Der Philosoph Hermann Lübbe hat in einem Essay über Europa einige verblüffende Überlegungen angestellt. So sei es völlig falsch, davon zu sprechen, dass die Zeit der Nationalstaaten vorüber sei. Ganz im Gegenteil habe sich die Zahl der Nationalstaaten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs deutlich erhöht. Man müsse nur einmal in den ehemaligen Ostblock schauen. Souveräne Nationalstaaten aber vervielfachen die Zahl politischer Handlungsoptionen: Sie können sich so oder anders entscheiden, und dadurch entstehen neue Konstellationen, die sich vorab nicht kalkulieren lassen – erst recht nicht von einer zentralen Bürokratie.
Was treibt die Menschen bei ihren politischen Entscheidungen an? Es sei ein grosser Fehler, die Betonung des Regionalen und die Abgrenzung nach aussen als blossen Populismus abzutun, schreibt Lübbe. Vielmehr wollten die Menschen sich ihre Zukunft sichern und erwarteten von der Politik entsprechende vertrauenswürdige Antworten. Dazu reicht die Merkelsche Rhetorik nicht aus. Gerade diejenigen, die die Zukunftsunfähigkeit des real existierenden Sozialismus an eigenem Leibe erfahren hätten, seien besonders hellhörig.
Dieser Beitrag erschien kurz vor dem Brexit, und die Ereignisse der letzten Tage illustrieren geradezu die Überlegungen Lübbes. Es könnte sein, dass aus dem Vereinigten Königreich zwei oder vielleicht sogar drei Einzelstaaten hervorgehen. Und die jungen Menschen, die die Zukunft noch vor sich haben, stimmten mehrheitlich für den Verbleib in der EU, weil sie darin wirtschaftlich mehr Chancen sehen als in einer „splendid isolation“ - trotz der offensichtlichen bürokratischen Mängel. Plötzlich, und das war unvorhersehbar, hat Europa einen Stellenwert bekommen, für den mit Herz und Verstand gekämpft wird. Kein Jean-Claude Juncker, kein Martin Schulz und kein Donald Tusk hätten das erreichen können. - Es ist erfrischend, wie der 90-jährige Philosoph Hermann Lübbe die europäische Phraseologie gegen den Strich gebürstet hat und die Wirklichkeit davon so manches bestätigt.