen Richter, keinen Gouverneur sunnitischen Glaubens. Im Parlament gibt es zwar einen einzigen Abgeordneten, der sich stolz als Sunnit bezeichnet, doch er kam nicht explizit als solcher ins Parlament, sondern auf jenem Weg, der in der islamischen Republik am besten gangbar ist: Nepotismus und Vernetzung. In den rein sunnitischen Gegenden gibt es zwar sunnitische Imame und Gotteshäuser, doch sie sind genau ausgesucht und streng kontrolliert.
Baha’i dürfen nicht existieren
Am schlimmsten aber traf es die Minderheit der Baha’i. Diese Glaubensgemeinschaft, die vor fast 170 Jahren im Iran entstand, hat sich inzwischen zwar zu einer Weltreligion entwickelt, doch sie ist für die Ayatollahs als Religion nicht existent. Sie sei eine vom Ausland, vor allem von Israel gesteuerte Sekte, ein Spionagenetz, so die offizielle Sprachregelung.
Die tödliche Feindschaft der schiitischen Geistlichkeit gegenüber den Baha’i ist die eines zornigen Vaters gegen einen rebellischen Sohn, der die ganze Familie – die des Klerus – zerstören wolle. Denn der Gründer der Baha’i-Bewegung, Sayyid Ali Muhammad, war selbst ein schiitischer Geistlicher, ein „verlorener Sohn“, der sich Ende des neunzehnten Jahrhunderts in der südiranischen Stadt Schiraz „Bab“ nannte, zu Deutsch „Tor“. Diesen Titel, einen schiitisch-eschatologischen Begriff, wählte er bewusst, denn damit machte der junge Geistliche sich selbst zum „Tor zu Gott“. Und wenn das Tor offen, der „Bab“ tatsächlich da ist, dann hat das Warten ein Ende. Wenn der Messias, oder, wie die Schiiten sagen, der „Mehdi“, der seit 1200 Jahren im Verborgenen lebt, auf Erden ist, braucht man keine Mullahs mehr. Damit sind die Ayatollahs, die sich als Statthalter des verborgenen „Mehdi“ verstehen, entbehrlich.
Religiöses Freiwild
Akzeptiert man Baha’i als Religion, hat man als Ayatollah keine Existenzberechtigung mehr. Das ist die einfache Schlussfolgerung und der Grund für die unglaubliche Feindschaft der schiitischen Geistlichkeit zu den Baha`i. Heute leben etwa 300‘000 Baha’i im Iran, sie sind die grösste religiöse Minderheit, die – im Gegensatz zu den Christen, Juden und Zoroastriern – einfach nicht existieren dürfen. Damit sind die Baha’i religiöses Freiwild. Mehrere Hundert von ihnen sind seit Beginn der Revolution hingerichtet worden, ihre Führer sitzen seit fast zehn Jahren im Gefängnis, ihre Kinder dürfen keine staatlichen Schulen oder Hochschulen besuchen, Baha’i-Geschäfte in der Provinz werden regelmässig beschmiert oder zerstört. Ohne Bildung, Beruf und Einkommen sollen sie im Elend landen, so die offizielle Politik gegenüber den Baha’i. Und selbst vom gemässigten Rouhani dürfen sie keine Besserung ihrer Lage erwarten.
Trotzdem Rouhani wählen?
Für die offiziell anerkannten Minderheiten, also Juden, Christen und Zoroastrier, ist Rouhani wählbarer als die anderen Kandidaten. Selbst in den sunnitischen Gebieten bekam er vor vier Jahren 70 Prozent der Stimmen. Ob sich das beim Urnengang am kommenden Freitag wiederholt, bleibt abzuwarten. Doch: etwas Besseres haben die Minderheiten im Iran nicht zu wählen.
Persischsprachige Quellen:
fa.wikipedia.org/wiki , rouhanimeter.com , roozonline.com , dw.com/fa , roozonline.com/persian/news , kaleme.com fa.wikipedia.org/wiki/%D8 , bbc.com/persian
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal