Wer vor einer grossen Fülle steht, hat das Bedürfnis nach einem roten Faden. Jedes Festival offeriert solche Fäden: Leipzig bietet einerseits Animationsfilme, andererseits Dokumentarfilme und drittens seine Spezialität, die Animadoks. Man hätte sich auf die Wettbewerbsfilme in verschiedenen Kategorien konzentrieren können und die aktuelle Frage nach dem jeweils besten Werk. Oder auf die Sonderreihe von Filmen aus Brasilien, oder auf die „Hommage“-Reihen. Dieses Jahr wurden Peter Liechti, Wendy Morris und Peter Voigt geehrt, sie alle waren zusätzlich eingeladen, für Akkreditierte eine „Meisterklasse“ abzuhalten.
Einzelheiten zu diesen Reihen sind auf der Homepage des Festivals abrufbar.
Peter Voigt (*1933), ein Brecht-Schüler, hat sich 1959 beim DEFA-Studio in der Trickfilm-Abteilung anstellen lassen und ist für seinen innovativen Umgang mit dem Medium Foto, Film, Animation bekannt geworden. Eindrücklich war es, ihm im Rahmen des Festivals real zu begegnen.
Ein Leipziger genius loci
Im sechzigsten Jahr nach dem gescheiterten Aufstand vom 17. Juni 1953 und angesichts der Geschichte der Stadt, deren Nicolai-Kirche im Herbst 1989 Ausgangspunkt der Montagsdemonstrationen war, welche den Fall der Berliner Mauer einläuteten, habe ich mich entschieden, mich auf den Themenkreis Aufstand und Unterdrückung zu konzentrieren.
Dazu hat sich die Retrospektive „Sturm! Durch das kurze 20. Jahrhundert in acht Massenbewegungen“ angeboten – auf die sich übrigens das Plakat zum diesjährigen Festival mit seinen Brechungen und Überlagerungen bezog. Man hat in der ehemaligen DDR ein scharfes Auge dafür, was in der Folge von Volkserhebungen zugunsten einer menschen- und lebensgerechten Sache jeweils schiefläuft. Man hat hier auch einen illusionslos scharfen Blick für die Macht der Macht. So wurden, ergänzend zur Revolutions-Reihe, verschiedene Werke zu bedrohlichen Entwicklungen entfesselter Machtgebilde gezeigt.
Bilder von Volksaufständen
In der Serie ,,Sturm!" (Einzelheiten zu dieser Reihe sind auf der Homepage des Festivals > Retrospektive abrufbar) reflektierte sich eine langjährige Übersättigung mit Agitprop und eine spürbare Bemühung, gegenüber Volksaufständen nicht naiv zu erscheinen. Man wollte deren Geschichte auf Heroisierungen, Verengungen des Bewusstseins, Verzerrungen und Vereinnahmungen hin abklopfen. Im Film zur portugiesischen Nelkenrevolution zum Beispiel sah man keine einzige von den Nelken, die das Volk im Jahre 1974 den Soldaten in die Gewehrläufe steckten, sondern zwei Militärs, die ausholend referierten, welche Kräfte die Armee zum Aufstand bewogen hatten. Entscheidende Impulse bezog die Nelkenrevolution aus dem Unabhängigkeitskrieg von Portugiesisch-Guinea, wo 1974 die Republik Guinea-Bissau ausgerufen wurde, wobei die Kampfverdrossenheit der portugiesischen Truppen mit dem Vorbild der erfolgreichen Revolution zusammenspielte.
In der ersten „Sturm!“-Sitzung ging es um Erinnerung. 1987 hatten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im letzten möglichen Moment dem Filmer Peter von Bagh vom finnischen Bürgerkrieg von 1917 berichtet, der von beiden Seiten her den Finnen aufoktroyiert wurde: die „Roten“ kamen aus der jungen Sowjetunion, die Finnlands Unabhängigkeit von russischer Herrschaft proklamiert hatte, die „weisse“ Konterrevolution kam aus Deutschland („Memory“, orig. „Muisto“, Finnland 1987).
Kaum jemand weiss noch etwas von diesem Bruderkrieg, dessen Spuren jedoch in der finnischen Bevölkerung noch immer schmerzhaft spürbar sind. Der Fokus dieses für den Schulunterricht gedrehten Films liegt nicht auf der politischen Auseinandersetzung, sondern auf dem Leiden aller Beteiligten.
Ausserdem waren Dokumente zum 17. Juni 1953 in Berlin, zum 2. Juni 1967 (Berliner Proteste gegen den Schah-Besuch), zu den Jugoslawienkriegen, zu Palästina und zum Kampf gegen den Ausbau des japanischen Luftwaffenstützpunkts Tachikawa in den 1950er bis 1970er Jahren zu sehen, manche so speziell und exklusiv, dass sie wenig allgemeines Interesse fanden.
Bilder von Macht: Albtraum Bank
Eröffnet wurde das diesjährige Leipziger Festival mit „Master of the Universe“ von Marc Bauder (D, A 2013). Darin erzählt der zunächst entlassene und später ausgestiegene Investmentbanker Peter Voss über das Gelduniversum, in welchem er lange gut gelebt, sehr gut verdient und sich wohl und mächtig gefühlt hat. Die Lust am Jagen nach Riesendeals fühle sich an wie ein Fieber, man könne sich in diesem Beruf als „Master of the Universe“ erleben, ja, er sei wohl zeitweise heftig von diesem Virus befallen gewesen, sagt der Banker.
Die Interviews fanden in einem krisenhalber leer stehenden Bankenhochhaus in Frankfurt/M. statt. Wie vom Gipfel eines Schweizer Berges auf ein Alpenpanorama blickend benennt Voss die verschiedenen hochragenden Türme der benachbarten Banken. Ja, so eine Institution vermittle, wenn man mal drin sei, Geborgenheit, man sei rundum versorgt – es werden betriebseigene Kindergärten angeboten und gelegentliche Familienanlässe, wo die Community mit Frauen und Kindern etwa nach Gstaad fahr, freilich sollte die Familie zum Beruf passen. Als Voss als junger Mann in dieses Universum eintauchte, polierte er zuerst einmal sein Englisch auf und studierte Bücher über Zigarren, Wein, Kleider und Schuhe. Andere Welten, Systeme und Werte kommen ausserhalb des Horizonts des Geschäfts zu liegen.
Der Filmer schneidet Aufnahmen von spiegelnden, staubfrei strahlenden Glasfassaden von Banken-Geldkristallen zwischen die einzelnen Interviewsequenzen – Bilder von oberflächlicher Transparenz und Reflexionen ihrer selbst. Und die Familie? Ein emotional unklares Schweigen arbeitet auf Peter Vossens Gesicht – nein, da soll der Interviewer nicht weiter in ihn dringen – während er auf die Frage nach dem Finanzcrash in Griechenland, Portugal, Spanien, „und wer ist der Nächste?“ rasch und nicht ohne einen gewissen bitteren Triumph antwortet: „Frankreich“. Frankreich, und dann sei es fertig mit Europa, Frankreich werde nicht gerettet werden können. Die Banken griffen zuerst die schwächsten Länder an, dann die stärkeren. Der Zerfall des Euro verheisse Milliardengewinne, viele seien daran interessiert.
Albtraum Waffenindustrie
Aus Israel kommt „The Lab“ von Yotam Feldman (2013). Hauptakteure des Films sind der „Cornershot“ und sein Erfinder. Mit dem Cornershot kann man um die Ecke schiessen, ein entscheidender Vorteil in der urbanen Kriegsführung. Man kann den vorderen Teil auch als Kätzchen, das an der Ecke sitzt, tarnen. Der Cornershot wurde in der Praxis des Krieges gegen die Palästinenser entwickelt. Mit hypomanischer Freude legt ein Philosoph dem Filmer die Theorie dazu dar: die palästinensischen Gebiete seien das Labor, wo Neues ausprobiert werden könne und wo man Erfahrungen sammle. Ein anderer Philosoph erklärt anhand eines Liniendiagramms, dass, wenn 50% der Feinde tot sind, ihr System von selbst kollabiert.
Jeder Angriff auf die Palästinenser stimuliert neue Erfindungen, nach jedem nimmt wiederum der Waffenexport zu, Militär und Waffenindustrie sind eng verbunden. „Tested in Palestine“ qualifiziert israelische Waffen vor anderen. Militärs und Polizei aus der ganzen Welt kaufen daher gerne israelische Waffen, Rios fürchterliche Militärpolizei BOPE ist einer der grössten Kunden. „Waffenhandel“ möchte der Waffenhändler dies nicht nennen. „Why focus on the negative?“ Nennen Sie es lieber „Export von Sicherheit“ oder „Kreativität“. Die israelische Waffenindustrie – von welcher rund 150'000 israelische Haushalte abhängen – sei zurzeit die viertgrösste der Welt, stellt der Filmer fest. Die Kundschaft liebe eben, wird er belehrt, die gute Seite, die sichere Seite und: die Seite der Sieger.
Albtraum Gentechnik
„DNA-dreams“ von Bregtje van der Haak (NL 2012) erzählt von der Entwicklung der Gentechnologie. In China ist man mit unerhörter Effizienz dabei, das menschliche Genom und die Genome allen Lebens zu entziffern, hier freut man sich, dass diese Forschung und Industrie nicht durch ängstliche Gesetze und ethische Bedenken behindert wird. In der Firma BGI (vormals Beijing Genomics Institute) wird gerade die genetische Basis der Intelligenz ermittelt, ein 18-jähriger Hochbegabter leitet das Programm. Man bekundet seine Freude daran, der Menschheit einen Dienst tun zu können, indem man sie dereinst intelligenter macht. Die Arbeit wird sich auch finanziell lohnen – welche Mutter würde ihrem Baby nicht eine etwas gehobene Intelligenz gönnen wollen? Was die chinesische Gentechnologie sonst noch alles entwickelt, erfährt man in diesem Film nicht. Der Blick der Filmerin dringt nicht hinter die spiegelnde, staubfrei strahlende Höflichkeit des Intelligenz-Forschers und die Freundlichkeit der jungen Chinesin, die sie zusätzlich durch die Schweine-Verbesserungs-labors führt. Bewundernd steht auch ein prominenter europäischer Genetiker vor den chinesischen Anlagen – er wird in der europäischen Ablage der BGI, die in Kopenhagen eröffnet worden ist, mitarbeiten.
Zur Vorgeschichte des BGI-Projekts wurde die nur mit Zwischentexten versehene animierte Dokumentation zur Anthropologie „Eugenic Minds“ von Pavel Štingl projiziert („Eugéniové“, Tschechische Republik, Slowakei 2013) und die Recherche „Majubs Reise“ von Eva Knopf (Deutschland 2013).Eva Knopf hat die Geschichte des schwarzen Majub bin Adam Mohamed Hussein alias Mohamed Husen aus Tansania rekonstruiert. Majub war Sohn eines Askari, war selbst im Ersten Weltkrieg treuer deutscher Kolonial-Soldat und ist in zahlreichen deutschen Filmen der 1930er Jahre als Statist und Kleindarsteller („halb Mensch, halb Kulisse“) neben Stars wie Hans Albers, Heinz Rühmann oder Zarah Leander zu sehen. Der Vorwurf der Rassenschande hat ihn ins KZ gebracht, 1944 ist er in Sachsenhausen gestorben. Eva Knopf hat seine Geschichte recherchiert und ihm ein berührendes, trauriges Denkmal gesetzt.
Hinsehen – Atommüll und überschrittene Grenzen des Wachstums
Beitrag und Auftrag eines Filmfestivals sei es, eine „Grundversorgung mit Dokumentarfilmen“ zu gewährleisten, sagte der Festivaldirektor Claas Danielsen. Man sei vor Erkenntnissen nicht geschützt – Dokumentarfilme könnten die Aufmerksamkeit auf Verdrängungen und Leerstellen lenken und unterstützten das Hinschauen. Ähnlich betrachtet Edward Hagen seine „Reise zum sichersten Ort der Erde“, die an dem Festival ebenfalls zu sehen war, als «eine Reise durch tiefe Schichten kollektiver Verdrängung». Der Film dokumentiert die jahrzehntelange weltweite vergebliche Suche nach einem sicheren Entsorgungsort für die hochradioaktiven Abfälle der Atomindustrie. „Last Call“ von Enrico Cerasuolo (Italien 2013) handelt vom elenden Schicksal der Bemühungen des „Club of Rome“, dessen 1972 veröffentlichter Bericht „The Limits to Growth“ seinerzeit enormes Aufsehen erregte, dann aber blindlings bekämpft wurde, so dass die Grenzen des Wachstums mittlerweile bedrohlich überschritten sind. Ein Hinschauen kann helfen, wenigstens da, wo Wahlmöglichkeiten bestehen, unneurotisch zu reagieren.
Austausch – Iranerinnen und Zonenmädchen
Angesichts aller Hinweise auf Ausgrenzung, Abwehr, Vernichtung ist es wohltuend, lebenszugewandten Filmen zu begegnen, die von der Arbeit an zwischenmenschlichen Beziehungen berichten. Dazu gehört das mit dem Filmpreis „Leipziger Ring“ der Stiftung Friedliche Revolution ausgezeichnete Werk „My Stolen Revolution“ von der in Norwegen lebenden iranischen Dokumentarfilmerin Nahid Persson Sarvestani („Min stulna revolution“, Schweden, Norwegen 2013). Dazu gehört „Zonenmädchen“ von Sabine Michel (Deutschland 2013).
Nahid Persson Sarvestani hat einige ihrer überlebenden Freundinnen aus der Widerstandsbewegung von 1979, als Ajatollah Chomeini auf den abgesetzten Schah folgte, zusammengebracht. Die Filmerin ist die einzige, die nicht gefoltert worden ist, und sie schämt sich irgendwie dafür. Sabine Michel ihrerseits reist mit ihren Dresdener Schulfreundinnen nach Paris wie seinerzeit nach Abschluss der Schule, der gerade mit der Öffnung der DDR-Grenze zusammengefallen ist, auch sie dokumentiert das Treffen. Da ihr Land damals plötzlich „sang- und klanglos verschwunden“ war, mussten die jungen Frauen „im ehemaligen Feindesland“ leben lernen. In beiden Filmen spiegelt sich im intimen Raum (in welchem ausgetauscht, erinnert, gestritten, gegessen und gelacht wird) allgemeinere Geschichte und wie damit gelebt wird und gelebt werden kann. Als schweizerisches Analog kann Peter Liechtis „Vaters Garten – die Liebe meiner Eltern“ (Schweiz 2013) und (siehe auch "Journal21") gelten – das Protokoll der Neubegegnung des Filmers mit seinen alten Eltern, von denen ihn seit 1968 ein tiefer generationeller und kultureller Graben getrennt hat.
Rituale – afrikanische Frauen und schweizerischer Männerchor
Rituale verbinden, manche Rituale dienen lebensfreundlichen Gemeinschaften. Mit „Among Women“ hat Kim Brand in Sambia Gespräche unter Frauen gefilmt und den Initiationsritus, mit dem junge Mädchen dort auf ihre Heirat vorbereitet werden („Onder Vrouwen“, NL 2012). Das erstaunliche Dokument zeigt, wie ältere Frauen soziales, spirituelles und körperliches Wissen vital und unverblümt, aber rituell geordnet an die jüngeren weitergeben. Kims Gesprächspartnerin begreift nicht, wie man Frau sein kann, ohne durch dieses Ritual gegangen zu sein.
In „Zum Beispiel Suberg“ (CH 2013) sucht Simon Baumann, wie er sich in die dörfliche Gemeinschaft einfügen könnte. Er ist der Sohn des linksgrünen Nationalraatsehepaars Ruedi und Stephanie Baumann, die sich für ein lebenswertes, nachhaltiges Bauern eingesetzt haben und jetzt in Frankreich leben, „wo man noch Bauer sein kann“, sein Bruder bewirtschaftet jetzt deren Hof. Er selbst möchte, nachdem er dem Dorf lange den Rücken gekehrt hat, da jetzt heimisch werden. Seine Suche erweist sich als wenig ergiebig: das verschlafene Dorf ist zum Schlafdorf geworden, dessen BewohnerInnen wenig mit einander zu tun haben. Milchsammelstelle, Dorfladen, Bahnschalter und Post sind geschlossen worden, da begegnet man sich also auch nicht mehr. „Man sagt, die Welt sei ein Dorf geworden.
Nehmen wir an, dieses Dorf heisse zum Beispiel Suberg, dann kann man hier die ganze Welt sehen.“ Als eine letzte „Oase des Gemeinschaftssinns“ findet der Filmer schliesslich den Männerchor und lernt daher singen. Und er freut sich über ein in neueröffnetes Lädeli, in welchem Selbstgemachtes und Produkte aus der Umgebung zu haben sind. Zu Fuss einkaufen gehen, ein paar Worte wechseln – „es braucht wenig, um sich mit seiner Umgebung enger verbunden und damit geborgener zu fühlen“, schreibt er, und „Think global, act local“.
Also an den Globus denken und das Leipziger Festival besuchen – es findet jedes Jahr in der letzten Oktoberwoche statt.