Es waren der erste, der Liberale Theodor Heuss, der dritte, der Sozialdemokrat Gustav Heinemann, und der sechste, der Christdemokrat Richard von Weizsäcker.
Heuss befreite mit seiner Formulierung „Kollektivscham ja, Kollektivschuld nein“, weite Teile des militärisch, wirtschaftlich und vor allem moralisch total am Boden liegenden Volkes von einer grenzenlosen Hypothek, ohne sie freilich aus der Verantwortung für Vergangenes und Zukünftiges zu entlassen. Heinemann, der trockene evangelische Westfale, war genau der richtige Mann, um in den endsechziger und frühen siebziger Jahren mit ihren Studentenrevolten und hitzigen Generationenkämpfen mäßigend einzugreifen und vor übergroßer Selbstgerechtigkeit mit der eindrucksvollen Parabel zu warnen, es möge Jedem bewusst sein, dass von der Hand, deren Zeigefinger auf andere deute, immer drei Finger auf einen selbst zurück wiesen. Die tiefsten Spuren in der deutschen Nachkriegsgeschichte aber wird, ohne Zweifel, das sechste aus der Reihe der bisherigen Staatsoberhäupter hinterlassen – Richard von Weizsäcker, der vor wenigen Tagen, kurz vor seinem 95. Geburtstag, gestorben ist.
In aller Gedächtnis: „Die Rede“
Das liegt natürlich in erster Linie an jenem Auftritt am 8. Mai 1985, als er Deutsche Bundestag des 40. Jahrestages des Kriegsendes gedachte. Was von Weizsäcker damals sagte, ist anschließend im In- und Ausland nur noch als „Die Rede“ behandelt worden – als „the speach“ oder auch als „le discours“. Der Bundespräsident setzte seinerzeit mit vergleichsweise wenigen Worten einer bis dahin quälenden Auseinandersetzung im Lande ein Ende, ob dieser 8. Mai 1945 für die Deutschen denn ein Tag der „Niederlage“ oder aber der „Befreiung“ gewesen sei. Weizsäcker ließ kein Wenn und kein Aber zu. Es war die Befreiung von der Gewaltherrschaft der Nazi-Diktatur. Und damit auch eine Befreiung der Deutschen.
Diese unzweideutige Rede war letztendlich auch eine innere Befreiung. Natürlich nicht sofort. Es gab erhebliche Kritik im Lande. Auch aus seiner eigenen Partei, der CDU. Wie hätte es auch anders sein können? Obwohl bereits vier Jahrzehnte vergangen waren seit dem Völkermorden, seit den Konzentrationslagern und den Millionen Fluchten und Vertreibungen, sind doch noch immer viele Wunden nicht verheilt gewesen; daheim nicht und auch nicht in den von den Deutschen besetzten Ländern. Was aber – abgesehen von dem auch dramaturgisch erstklassigen Auftritt des Bundespräsidenten – ein wesentlicher Grund für die Wirkung und die Nachhaltigkeit war, das ist die Tatsache, dass hier ein Vertreter der alten Eliten etwas schonungslos aussprach, woran andere bis dahin nur laviert hatten.
Die eigene Vergangenheit
Hätten sich die Zeitgenossen des Bundespräsidenten (Politiker wie Journalisten) seinerzeit etwas näher mit dem Werdegang dieses Mannes beschäftigt, wäre das Erstaunen vielleicht nicht ganz so stark ausgefallen. Obgleich CDU-Mitglied bereits seit 1954, hatte Richard von Weizsäcker über die Jahre immer wieder in bestimmten politischen Fragen keineswegs stromlinienförmig die parteiliche Mehrheitshaltung eingenommen. Das war der Fall, als er sich – Ende der 50-er Jahre – kritisch zur so genannten Hallstein-Doktrin äußerte, mit der die Bonner Regierung das SED-Regime in Ost-Berlin international zu isolieren versuchte. Später, aus dem Parlament heraus, gelang es ihm (unter anderem mit Hilfe des damaligen Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel), die in Opposition befindliche CDU/CSU von einer Ablehnung der Brandt/Scheel´schen Ostpolitik abzuhalten und lediglich zur Enthaltung zu bewegen.
Richard von Weizsäcker hat selten – und wenn doch, dann nur im kleinen Kreis – sein politisches Agieren mit der eigenen Lebensvergangenheit verknüpft. Und doch dürfte das nur schwer zu trennen gewesen sein. Lassen wir einfach ein paar Stationen Revue passieren. Geboren am 15. April 1920 in einem Flügel des Stuttgarter Schlosses. Der Großvater war, als württembergischer Ministerpräsident, vier Jahre zuvor (1916) vom letzten württembergischen König, Wilhelm II., in den erblichen Adelsstand erhoben worden. Der Vater, Ernst von Weizsäcker, im Kaiserreich Marineoffizier trat in den Auswärtigen Dienst ein mit Posten in Basel, Bern und Kopenhagen, brachte es als Mitglied der Allgemeinen SS und NSDAP-Mitgliedschaft zum Staatssekretär im Außenamt und wurde vom Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal zu 5 Jahren Haft verurteilt. Sohn Richard war in dem Prozess als Assistent der Verteidigung tätig.
Aber auch die eigene Laufbahn hatte es in sich. Nach dem Abitur mit 17 Jahren durfte Richard von Weizsäcker als „besonders Begabter“ in Oxford und Grenoble Philosophie und Geschichte studieren. Die militärische Ausbildung erhielt er in Potsdam beim hochnoblen Infanterie-Regiment 9 – wegen der großen Anzahl von Adligen auch als „IR Graf 9“ verspottet. Immerhin gingen im Krieg 21 „Neuner“ und Ehemalige als Widerstandskämpfer hervor, wobei die meisten mit dem Leben büßten. Bereits am zweiten Kriegstag musste Weizsäcker beim Einmarsch in Polen erleben, wie wenige hundert Meter von ihm entfernt sein Bruder Heinrich fiel. Später war er selbst drei Jahre lang an der fürchterlichen Belagerung von Leningrad beteiligt. 1973 war er mit einer Bundestagsdelegation auf dem dortigen, riesigen Friedhof mit dem Denkmal für die gestorbenen Verteidiger. Eindrucksvoll für die Mitgereisten war dabei folgende Szene: Von einem Tonbandgerät wurden die Deutschen als „Hunnen“ bezeichnet. Nach dem dritten oder vierten Mal gab sich Weizsäcker plötzlich einen Ruck und sagte dem sowjetischen Begleiter, auch er sei einer jener „Hunnen“ gewesen…
„Bundeskönig“ und „Machtmensch“
Eine Schilderung und Würdigung des Lebens und Wirkens des verstorbenen Bundestagspräsidenten wäre natürlich unvollständig ohne die Erwähnung des Miteinanders und Gegeneinanders, der gegenseitigen Abhängigkeit und Abneigung, der Anerkennung und des Neidens, die Richard von Weizsäcker mit einer anderen starken Persönlichkeit der deutschen Politik verband – mit Helmut Kohl. Zwei Menschen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Hier der Machtmensch, aufgestiegen aus kleinen Verhältnissen in Ludwigshafen. Dort der Mann aus dem geadelten Bildungsbürgertum. Hier der Politiker, der auch Ämter und Pfründe zu vergeben hatte – aber dafür Dank und unbedingte Loyalität verlangte. Dort der Intellektuelle, der kaum eine Gelegenheit ausließ, genau dieses zu verweigern. Und der es, ohne Frage, genoss, am Ziel seiner Wünsche angelangt als „Bundeskönig“ durch die Gazetten zu wandeln. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen.
Richtig ist ohne Zweifel, dass der Pfälzer den schwäbischen Preußen in die Politik geholt und ihm auch lange den Weg gebahnt hat. Der damals 35-jährige CDU-Fraktionsvorsitzende im rheinland-pfälzischen Landtag überredete das 10 Jahre ältere Führungsmitglied im Ingelheimer Chemie- und Pharmakonzern Boehringer 1965, sich für den Bundestag zu bewerben – und sorgte auch dafür, dass er mit Platz zwei auf der rheinland-pfälzischen Landesliste abgesichert wurde. Dem seinerzeit noch stürmischen CDU-Reformer kam der liberal-evangelische Intellektuellentyp sehr zupass, um frischen Wind in die verkrustete Parteistruktur zu bringen. Kohl war es auch, der von Weizsäcker drei Jahre später das erste Mal als innerparteilichen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten vorschlug. Allerdings unterlag dieser dann CDU-intern gegen den langjährigen Außenminister Gerhard Schröder, der seinerseits gegen den SPD-Bewerber Heinemann verlor.
Ein eisenharter Wille
Was Kohl freilich bei Richard von Weizsäcker unterschätzte, war dessen eisenharter Wille, einmal angesteuerte Ziele auch unbeirrt zu verfolgen. Darin unterschied sich der damalige CDU-Vorsitzende und nachmalige Kanzler nicht von vielen anderen Zeitgenossen. Und das höchste dieser Ziele war das Bundespräsidialamt. Leute, die Weizsäcker gut kannten, glauben als eine der Triebfedern auf dem Weg zum Staatsoberhaupt das Verhältnis zu seinem älteren, 2007 gestorbenen Bruder erkannt zu haben – zu dem hoch dekorierten und international berühmten Philosophen, Kernphysiker und Friedensforscher Carl Friedrich. Eine derart weltweite Anerkennung zu erfahren, das habe der Jüngere stets im Auge gehabt.
So gesehen wäre es nur logisch gewesen, dass Richard von Weizsäcker keineswegs immer nur vornehm-zurückhaltend wartete, bis er gerufen wird. Um seine Ambitionen zu unterstreichen, war er sich aber auch keineswegs zu schade, bei der Präsidentenwahl 1974 gegen den FDP-Mann Walter Scheel anzutreten – wohl wissend, dass er in jenem Jahr nur „Zählkandidat“ sein würde. Umso enttäuschter war er, als sein bisheriger Mentor Kohl fünf Jahre später nicht ihm, sondern dem Norddeutschen Karl Carstens den Vorzug gab – jenem Carstens zumal, gegen den er bereits vorher beim Rennen um den CDU/CSU-Fraktionsvorsitz einmal unterlegen war. Beleidigt verließ er darum den Bundestag – allerdings um dann (nach einer zunächst wieder einmal verlorenen Wahl) das Prestige trächtige Amt des Regierenden Bürgermeisters von West-Berlin zu übernehmen.
Ende der Hausbesetzerszene
Auch in dieser Rolle war von Weizsäcker keineswegs der milde, gütige Allesversteher. Vielmehr griff er rigoros in der damals an der Spree grassierenden Hausbesetzerszene durch – dies sogar mit einer Minderheitenregierung. Und noch etwas fiel Beobachtern damals auf. Beim Amtsantritt im West-Berliner Schöneberger Rathaus hatte der neue „Regierende“ den Berlinern versprochen, „Berlin ist meine Lebensaufgabe!“ Tatsächlich freilich schaut er bereits auf den Termin der nächsten Präsidentenwahl – bei der er sich gegen den erbitterten Widerstand Helmut Kohls durchsetzte und tatsachlich endlich auch sein wirkliches Lebensziel erreichte.
Ohne Frage hat kein anderer Politiker in Deutschland bei den Mitbürgern ein höheres Ansehen erreicht als Richard von Weizsäcker im Bundespräsidentenamt. Vielleicht gerade weil er sich von niemandem einvernehmen ließ, keinem nach dem Munde redete. Dass er, ungeachtet dessen, ordentlich eitel war, seinen Pressesprecher bereits frühmorgens bei Korrespondenten Klage führen ließ wegen mitunter nur geringfügiger kritischer Zwischentöne, dass er Untergebene im Amt nicht selten rücksichtslos zusammenstauchte – das alles tat nichts zur Sache: Die Deutschen liebten ihn. Wahrscheinlich nicht zuletzt deshalb, weil sie sich durch ihn vor allem außerhalb der eigenen Grenzen glänzend vertreten fühlten. Dass der Präsident nicht selten bis hart an die Grenzen seines eigentlich ja nur repräsentativen Amtes ging – tat nichts, die Leute mochten es.
Präsident aller Deutschen
Für Richard von Weizsäcker war der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 ohne Zweifel einer der größten Glückstage in seinem Leben. Und doch gibt es unzweifelhafte Hinweise darauf, dass er es zumindest ein klein wenig dem ewigen Kontrahenten Helmut Kohl neidete, dass dieser als „Kanzler der Einheit“ in die Geschichtsbücher eingehen würde. Deshalb wollte er zumindest der „Präsident der Vereinigung“ werden. Und er hoffte wohl insgeheim, dass „Gesetz über den Bundespräsidenten“ so geändert werden könne, dass ihm zumindest noch eine dritte Amtszeit ermöglicht werde. Sein Argument: Es sei mit dem Beitritt der DDR schließlich staatlich etwas ganz Neues geschaffen worden.
Der Wunsch ging nicht in Erfüllung. Dass sich Richard von Weizsäcker dennoch als „Präsident der Deutschen“ sehen konnte, mag aus dieser kleinen Episode nach dem Fall der Mauer, aber noch vor der Wiedervereinigung hervorgehen. Das Staatsoberhaupt war an einem frühen Morgen ohne Eskorte durch das Brandenburger Tor in den Ostteil Berlins spaziert. An der noch bestehenden Grenze salutierte der DDR-Posten und sagte: „Guten Morgen, Herr Bundespräsident! Ich melde: Keine besonderen Vorkommnisse…“