Könnten Amerikaner in einer Umfrage über ihre Religionszugehörigkeit ausser „christlich“, „islamisch“, „jüdisch“ oder „anderes“ auch „Football“ ankreuzen, sie würden es wohl in grosser Zahl tun. Das zumindest glaubt Chad Gibbs, Autor eines Buches über den Zusammenhang von Glauben und Fanatismus mit American Football auf Universitätsebene im Süden der USA. Jährlich pilgern 17,3 Millionen Amerikaner in die Stadien, um sich Spiele der professionellen National Football League (NFL) anzuschauen – etwas mehr, als Amerikas südliche Baptisten Mitglieder zählen.
Amerika, schliesst Gibbs, sei am Ende keine christliche Nation, sondern „in Wirklichkeit eine Football-Nation“. Wer das nicht glaube, brauche sich am Sonntagmorgen bloss in einer Kirche umzuschauen: Schon während der Predigt würden die Gläubigen beginnen, nervös auf ihre Uhr zu schauen. Andere würden sichtbar unruhig und den Gottesdienst vorzeitig verlassen: „Gott ist ewig, aber Spielbeginn ist um zwölf Uhr mittags“.
Seit vergangenem Wochenende läuft in Amerika die neue Football-Saison. Für Hardcore-Fans lässt Football vorübergehend alle nationalen Probleme in den Hintergrund treten: die hartnäckige Wirtschaftskrise, die hohe Arbeitslosigkeit, die teuren Kriege in Afghanistan und im Irak, den staatlichen Schuldenberg, die angeblich drohende Überfremdung. Während im November 2000 in Tallahassee (Florida) Stimmen nachgezählt und der Ausgang der amerikanischen Präsidentenwahlen entschieden wurde (das Oberste Gericht in Washington DC zog am Ende George W. Bush Al Gore vor), kam es in der Hauptstadt Floridas zum grossen Footballspiel zwischen zwei erbitterten Rivalen: den „Seminoles“ der lokalen Florida State University und den „Gators“ der University of Florida aus Gainesville..
Findige Strassenhändler verkauften damals in Tallahassee ein farbenfrohes T-Shirt mit dem Aufdruck „The Other Big Game in Florida“. Es zeigte zwei aufeinander prallende Football-Helme, die mit „Al“ und „George“ beschriftet waren. Präsidenten kommen und gehen, aber ein Sieg über den verhassten Erzrivalen ist für die Ewigkeit.
Doch auch Football kann sich dieser Tage der Realität nicht entziehen. Zum einen droht Zoff zwischen hoch bezahlten Spielern und schwerreichen Clubbesitzern. Die Besitzer argumentieren, sie müssten ihre Gürtel enger schnallen, da die Teams, die laut dem US-Wirtschaftsmagazin „Forbes“ im Schnitt 1,02 Milliarden Dollar wert sind, in der vergangenen Saison 2 Prozent an Wert verloren hätten. Die Spieler halten dagegen, eine Verlängerung der Saison um zwei Spiele von 16 auf 18 Partien (und die damit verbundenen Mehreinnahmen für die Besitzer) würde höhere Saläre rechtfertigen. Werden sich die beiden Seiten nicht einig, dürfte es, wie schon vor fünf Jahren, 2011 zum Streik kommen – keine schöne Aussicht für Fans, die sich dem Sport zuwenden, um ihre Alltagssorgen zu vergessen.
Zum andern hängen dieses Jahr in den Garderoben der Teams erstmals unübersehbar Plakate mit der Überschrift „HIRNERSCHÜTTERUNG“. Nach Jahren der Verdrängung und des Leugnens hat die Profi-Liga endlich eingesehen, dass sie sich mit den längerfristigen Auswirkungen von Hirnerschütterungen auf die Gesundheit ihrer Spieler beschäftigen muss. Jedenfalls erkranken laut medizinischen Untersuchungen frühere Football-Spieler in den USA häufiger an Alzheimer oder Demenz als ihre Altersgenossen. Auch sollen sich unter Ex-Profis der NFL Fälle von Selbstmord häufen.
In Zukunft sollen nun besser gepolsterte Helme und striktere ärztliche Kontrollen helfen, das Risiko späterer Erkrankungen zu mindern. Dies in einem Sport, dem ein Leitartikler der „New York Times“ jüngst „Ultra-Macho-Exzesse“ bescheinigt hat. Das Blatt sorgt sich vor allem um das Wohl jüngerer Footballspieler, die dazu neigten, ihre Idole und deren Machismo vorbehaltlos zu imitieren. In den USA spielen aber über eine Million Primarschüler und Teenager Football. Dabei wird, wie auf einem Video auf Youtube zu sehen ist, bereits Achtjährigen unter dem Applaus ihrer Eltern beigebracht, wie sie Kopf voran andere Spieler rammen können. Die Fans nennen den Kampf Helm gegen Helm genüsslich „smashmouth football“: eins in die Fresse, ohne Rücksicht auf Verluste!
Konsequent zu Ende gedacht, gehörte American Football – in Wirklichkeit kein Kontakt- sondern ein Kollisionssport - aus gesundheitlichen Gründen abgeschafft. Doch dazu wird es mit Sicherheit nie kommen. Allzu sehr ist der Sport, der letztlich auf der Eroberung von Raum basiert, mit dem Wesen und der Geschichte der Vereinigten Staaten verflochten. Es ist so, als würde einer in der Schweiz die Abschaffung des nicht immer ungefährlichen Schwingsports fordern. In Amerika hat immerhin einer der bekanntesten Football-Journalisten des Landes, Kolumnist Michael Wilbon von der „Washington Post“, öffentlich zugegeben, er habe angesichts der jüngsten Erkenntnisse der Medizin seinem Sohn verboten, Football zu spielen.