Aus Anlass der Gedenkfeier zum Überfall auf Polen am 1. September 1939 empfing Polens Präsident Andrzej Duda am Sonntag Vertreter aus mehr als 30 Ländern in Warschau auf dem Pilsudski-Platz. Darunter befanden sich auch der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Kanzlerin Angela Merkel, die von Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki auf den Platz geleitet wurden.
Diese Gedenkfeierlichkeiten wirkten nicht aufrichtig. Denn jeder wusste, dass ein Thema, das den Polen auf den Nägeln brennt, bis auf eine Ausnahme andernorts in Warschau sorgsam ausgespart wurde: die Forderung nach Reparationen.
Diese Forderung ist nicht ganz neu, aber sie wird jetzt mit grösserer Dringlichkeit vorgetragen. Die Höhe ist exorbitant. Es heisst, es gehe um Beträge von bis zu einer Billion Euro. Die Bundesregierung stellt sich auf den Standpunkt, dass alle Reparationsforderungen bereits abgegolten beziehungsweise rechtlich abschliessend geregelt seien. Das ist aber nicht unumstritten.
Auch Griechenland fordert hohe Reparationen, und die Bundesregierung argumentiert ähnlich. Ebenfalls wird in Italien über Reparationsforderungen nachgedacht. Andere Länder könnten möglicherweise folgen.
Es ist verständlich, dass die Bundesregierung den Deckel auf diesem Fass fest verschlossen halten will. Denn wird dieses Fass erst einmal geöffnet, könnten die finanziellen Folgen unabsehbar sein. Der moralische Preis für diese Haltung aber ist hoch. Man bekundet bei den einschlägigen Gedenkanlässen tiefste Reue, gibt sich zerknirscht, aber wenn es um tätige Reue geht, stellt man sich taub.
Könnte man nicht wenigstens darüber reden? Genügt es, Ansprüche, deren tiefste Berechtigung jedem fühlenden Menschen nahegeht, schlicht und einfach mit juristischen Argumenten vom Tisch zu wischen?
Hinter Geldforderungen können Ansprüche stecken, die über das rein Materielle hinausgehen. Es kann auch um menschliche Anerkennung und Genugtuung gehen. Deshalb sollte die Bundesregierung sich mit Vertretern aller Länder, die meinen, mit Deutschland noch offene Rechnungen zu haben, zusammensetzen und darüber nachdenken, auf welche Weise diese behandelt werden sollen.
Keinem Nachbarland kann daran gelegen sein, Deutschland mit Reparationsforderungen wirtschaftlich zu ruinieren. Wohin das führt, haben die Schwierigkeiten der Weimarer Republik gezeigt. Aber Deutschland könnte sich offen zeigen für Projekte, die im Zeichen der begangenen Verbrechen Ausdruck tätiger Reue sind.
Eine solche Haltung ist wesentlich bedeutsamer, als es auf den ersten Blick erscheint. Denn es hat sich immer wieder gezeigt, dass Menschen, die Opfer von Verbrechen wurden, am sehnlichsten Respekt erwarten. Sie wissen selbst, dass die Taten nicht ungeschehen gemacht werden können. Aber ihr Leid sollte wenigstens nicht missachtet werden. Das ist auch eine Frage des menschlichen Anstands.