Der Einzug eines indischstämmigen Politikers ins höchste Regierungsamt Grossbritanniens wurde in Indien mit einigem Stolz, aber ohne überschäumende Freude registriert. Sunak eignet sich nicht als Rache-Engel für erlittene koloniale Verwundungen.
«We are Premier», so laute wohl die typische Titel-Schlagzeile in den indischen Zeitungen, meinte eine Journalistin im Schweizer Radio nach Rishi Sunaks Amtsübernahme am Dienstag. Tatsächlich? Natürlich gab es Balken-Überschriften, in denen der Stolz mitschwang, dass mit dem ersten indisch-stämmigen Briten eine weitere Bastion des ehemaligen Empire gestürmt worden sei. Regierungsnahe Medien liessen sich den Hinweis nicht entgehen, dass Sunak seinen Abgeordneten-Eid auf die «Bhagavadgita», so etwas wie die Bibel der Hindus, genommen habe.
Nüchterne Reaktion
Doch von Begeisterung war wenig zu spüren. Zum einen, weil Inder ohnehin mit ihren eigenen Politdramen – oder der Wahrung ihrer wirtschaftlichen Existenz – beschäftigt sind. Zum andern aber auch, weil Rishi Sunak mit seinen 42 Jahren (und kurzen sieben Jahren Politkarriere) schon eine bekannte Grösse ist. Drei Jahre lang residierte er als Finanzminister im Nachbarhaus von Downing Street 10, von wo aus er die britische Wirtschaft kompetent durch die Pandemie geführt hatte.
Auch die Reaktion von Premierminister Modi war, gemessen an seiner Vorliebe, ausländische Kollegen medienwirksam zu umarmen, relativ nüchtern. Er lobte ihn als Mitglied der indischen Minderheit, in der er eine «lebende Brücke» zwischen Grossbritannien und seiner ehemaligen Kronkolonie erblickte. Er vermied es, die Hindu-Fahne zu schwingen, und er versagte sich den nahliegenden Hinweis auf den Vornamen des neuen Premierministers – «Rishi» ist die Bezeichnung für einen hinduistischen Einsiedler. Wenn überhaupt, dann bot der Name die Gelegenheit für ein anderes Wortspiel. «Rishi Rich» titelte etwa die «Times of India», in Anspielung auf das private Vermögen der Sunaks.
Zuflucht Grossbrtannien
Die indischen Medien gingen auch nicht auf das Narrativ ein, das im Londoner Polit- und Medien-Establishment nun selbstzufrieden in Umlauf gebracht wird – dass Sunaks Wahl ein Beweis sei für den Multikulturalismus Grossbritanniens. Der Politologe Avinash Paliwal hielt im «Indian Express» dagegen: «Rassismus ist in Grossbritannien so tief verwurzelt, dass es einen wirtschaftlichen ‚Meltdown‘, den Rücktritt von zwei Premierministern, ein fehlendes Volksmandat und den persönlichen Status extremer Privilegiertheit brauchte, um den ersten Asien-Briten ins Premierministeramt zu stemmen.» Und er verwies darauf, dass das konservative Herzland erst vor sechs Wochen dem erfahrenen Krisenmanager Sunak eine Person vor die Nase gesetzt hatte, die wenig mehr als ihre Hautfarbe in die Waagschale werfen konnte.
Die Freude über die Wahl Sunaks hält sich in Indien noch aus einem weiteren Grund in Grenzen. Er stammt von Eltern ab, die vor rund fünfzig Jahren aus Ostafrika eingewandert waren. Sie sind Nachkommen der indischen Migranten, die seit dem späten 19. Jahrhundert auf Einladung der Kolonialherren in afrikanischen (und mittelamerikanischen) Kolonien als Kleinhändler und -beamte eine Art Scharnier zwischen der Besatzungsmacht und der Lokalbevölkerung bildeten.
Sie profitierten vom staatlichen Schutz und fühlten sich den Briten viel näher als den Einheimischen. Als diese Länder nach der Unabhängigkeit die indischen Geschäftsleute loshaben wollten, war es Grossbritannien (und nicht Indien!), das ihnen Aufnahme und Bürgerrecht versprach. Sie nutzten die Chance und schufen sich in Margaret Thatchers Grossbritannien mit Sparsamkeit, Arbeitswillen und engen Familienbanden den Ruf als Stützen der Gesellschaft.
Politische Feigenblätter
Es ist daher kein Zufall, dass gerade die Tories ihnen neben Studienplätzen auch das Tor zu politischen Ämtern öffneten. Und es ist wenig erstaunlich, dass zu den reaktionärsten Tory-Politikern heute Personen wie Prity Patel und Suella Braverman gehörem, die sich als dankbare Kinder des British Empire bezeichnen. In der entscheidenden Position als Innenminister sind sie ein ideales Feigenblatt für eine ausländerfeindliche Politik, die rassistische Züge zeigt.
Es war Braverman, die mit ihrer migrationsfeindlichen Position den Abschluss eines Freihandelsvertrags ausgerechnet mit Indien sabotierte. Dass Sunak sie nun wieder in dieselbe Schlüsselposition holt, ist ein Indiz, dass auch er diese harte Haltung teilt (ebenso wie jene als harte Brexiteers). Insofern hat er bereits die Persona des weissen männlichen Establishment-Politikers verinnerlicht, der sich weltmännisch-smart gibt und fürs Grobe eine Frau «of colour» vorschiebt.
Die beiden Politikerinnen sind allerdings auch Fans von Narendra Modi. Dies ist nur logisch, denn auch er hat für Minderheiten, namentlich Muslime, wenig übrig. Migranten sind ihm nur willkommen, wenn sie Hindus sind (oder einer Religion wie dem Buddhismus und Jainismus angehören, die für Modi ohnehin nur Spielarten des Hinduismus sind).
Die indischen Oppositionsparteien waren schnell zur Hand, als sie Rishi Sunaks Amtsübernahme zum Anlass nahmen, um der Regierungspartei den Spiegel ihrer minderheitsfeindlichen Personalpolitik vor Augen zu halten. Mitglieder der Kongresspartei fragten spitz, warum die BJP Sonia Gandhi nie als Premierministerin akzeptieren würde, obwohl sie seit über fünfzig Jahren indische Bürgerin ist.
Abwehrreflexe
Die BJP stellte in den letzten Wahlen keinen einzigen muslimischen Kandidaten auf, und Premier Modi hat sich inzwischen auch seines noch verbliebenen Juniorministers, des Schiiten M. A. Naqvi, entledigt. Auch bei Einbürgerungen von Ausländern ist der indische Staat immer sehr restriktiv gewesen. Selbst Ausländer, die seit Jahrzehnten in Indien leben, müssen auf eine Einbürgerungserlaubnis Jahre warten – falls sie je kommt. Dasselbe gilt für ein langfristiges Aufenthalts-Visum. Eine zeitlich unbegrenzte «Green Card» gibt es nur für Ausländer mit indischen Wurzeln (und deren Angehörige).
Wer an diese kommen will, muss jedoch zusätzlichen Bedingungen erfüllen. Sie gäben zum Beispiel Rishi Sunak wenig Chancen, je indischer Bürger zu werden, wie sehr Politiker dessen indische Abstimmung heute hochleben lassen. Sunaks Grosseltern wanderten aus der Stadt Gujranwala im kolonialen Panjab nach Nairobi aus. Heute liegt die Stadt aber im pakistanischen Teil des Panjab. Menschen, deren Vorfahren zwar aus dem vormaligen Gross-Indien stammen, deren Region aber heute zu Pakistan oder Bangladesch gehört, werden wie Bürger dieser Nachbarländer behandelt – mit wenig bis Null Einbürgerungschancen.
Es bleibt ein Paradox, dass eine so kulturell aufgefächerte Gesellschaft nach aussen beinahe rassistische Abwehrreflexe zeigt. Aber ist es nicht ebenso paradox, dass eine männlich-weisse Partei wie die Tories ihre Tore für Frauen und ethnische Minderheiten öffnet – während das Gesicht der linken Labour-Partei immer noch von weissen Männern geprägt wird?