Ein Ausflug auf die Schwäbische Alb gibt Anlass, sich mit dem deutschen Rittertum und den Zeugnissen seiner romantischen Verklärung im 19. Jahrhundert auseinanderzusetzen. Eines der besuchten Schlösser wurde gar nach der Phantasie eines Dichters gebaut.
Das Nägelehaus , wo sich die «sieben aufrechten Alten» zu einem Rundgang versammeln wollen, ist für meine gedruckte Strasssenkarte zu unwichtig und im Navigationsgerät meines Autos unauffindbar. Den Ort (Onstmettingen), in dessen Nähe sich das Ausflugsrestaurant befindet, gibt es dort nicht. Irgendwo auf einer Einfahrt in eine Kiesgrube halte ich an. Im Hintergrund werden riesige Laster von Baggern beladen. In wenigen Augenblicken werden sie uns auf die Schnellstrasse zurückscheuchen.
Ich ärgere mich über die mangelhafte Technik, die nicht mit sich reden lässt und stoisch mein Gefluche ignoriert. Aber weit mehr noch ärgere ich mich über mich selbst, über den alten Pfadfinder und Landkarten-Freak, der sich nicht besser vorbereitet und mit entsprechendem Kartenmaterial ausgerüstet hat. Früher wäre mir das nicht passiert. Die Technik macht faul, lullt ein und grinst dann hämisch, wenn man sich abhängig gemacht hat. Der ewige Kampf gegen die Abhängigkeit: Kennen wir das nicht auch von anderen Dingen, welche sich in unser tägliches Leben eingeschlichen haben?
Schliesslich bringt Google Maps auf meinem Handy die Rettung. Wir haben endlich die richtige Spur aufgenommen. Nur noch wenige Kurven fehlen bis zum Ziel. Da klingelt das Telefon: «Wo seid ihr?», fragt Hanspeter leicht genervt, wohl auch deswegen, weil das Wirtshaus, wo es laut Programm ein Bier gegeben hätte, Wirte-Dienstag verkündet. Auch nicht weiter schlimm, sage ich mir, nun möchte ich endlich meine Beine gebrauchen.
Vom Nägelehaus gelangt man auf den Zollernburg Panorama-Weg. Insgesamt 15,6 Kilometer lang sei er, sagt der Wanderführer; er würde 92 Erlebnispunkte bieten, was immer dies bedeuten mag. Wir Alte werden uns auf ein kleines Stück beschränken und auf wichtige Erlebnispunkte verzichten. Wer weiss, vielleicht fehlen sie uns, wenn wir dereinst den Stab abgeben und um Einlass in den Wanderhimmel bitten werden.
Wir queren eine wundervolle Herbstwiese, welche an die jurassischen Freiberge erinnert, und vergessen dabei die Erfinder und Erfinderinnen von Erlebnispunkten und die bizarre Vorstellung, es sei im Leben nur wichtig, was man zählen kann, zum Beispiel die am Handgelenk gezählten Schritte, Herzschläge und Höhenmeter. Auch die an vorgeschriebenen Punkten zu schiessenden Fotos wollen wir ignorieren, jene Bilder, die sich später auf unserem Handy selbständig geografisch ordnen und die wir unseren Freunden und Bekannten via WhatsApp so gerne zur Dokumentation unserer Leistung (Erlebnispunkte!) verschicken, aber selbst kaum mehr anschauen.
Unvermittelt öffnet sich der dichte Wald. Zwischen den Bäumen geht der Blick nach Nordwesten aufs weite Land, über Wälder und Wiesen, welche sich tapfer dem ausufernden Siedlungsbrei entgegenstellen. Weit weg, dort wo sich die Wolkentürme mit dem Blau der Berge treffen, ahnt man den Schwarzwald. Noch ein paar Schritte, und wir stehen auf einer Felskante. Unvermittelt, wie in einem Hollywood-Film, wird der Blick frei auf einen markanten Bergkegel, auf dessen höchster Erhebung ein Märchenschloss mit zahlreichen Türmen thront. Für einen Moment meint man sich ins Mittelalter zurückversetzt, in eine Zeit, als Städtchen und Ritterburgen die Landschaft beherrschten und die Bauerndörfer sich zwischen Hügel und Wälder versteckten.
Aber der Schein trügt: Die Burg der Hohenzollern entstand in dieser Form erst zwischen 1850 und 1867, als die Hohenzollern die Herzöge und Könige von Preussen stellten, später auch den deutschen Kaiser. Mitte des 19. Jahrhunderts war von den zwei ersten Burgen auf dem Hohenzollern nicht mehr viel übrig. Die erste Burg, wahrscheinlich im 11. Jahrhundert entstanden, wurde 1423 von den Soldaten des Schwäbischen Städtebundes zerstört, die zweite verfiel nach dem Abzug der Habsburger (1798), welche nach dem Dreissigjährigen Krieg die Burg besessen hatten.
In Preussen zu Macht und Ehre gekommen, beschloss König Friedrich Wilhelm IV. die Stammburg seiner Vorfahren wieder aufzubauen. Es war die Zeit der romantischen Rückbesinnung auf Deutschlands Geschichte, der wir unter anderen auch Schloss Neuschwanstein in Bayern verdanken. Doch der letzte Kaiser Deutschlands (1888–1918), Wilhelm II., der nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg abdankte und danach noch bis 1941 zurückgezogen in den Niederlanden lebte, war mit dem Märchenschloss seiner Vorfahren nicht glücklich, wollte es schon kurz nach der Einweihung umbauen, verzichtete aber schliesslich aufgrund der Empfehlung seines Architekten darauf und erfüllte sich seine eigenen architektonischen Träume in Posen und Brandenburg.
Wir hatten die Burg am Vormittag besucht. Ungefähr 150 Höhenmeter unter der Burg lässt man das Privatauto auf dem Besucherparkplatz zurück. Auf den über unzählige Stufen führenden Fussweg verzichteten wir und benützten stattdessen den Pendelbus. Dessen Fahrt auf engster Strasse endet beim Adlertor unterhalb der mächtigen Mauer, welche das gewachsene Gelände weit überragt. Auf der spiralförmig angelegten Zufahrt, welche immer wieder durch Tunnels und Tore führt, gewannen wir zu Fuss die letzten Höhenmeter und standen endlich im Burggarten.
Hat man einmal den Eintrittspreis beglichen, kann man sich in der Burg frei und zeitlich unbegrenzt bewegen. Ein beschilderter Parcours führt unter anderem in den als Kathedrale gestalteten grossen Festsaal und weitere Repräsentationsräume sowie schliesslich in die Privatgemächer der Königsfamilie. Diese sind zwar detailliert beschriftet (Schlafgemach der Königin, des Königs etc.), aber kaum möbliert, was den musealen Charakter der Burg noch unterstreicht. Tatsächlich hat in diesen Räumen nie jemand von der Familie gewohnt.
Alles ein bisschen neureich, protzig und wenig geschmackvoll, wird der Kunstkenner naserümpfend feststellen, aber das tut dem «genius loci» keinen Abbruch. Und sitzt man schliesslich im Schlossrestaurant und lässt es sich schmecken, kommt man sich wie im Disneyland vor und vergisst darüber die schicksalhafte Rolle, welche die Hohenzollern in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert gespielt haben.
Unterdessen haben wir unseren Höhenrundgang beendet und sind zurück beim Nägelehaus. Weil es unserer Konsumlust noch immer die kalte Schulter zeigt, beschliessen wir, direkt in unser Hotel in Albstadt zu fahren. Oh Wunder! Diesmal wird das Navigationssystem fündig. Eine knappe halbe Stunde soll die Fahr dauern. Als wir etwas später durch ein Dorf fahren, an dessen Ende auf der gelben Ortstafel ein durgestrichenes Albstadt prangt, aber das Navi noch immer eine Fahrzeit von zwanzig Minuten anzeigt, werde ich erneut stutzig, folge aber der netten Frauenstimme meines Geräts. Diskutieren ist ohnehin zwecklos.
Nachdem wir zwei weitere Dörfer namens Albstadt durchquert haben, beginnt es mir langsam zu dämmern: Hier heissen viele Dörfer Albstadt – tatsächlich sind es deren neun, darunter auch das ehemalige Kreisstädtchen Ebingen, wo wir im Hotel Linde Quartier beziehen. Albstadt ist eine Art Retortenstadt, welche 1975 durch den Zusammenschluss mehrerer Gemeinden entstanden ist. Jetzt wird mir auch klar, wieso das Navi Onstmettingen und das Nägelehaus nicht gefunden hat. – Wird es dereinst den Dörfern im Kanton Glarus auch so gehen, wenn unsere elektronischen Vormünder nur noch Glarus Nord, Mitte und Süd kennen?
Am nächsten Tag steht das weiter nördlich, im Landkreis Reutlingen gelegene Schloss Lichtenstein auf dem Programm. Es liegt auf einem Felszahn 250 Meter über dem Tal der Echaz, einem Nebenfluss des Neckar, und verdankt seine heutige Gestalt ebenfalls der Ritterromantik des 19. Jahrhunderts. In einem gewissen Sinn ist es das bescheidenere, aber kunsthistorisch interessantere Gegenstück zur Hohenzollernburg.
Auch hier stand schon im Mittealter eine Burg. Diese zerfiel im Laufe der Jahrhunderte. Auf den Ruinen baute 1802 der spätere Friedrich I. von Württemberg ein Forst- und Jagdhaus. Im Jahr 1826 veröffentlichte Wilhelm Hauff, Schriftsteller und Sagensammler («Das Wirtshaus im Spessart») seinen historischen Roman «Lichtenstein», den er auf dem fiktiven Schloss gleichen Namens ansiedelte und welcher den Herzog Wilhelm von Urach, einen entfernten Angehörigen des Hauses Württemberg, derart begeisterte, dass er das Jagdhaus kaufte und dort nach Hauffs detaillierten Schilderungen ein Schloss bauen liess, nicht um dort zu wohnen, sondern um mit seinen Freunden die von Hauff beschriebene Ritterromantik hochleben zu lassen.
Die Schlossanlage besteht aus mehreren Gebäuden, welche einen grossen Park umschliessen. Das eigentliche, von Hauff inspirierte Schlösschen, in dem Herzog Wilhelm seine umfangreiche Kunstsammlung untergebracht hatte, kann man im Rahmen einer Führung besichtigen. Es steht abseits auf einem Felszahn. Man betritt es über eine schmale Brücke. Eine ältere Frau, deren Stirn sich unter einer Wollmütze versteckt, führt uns in einem nicht immer ganz leicht verständlichen schwäbischen Dialekt vom Burghof in die Waffenhalle, zeigt uns die Schlosskapelle, den Rittersaal und das Wappenzimmer.
Doch das Herzstück des Schlosses, das Herzog Wilhelm wohl wie eine Art von privater Kulisse für seine ritterlichen Zusammenkünfte geplant hatte, ist die Trinkstube. Auf der Balustrade steht eine Sammlung von Trinkgefässen aus Zinn, Keramik und Ton, darüber prangt eine Wandmalerei, auf der das gesellige Zusammensein in Wort und Bild beschworen wird, und an der Vorderfront führen einige Stufen hinauf zu einer Kanzel, von welcher die Trinkkumpanen zu vorgerückter Stunde ihre Rittergeschichten vorgetragen haben müssen.
Übrigens: Wilhelm Hauff, über den Gottfried Keller gesagt haben soll, er sei ein wahres Dichtergenie und pflege jenen einfachen, naiven Stil, der an Goethe erinnere, starb mit 25 Jahren an Typhus, eine Woche nach der Geburt seiner Tochter Wilhelmine. Dass Jahre nach seinem tragischen und sinnlosen Tod eines seiner Werke sozusagen in Stein auferstehen und alle Wirren der deutschen Geschichte unbeschadet überstehen würde, konnte er zwar nicht wissen, aber eine innere Stimme muss ihm schon früh Zuversicht zugeflüstert haben, als er über die Schriftstellerei schrieb:
«Es ist kein Autor so gering und klein,
der nicht dächt’ etwas Rechtes zu sein.»