Am Anfang war der Widerspruch, geboren mit dem Namen, und widersprüchlich blieb es, bis heute und wohl für immer. Das Kind, das vor bald vierzig Jahren das Licht der Welt erblickte, taufte man „Islamische Republik“ – ein Widerspruch in sich.
Denn eine Republik, also eine Ordnung gleichberechtigter Menschen, wollte man von Anfang an nicht sein. Bibliotheken liessen sich füllen mit jenen Büchern, in denen Theoretiker der „Islamischen Republik“ erklären, warum der Iran keine Republik im herkömmlichen Sinne sein dürfe, sein könne und sein werde. Und ernstzunehmende Geburtshelfer von damals sagen heute aus ihrem Exil, ihrem Gefängnis oder Hausarrest, dass ihr Kind von einst weder islamisch noch republikanisch sei.
Lebenswichtiger Quiz
Gesucht wird also immer noch eine passende Bezeichnung, eine genaue Benennung der politischen Ordnung des Iran. Und das ist keine Quizfrage zur Unterhaltung, sondern eine sehr wichtige, ernste Angelegenheit für viele, nicht zuletzt für die Akteure der Weltpolitik. Welches Regime herrscht in diesem wichtigen Land, das sich aufgemacht hat, bestimmende Macht in der Region und darüber hinaus in der ganzen islamischen Welt zu werden? Je nachdem, wie man diese Frage beantwortet, bestimmt man gleichsam das eigene Verhalten und die politische Strategie gegenüber dieser eigenartigen Herrschaft.
Ein Einmannbetrieb?
Ist diese politische Ordnung eine Diktatur, an deren Spitze ein Mann nach Belieben schaltet und waltet, eine Art Einmannbetrieb Ayatollah Ali Khameneis? Sind iranische Präsidenten- und Parlamentswahlen nicht mehr als Alibiveranstaltungen einer Diktatur, wie in Nordkorea und im Iraks Saddam Husseins? Ein Ja ist ebenso falsch wie ein Nein: Eine einfache Antwort sollte man nicht suchen. Richtig ist: Nicht jeder darf bei den Präsidenten-, Parlaments- oder Gemeindewahlen im Iran kandidieren. Wahr ist auch, dass die Siebmaschinerie für die Kandidatenauswahl vielschichtig ist und ausschliesslich von den Geheimdiensten in Gang gehalten wird.
Ist aber erst einmal diese sehr komplizierte und raffinierte Auslese der Kandidaten abgeschlossen, beginnt ein kurzer, höchstens zweiwöchiger Wahlkampf, der echt und folgenreich ist. Denn auch bei den iranischen Wahlen geht es, allen Beschränkungen zum Trotz, um politische Macht, wie überall in der Welt. Daher sind die Wahlen für die Kandidaten ernst und oft lebensgefährlich, auch nach der Wahl, welches Ergebnis diese auch immer hatte.
Schicksale vor der Wahl, nach der Wahl
Eine kurze Revue der Präsidentenschicksale beweist das: Der erste Präsident dieser Republik (Abolhassan Bani Sadr) floh nach nur sechs Monaten Amtszeit ins französische Exil. Der Zweite (Mohammad Ali Rajai) fiel wenige Wochen nach der Amtsübernahme einem Attentat zum Opfer, der Dritte (Khamenei) hat als einziger danach bessere Tage erlebt und ist heute der mächtige Revolutionsführer. Irans vierter Präsident Akbar Hashemi Rafsandschani, der nach dem Tode Khomeinis in das Amt kam, verstarb kürzlich weitgehend isoliert und verfemt. Dann kam der so genannte Reformpräsident Mohammad Chatami, der sich heute in der Öffentlichkeit nicht zeigen darf, Medien dürfen weder seinen Namen erwähnen noch sein Photo drucken.
Mahmud Ahmadinedschad, der mit Lärm und Unruhe ins Amt gehievt wurde, ist inzwischen ebenfalls isoliert, er darf sich nicht mehr um ein neues politisches Mandant bewerben. Und Rouhani, der sechste Präsident der Republik, der dieser Tage unter massivem Druck steht, weil er es noch einmal versuchen will. Zwei Präsidentschaftskandidaten von 2009 (Mir Hossein Moussavi und Mehdi Karrubi) fristen seit bald sieben Jahren ihr Dasein in strengem Hausarrest.
Man könnte einwenden, dass gerade diese Biographien doch zeigten, dass wir es eben mit einer islamischen Republik zu tun hätten: einem Gottesstaat schiitischer Prägung, in dem Turbanträger die Spielregeln bestimmen. Und dies hätten alle zur Kenntnis zu nehmen: Ex-Präsidenten und Kandidaten von einst ebenso wie die Akteure der heutigen Weltpolitik.
Was ist islamisch: die Macht oder die Bevölkerung?
Doch auch dieser Einwand, der Iran sei ein Gottesstaat der Turbanträger, stimmt nicht ganz mit der Realität überein, er hat zahlreiche entscheidende Haken. Um nur einige aufzuzählen: Im Iran sitzen derzeit mehr Geistliche wegen politischer Vergehen im Gefängnis als während der Schah-Zeit. Nirgendwo in der islamischen Welt sind die Moscheen so leer wie im Gottesstaat. Über 60 Prozent der iranischen Studierenden sind weiblich, was vielen einflussreichen Geistlichen überhaupt nicht gefällt. Und zu allerletzt: Vergangenen Montag veröffentlichte das Amt für Statistik Zahlen, die zeigen, dass die Bevölkerung des Iran nicht mehr wächst. Die Zahl der Eheschliessungen und Geburten geht zurück, obwohl Ayatollah Khamenei die Gläubigen unermüdlich auffordert, für mehr Geburten zu sorgen und der Staat hohe Prämien für mehr Kinder zahlt.
Wie man sieht, herrschen die Turbanträger also doch nicht uneingeschränkt, sie haben offensichtlich nicht alles unter Kontrolle – von ihrem schlechten Ruf in der Öffentlichkeit ganz zu schweigen. Eine Republik voller Widersprüche, wohin man schaut.
Sinnbild der Widersprüche
Im höchsten Machtzirkel dieser eigenartigen Republik finden sich bekannte Politiker, die all diese Unvereinbarkeiten praktisch in sich vereinigen. Echte Gläubige und zynische Machtpolitiker zugleich, sind sie quasi die Verkörperung des Staats mit all seinen Gegensätzlichkeiten. Das beste Beispiel ist Ali Mottahari: Der Vizepräsident des iranischen Parlaments ist das Sinnbild vieler Unvereinbarkeiten. Den 60-Jährigen kennt jeder Iraner, nicht nur wegen seiner Widersprüche, seiner offenen Worte und spektakulären Auftritte, sondern auch wegen seines Vaters Morteza Mottahari.
„Khomeinis Augenlicht“
Den Vater sieht man auf dem berühmten Foto der Heimkehr des Ayatollah Ruhollah Khomeinis am 1. Februar 1979 hinter dem Revolutionsführer. Sein „Augenlicht“ sei erloschen, sagte Khomeini, als der alte Mottahari wenige Monate nach dieser Aufnahme bei einem Attentat getötet wurde. Er hatte schon während der Schah-Zeit Dutzende Bücher über den politischen Islam verfasst und wird heute im Iran als der Philosoph schlechthin verehrt. Mottahari galt als die rechte Hand von Republikgründer Khomeini. Heute sind Schulen, Universitäten und Strassen nach ihm benannt, Forschungsinstitute analysieren seine Werke und Ideen, in seinem Namen werden Wissenschaftspreise verliehen.
Geerbte Immunität nutzt nicht immer
Ist man eines solchen Vaters Sohn, ist man gegen einige Widrigkeiten des politischen Lebens immun. Der Sohn hat aber noch mehr Garantien: Sein Schwiegervater ist ein einflussreicher Grossayatollah, seine Schwester mit Parlamentspräsident Ali Laridschani verheiratet. Mehr politische und familiäre Verflechtungen mit der Macht kann man nicht aufbieten, um eine gewisse Meinungsfreiheit zu geniessen. Trotzdem gelingt Mottahari das nicht immer. Ausserhalb Teherans kann er inzwischen kaum noch auftreten, seine Veranstaltungen in der Provinz enden stets mit Tumulten, Verletzten, Verhaftungen. Und selbst in der Hauptstadt Teheran ist immer ein massives Polizeiaufgebot nötig, wenn der Vizepräsident des Parlaments eine Rede halten oder mit Studenten diskutieren will. Seine Klagen zeigen keine Wirkung, er bleibt aber beharrlich.
Freiheitsliebender Kritiker …
Mottahari wird von jedem für seine offenen Worte bewundert. Er erlaubt sich – wenn auch sehr vorsichtig – sogar, Khamenei zu kritisieren. Manchmal redet er wie ein unermüdlicher Verteidiger der Redefreiheit, fordert etwa, den Hausarrest von Moussavi und Karrubi aufzuheben, oder wirft Präsident Rouhani vor, die Geheimdienste nicht zu zügeln. Ein aktuelles Beispiel: Am vergangenen Donnerstag protestierte Mottahari heftig und erbost, weil Revolutionsgarden tags zuvor Dutzende User des Nachrichtenservices Telegram Messenger verhaftet hatten. Doch das ist nur das eine, tolerante Gesicht des Parlamentsvize.
… und reaktionärer Muslim
Denn Mottahari ist auch ein wahrer Sohn seines Vaters, also ein streng gläubiger Muslim, der zwar tolerant sein will, doch dabei oft an seine eigene Grenze stösst. So oft wie Mottahari für Rede- und Versammlungsfreiheit eintritt, mokiert er sich im Parlament auch regelmässig darüber, dass junge Frauen zunehmend islamische Kleidervorschriften missachten würden. Bei einer Parlamentssitzung führte er ein Video vor, in dem auf einer langen Strasse ausschliesslich junge Frauen zu sehen waren, die mehr oder weniger aufregende Leggings trugen. Nach der Vorführung fragte er die Abgeordneten, ob sie wüssten, wo diese Strasse liege, und gab die Antwort selbst: in der Hauptstadt der Islamischen Republik. Was mache der Kultusminister des Landes, warum schweige der Staatspräsident zu einer solchen Schande, klagte Mottahari.
Widersprüchlich, aber glaubwürdig
Mottahari ist die Verfassung der Islamischen Republik in Person – mit all ihren Widersprüchen. Und er versucht glaubwürdig, diese Verfassung zu vertreten oder besser gesagt zu retten, denn viel Macht hat er nicht. An manchen Tagen, wenn sein Schwager, der Parlamentspräsident, nicht da ist, darf er Parlamentssitzungen leiten. Seine Klagen darüber, dass er ausserhalb des Parlaments kaum ungestört eine öffentliche Rede halten kann, werden kaum beachtet. Diese richtet er übrigens an eine Judikative, deren Chef Sadek Laridschani ist, der Bruder des Parlamentspräsidenten.
Rouhani bester Repräsentant der Widersprüche?
Wie sich Parlamentsvize und Staatspräsident gleichen: Mottahari und Rouhani haben zwar Ämter, aber keine wirkliche Macht. Beide sind Brüder im Geiste. Sie glauben, die islamische Republik bestens repräsentieren zu können und allein deren Verfassung verteidigen oder retten zu können – allen Geburtsfehlern und Widersprüchen dieser Verfassung zum Trotz. Sie haben recht, weil sie Inkarnationen dieser Verfassung sind, sie stehen für die Widersprüche dieses Staates. Suchte man einen authentischen, originellen Unterstützer Hassan Rouhanis im kommenden Wahlkampf, wäre Ali Mottahari der richtige Mann.
Die Reformer werden Rouhani mangels Alternativen unterstützen, doch diese Unterstützung ist taktisch und mit der Hoffnung auf bessere Zeiten verbunden. Der innere Kern der Macht, also jene, die in Khameneis Haus ein- und ausgehen, haben andere Sorgen: Sie wollen eine sichere Wahl für in- und ausländische TV-Kameras, eine vorzeigbare Wahlbeteiligung und Kandidaten, die sich im genau definierten Rahmen bewegen. Der Rest ist zweitrangig.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal