Der Islamismus ist nicht der Islam! Dies ist die Meinung der weitaus meisten Muslime und auch der vielen Aussenstehenden, die sich ernsthaft mit dem Islam befassen. Wenn dies zutrifft, stellen sich Fragen: Wie kam der Islamismus – dieser „Nicht-Islam“ oder „Anti-Islam“ – zustande? Was hat sein Erscheinen bewirkt? Warum übt er eine Wirkung aus auf eine kleine, aber sehr sichtbare Minderheit der Muslime? Handelt es sich dabei um eine wachsende oder um eine abnehmende Wirkung?
Wovon sprechen wir?
Doch bevor man solche Fragen zu beantworten versucht, drängen sich ein paar Definitionen und Begriffsklärungen auf.
Unter „Islam“ ist eine Weltreligion zu verstehen mit ihrer Theologie und theologischen Entwicklung über fast 1400 Jahre hinweg. Unter „Islamismus“ verstehen wir eine ideologisierte Form des Islams, die den Muslimen das Heil auf dieser Erde verspricht, wenn sie nur dem Islamverständnis der Propagandisten des Islamismus folgen wollen.
Die Ideologie ist dadurch bestimmt, dass sie islamische Staaten anstrebt und letzten Endes einen islamischen Weltstaat. Dieser erhoffte Staat gilt den Islamisten als „islamisch“ wenn er nach der Scharia, dem islamischen Gottesgesetz, regiert wird.
Die Ideologie besagt, dass ein solcher islamischer Staat der beste aller möglichen Staaten sei, weil so von Gott gewollt. Die Scharia freilich ist ein ausserordentlich komplexes und vielfältiges Rechtssystem, ausgearbeitet von vielen Rechtsgelehrten über Jahrhunderte, mit unterschiedlichen Rechtsschulen und Meinungen. Wenn die Islamisten von Scharia sprechen, meinen sie in Wirklichkeit die Auslegungen und das Scharia-Verständnis, das die von ihnen anerkannten und ernannten angeblichen Scharia-Gelehrten vertreten. Dies läuft darauf hinaus, dass die Islamisten die Macht anstreben, einen Staat zu beherrschen, der nach dem von ihnen bestimmten Scharia-Verständnis – formuliert durch ihnen genehme Scharia-Fachleute – regiert wird.
Demgegenüber anerkennt der traditionelle Islam, jener der immensen Mehrheit der Muslime, die Figur des De-facto-Herrschers. Er lehrt, dass die Muslime diesem Herrscher gehorchen sollen, um Bürgerkrieg zu vermeiden, sogar wenn er selbst nicht als fromm gelten kann. Solange er es den Muslimen erlaubt, als Muslime zu leben, sind sie ihm Gehorsam schuldig.
Gewalt oder Predigt?
Unter den Islamisten gibt es zwei grosse Gruppen. Die eine geht darauf aus, ihren Scharia-Staat durch Überzeugungsarbeit zu erreichen. Die andere hält es für erlaubt, unter Umständen Gewalt anzuwenden, um den Scharia-Staat zu erkämpfen. Diese zweite Gruppe der Islamisten nennt man auch Dschihadisten. Sie behaupten, sie stünden im „Heiligen Krieg“ (Dschihad) gegen alle Andersgläubigen. Als solche betrachten sie auch die weit überwiegende Zahl der Muslime, die ihrer abwegigen Islamauslegung nicht folgen wollen.
Gewalt gegen andere Muslime widerspricht dem Islam. Er sieht alle Muslime als seine Brüder. Doch die Dschihadisten erklären, die „Anderen“ seien keine „wahren Muslime“. Wahre Muslime seien nur sie und ihre Glaubensgenossen.
Die traditionellen Gottesgelehrten haben den Begriff des „heiligen Krieges“ stets eng ausgelegt. Sie betrachteten ihn als einzig zulässig, wenn er von einem legitimen Nachfolger des Propheten Muhammed geführt werde – das heisst vom Kalifen für die Sunniten – oder wenn es um einen Abwehrkampf gehe, der sich gegen Angreifer richte. Ausserdem kennen traditionelle muslimische Theologen Regeln, die für Kriege gelten. Nach diesen sollten Frauen und Kinder geschont werden. Die Machthaber der islamischen Welt haben sich allerdings nicht immer an diese Einschränkungen gehalten. Für sie war stets die Versuchung da, ihre Kriege als „heiligen Krieg“ zu beschreiben, um ihre Aktionen zu legitimieren.
Die Gelehrten zitieren einen berühmten Koranvers, der beginnt „Es gibt keine Gewalt in der Religion“ (2,257). Sie setzen diese Aussage den zahlreichen anderen koranischen Stellen entgegen, in denen der Prophet seine Gemeinschaft zum Kampf gegen die Ungläubigen aufruft. Gegensätze im Koran werden dadurch erklärt, dass die dort gegebenen Weisungen Gottes in manchen Fällen eine spezifische Gegebenheit oder Lage ansprechen. In anderen handelt es sich um allgemein gültige Normen. Die Kriegsaufrufe beziehen sich nach den Auslegungen stets auf die Kämpfe mit Mekka, nachdem der Prophet aus Mekka vertrieben worden war, in Medina von Mekka aus angegriffen wurde und von Medina aus gegen seine heidnisch gebliebene Heimatstadt Krieg führte.
Gewalt rückt ins Zentrum
Im Gegensatz zu dieser einschränkenden Sicht des traditionellen Islams machen die dschihadistischen Islamisten die Gewalt zum Zentrum ihrer abweichenden Islamauffassung. Für sie gilt, dass ihre Religion Zwang sei. Sie sehen sich als berufen an, ihren „Islam“ durch Zwang auszubreiten, auch gegenüber anderen Muslimen, die ihren Ideen nicht folgen wollen.
Es gibt fünf Grundpflichten, die für alle Muslime gelten und allen bekannt sind: Glaubensbekenntnis, Gebet, Armensteuer, Fasten im Ramadan und die Pilgerfahrt. Man nennt sie die fünf Säulen des Islams. Doch einer der Ideologen das dschihadistischen Islamismus hat eine Schrift darüber verfasst, dass es einen „geheimen“ sechsten Pfeiler des Islam gebe, den Dschihad, den er als Heiligen Krieg versteht. Dies war Abdul Salim Faraj, der geistliche Mentor von Khalid al-Islambuli, des Armeeoffiziers und Terroristen, der Präsident Sadat von Ägypten 1981 ermordete. Beide wurden nach dem Attentat hingerichtet.
Gewalt führt zu mehr Gewalt
Seither hat die Gewalttätigkeit der gewaltbereiten Islamisten weiter zugenommen. Eine Folge von Kämpfen, in die sie verwickelt waren, hat bewirkt, dass sie sich zunehmend als Kämpfer verstanden, und dass der Kampf immer weiter ausgedehnt wurde.
Zuerst richtete sich ihre Gewalt primär gegen die in ihrer Sicht nicht genügend „islamischen“ Herrscher der eigenen Länder.
Dann darüber hinaus auch gegen jene ausländischen Machthaber aus der europäischen und aus der amerikanischen Welt, welche die heimischen Tyrannen von aussen her stützten.
Schliesslich richtete sie sich auch gegen alle Muslime und Nicht-Muslime, die sich nicht dem Befehl der islamistischen Gruppen und ihrer Führung unterstellen wollten.
Die islamistischen Jihadisten entwickelten dabei einen Kult der Gewalt, die sie offen vorzeigen. Er dient ihnen dazu, Angst zu verbreiten und gleichzeitig Anerkennung zu gewinnen sowie auch die eigene Gruppe zusammenzuschweissen. Dies letzte funktioniert, weil es für die Gewalttätigen schwer oder unmöglich wird, sich aus der Gewaltspirale zu retten, in die sie sich verfangen haben.
Die Gewalt geht folgerichtig bis zur Gewalt gegen sich selbst, die als Selbstaufopferung für „den Islam“ gesehen wird, das heisst in Wirklichkeit: für die eigene sich islamisch nennende Sekte. Selbstmord ist im Islam streng verboten. Doch die Islamisten rechtfertigen die Selbstmordanschläge, zu denen sie die schwächsten ihrer Anhänger überreden, als Dienst an Gott, sowie an der eigenen Gemeinschaft und ihrer deformierten angeblichen Religion. Sie reden den vorgesehenen Opfern ein, sie würden durch ihre Untat das Paradies verdienen.
Ursprünge des Islamismus
Die Ideologie des Islamismus in ihren gewaltlosen und Gewalt ausübenden Varianten greift auf bestimmte theologische Richtungen des klassischen Islams zurück. Sie geht von ihnen aus, begibt sich aber dann auf einen eigenen Entwicklungsweg, der sie über bestimmte historische Erfahrungen und Episoden in eine Spirale immer weiter anwachsender Gewalt hineintreibt.
Man kann drei Hauptwurzeln erkennen, aus denen die heutigen Gruppen jihadistischer Gewaltanwendung im arabischen Raum entstanden sind. Auch im Bereich Irans und in jenem des Islams auf dem Indischen Subkontinent gibt es theologische Richtungen mit Gefolgsleuten, die sich der Gewaltausübung zuwandten und immer weiter in sie hineinsteigerten. Oftmals haben sich diese östlicheren Strömungen mit den aus dem arabischen Westen stammenden gekreuzt und verbunden.
1) „Wahabiten“
Es gibt Islamisten, die sich von der Gewalt fernhalten. Eine Gruppe von diesen sind die heutigen Untertanen des saudischen Königs. Sie folgen einer bestimmten Islamausrichtung, welche die Aussenstehenden den „Wahabismus“ nennen. Sie selbst bezeichnen sich als „Befürworter der Einheit Gottes“, arabisch Muwahidûn.
Die Anhänger der Lehre von Muhammed Ibn Abdul-Wahab (1703–93) waren keineswegs immer gewaltfrei. Ihre Bewegung hat eine lange Geschichte. Sie begann 1744 mit der Zusammenarbeit des Gottesgelehrten Ibn Abdul-Wahab mit Mohammed Ibn Saud, dem damaligen lokalen Fürsten des Najd. Najd ist eine Region im Inneren des östlichen Teils der Arabischen Halbinsel. Durch dieses Bündnis unterstellte sich der Gründer der radikalen Religionsbewegung dem weltlichen Fürsten des Najd und erhielt im Gegenzug für sich selbst und seine Nachfahren das Recht, die Form und den Geist der dortigen Religionsausübung zu bestimmen.
Bis heute sind die Nachfahren Ibn Abdul Wahabs und jene der saudischen Herrscherfamilie miteinander verbunden. Die beiden Familien, Âl Saud und Âl al-Schaikh genannt, sind vielfach miteinander verschwägert. Die Arbeitsteilung zwischen ihnen besteht weiter. Es gab dreimal Saudische Dynastien, die sich auf die wahabitische Religionsrichtung stützten.
Doch der Saudi-Herrscher und Gründer der dritten Verkörperung des saudischen Reiches, Abdul Aziz ibn Saud (1875–1953), hat zuerst die Gewaltwilligkeit der wahabitischen Ikhwan („Brüder“) dazu benützt, sein Reich zu gründen und auszudehnen. Er hat sie dann, nachdem er 1924 mit ihrer Hilfe Mekka und Medina erobert hatte, in den Jahren 1928 und 29 niedergeschlagen und gebändigt, weil sie sich gegen ihn zu wenden drohten. Der Feldzug gegen sie verlief mit britischer Hilfe.
Die wahabitischen „Brüder“ kritisierten den König, weil er „Neuheiten“ wie das Telephon und das Automobil einführen wollte. Aber auch, weil er sich zum Herrscher über die ganze Halbinsel aufgeworfen hatte und dadurch Bevölkerungszentren in sein Reich einbezog, die sich nicht mit dem Weltbild der wahabitischen Fanatiker vereinbaren liessen.
Seit dieser Bändigung ihrer extremen Kreise und Kämpfer überliessen die wahabitischen Geistlichen den Königen Saudi Arabiens das staatliche Gewaltmonopol. Für den saudischen Staat wurden sie Stützen im religiösen Bereich. Im Gegenzug erhielten sie das Recht, das saudische Religionswesen anzuführen und zu bestimmen. Auch das Rechtswesen ist in ihrer Hand, da im Königreich die Scharia – gemäss dem Scharia-Verständnis der wahabitischen Gottesgelehrten – gilt.
Die Besetzung der grossen Pilgermoschee von Mekka durch gewalttätige Islamisten im Januar 1979 war ein Nachklang aus den gewalttätigen Zeiten der wahabitischen Brüder. Die damaligen Täter waren Stammesgenossen, Söhne und Enkel von besiegten „Brüdern“ der früheren Zeit. Die Moscheebesetzer wurden nach zwei Wochen dauernden Kämpfen besiegt und in der Folge auf mehrere saudische Städte verteilt, wo sie dann geköpft wurden. Dass die grosse Moschee dermassen überrumpelt werden konnte, war ein schwerer und unerwarteter Schlag für die damaligen saudischen Herrscher.
Ideologie und Praxis
Die – eher einfache – Ideologie der heutigen gewalttätigen Islamisten und jene der saudischen Wahabiten sind praktisch dieselben. Im Falle des Ibn Abdul-Wahab, eines Arabers aus dem 18. Jahrhundert, war es naheliegend, eine Rückkehr zu Lebensformen und Gebräuchen zu fordern, die zur Zeit des Propheten gegolten hatten. Die Lebensbedingungen der damaligen Araber auf der Halbinsel hatten sich nicht grundlegend geändert seit der Zeit des Propheten, und ein Islam, der diesen entsprach, erschien als natürlich.
Ibn Abdul Wahab war bestrebt, die „Neuerungen“ in der islamischen Religion und im Brauchtum auszumerzen und in allen Einzelheiten von Leben und Gottesdienst zum Vorbild des Propheten zurückzukehren. Er wetterte daher gegen die islamische Mystik, eine Entwicklung späterer Jahrhunderte, gegen die Gräber von Heiligen und gegen Heilige überhaupt, denn sie zu verehren erschien ihm als „Götzendienst“. Er forderte weiter eine Rückkehr zu den strengen Regeln der Geschlechtertrennung, von denen er annahm, sie hätten zu Zeiten des Propheten in Kraft gestanden und die – zumindest in Ansätzen – im Stammesleben der Araber seiner Zeit fortdauerten.
Die Schiiten, deren religiöse Besonderheiten sich nach der Zeit des Propheten entwickelt hatten, waren ihm ein Graus, den es auszutilgen galt. Die frühen Wahabiten des ersten saudischen Reiches haben denn auch 1802 einen grausamen Raubzug nach Kerbela unternommen und die dortigen Heiligtümer der Schiiten geplündert sowie Tausende der Anwohner und Pilger ermordet.
Diese Untaten und der Umstand, dass von 1805 an die Wahabiten Mekka und Medina kontrollierten, führten zu einer Reaktion des Osmanischen Reiches. Der Sultan forderte seinen Gefolgsmann, den ägyptischen Stadthalter Muhammed Ali auf, gegen die Wahabiten vorzugehen. Dieser entsandte seinen Sohn Ibrahim mit einer „modern“ ausgerüsteten Armee, die über Kanonen verfügte und von französischen Beratern begleitet war, nach Arabien. Das erste saudische Reich wurde von 1811 bis 1818 niedergekämpft und der damalige Herrscher, Saud Ibn Abdul Aziz, gefangen genommen und in Istanbul zusammen mit den wichtigsten wahabitischen Gottesgelehrten enthauptet. Diese Ereignisse aus dem 19. Jahrhundert zeigen, wie sehr die wahabitische Lehre und das Verhalten ihrer fanatischen Anhänger dem zeitgenössischen offiziellen Islam widersprachen.
Die Lehre der Wahabiten ist seither die gleiche geblieben. Doch ihre Praxis kam unter die Kontrolle des saudischen Königshauses, das darauf angewiesen war und auch darauf ausging, innerhalb der heutigen Völkergemeinschaft zu existieren. Das galt besonders, als es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Erdölmacht von grossem Reichtum und internationaler Bedeutung sowie zu einem Verbündeten und Schutzbefohlenen der Vereinigten Staaten geworden war.
2) Muslimbrüder
Auch die Muslimbrüder haben ein gemischtes Verhältnis zur Gewalt. In ihrem Fall ist es umgekehrt, sie begannen gewaltlos als eine Kleingruppe in der Suez-Kanalstadt Ismailiya im Jahr 1928. Später glaubten sie sich jedoch gezwungen, eine geheime Gruppe von gewalttätigen Kämpfern aufzustellen, deren Existenz sie offiziell dementierten.
Auch die Muslimbrüder haben das Ziel, einen islamischen Staat zu errichten. Man kann sie deshalb als Islamisten einstufen. Doch – offiziell jedenfalls – sind sie nicht gewaltbereit. Sie suchen vielmehr durch Überzeugungsarbeit eine Mentalität zu verbreiten, die schliesslich zu einem islamischen Staat führen soll. Ein wichtiges Mittel dieser Missionsarbeit ist die Wohltätigkeit für bedürftige Muslime. Die sozialen und wohltätigen Werke der Brüder für Mitmuslime trugen dazu bei, den Einfluss ihrer Gruppierung, besonders in Ägypten, weit auszudehnen.
Der Umstand, dass sie auch Freiwillige in den Kampf um Palästina sandten, trug dazu bei, dass die Brüder in den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts einen bewaffneten Arm entwickelten. Als diese geheime Fraktion 1948 den ägyptischen Ministerpräsidenten Nukrashi Pascha ermordete, wurde im Gegenschlag Hassan al-Banna, der charismatische Gründer der Brüderbewegung, von Unbekannten ermordet, die wahrscheinlich zum königlich-ägyptischen Geheimdienst gehörten.
Die Bruderschaft wurde 1952 nach der Machtübernahme Nassers nicht – wie alle anderen politischen Parteien – verboten. Doch sie geriet in Gegensatz zu den Freien Offizieren der nasserschen Revolution, weil die Brüder in der Auseinandersetzung zwischen Nasser und General Neguib auf Seiten Neguibs traten. Nach der Niederlage und Ausschaltung des Generals durch Nasser im Jahr 1954 wurde ein Attentat auf Nasser durchgeführt, das knapp misslang. Die Brüder wurden als die Urheber gesehen, und es kam zu einer scharfen Verfolgung der Bruderschaft durch das Offiziersregime mit Todesurteilen, Folterungen, Konzentrationslagern und langjährigen Einkerkerungen.
Qutb, Ideologe der Extremisten
In diesem Klima von Verfolgung und Folter verfasste der 1951 zu den Brüdern gestossene ägyptische Intellektuelle, Sayyid Qutb, im Gefängnis seine entscheidenden Schriften. Sie waren innerhalb der Bruderschaft umstritten. Doch sie führten zur massgebenden Ideologie des radikalen Arms der Bruderschaft und der noch radikaleren Kleingruppen, die eine islamische Revolution in Ägypten anstrebten.
Sayid Qutb wurde gefoltert und machte zwei Gefängnisaufenthalte durch. Am Ende des zweiten wurde er im Jahr 1969 vor ein Gericht gestellt, verurteilt und hingerichtet. Seine wichtigsten Schriften sind ein grosser Korankommentar mit dem Titel „Im Schatten des Korans“ und eine kürzere programmatische Schrift „Wegzeichen“. In beiden verurteilt Qutb die ägyptische Regierung als „heidnisch“, weil sie sich weigere, mit den wahren Muslimen zusammenzuarbeiten und stattdessen Unterstützung durch nicht-muslimische Mächte suche wie die USA und die Sowjetunion, und weil sie unislamische Gebräuche und Ansichten einführe und ermutige. Heidentum („Dschahiliya“), so Qutb, muss bekämpft werden, besonders wenn es versucht, sich in einem muslimischen Land breitzumachen. Mit diesen Gründen forderte Qutb den internen Dschihad gegen die eigene Regierung.
Die Bruderschaft als Ganze war nicht bereit, ihm zu folgen. Ihre Führung setzte eher auf Aussöhnung und Kompromisse mit den jeweiligen ägyptischen Regimes, was es den Brüdern erlaubte, die Missionsarbeit in Ägypten fortzuführen und die Organisation auszudehnen. Doch es gab radikale Gruppen und einzelne Brüder, die sich die Doktrin von Sayyid Qutb zu aneigneten, um ihre Versuche zu rechtfertigen, mit Gewalt an die Macht zu gelangen.
Auch der umstrittene Begriff des „Takfir“ (eine Person zum Ungläubigen erklären) findet sich bei Sayyid Qutb. Die herkömmliche Meinung war, dass es Gott und nicht den Muslimen zustehe, darüber zu entscheiden, ob eine Person, die das Glaubensbekenntnis des Islams ausspricht und innerlich annimmt, ein guter oder ein schlechter Muslim sei. Das Urteil stehe allein Gott zu. Doch Qutb und Gesinnungsgenossen sind der Ansicht, dass es den „wahren“ Muslimen zukomme, andere als „Ungläubige“ zu verurteilen, wenn diese sich weigerten, die Wahrheiten der Radikalen anzuerkennen.
In Sachen „Takfir“ begegnen sich Wahabiten und Qutb-Anhänger. Viele, aber nicht alle von den heutigen wahabitischen Gottesgelehrten sind ebenfalls der Meinung, dass sie ein Recht hätten und verpflichtet seien, Mitmuslime, die ihre wahabitischen Glaubensgrundsätze nicht annehmen, als „Ungläubige“ zu bezeichnen und zu bestrafen.
3) Die Salafiya und die Gewalt
Salafiya ist ein weit gefasster Begriff, der schon eine lange Geschichte hat. Das Wort bedeutet „Nachfolge“, und es geht dabei um die Nachfolge des Propheten. Bereits im zweiten Jahrhundert des Islams hat der berühmte Gottesgelehrte Ahmed ibn Hanbal (680-844) dazu aufgerufen, die „Neuerungen“ zu beseitigen, die sich seit Muhammed in den Islam eingeschlichen hätten und zum reinen Islam, nach dem Vorbild des Propheten, zurückzukehren. „Neuerungen“ (Fachwort: „Bid'a“) in seiner Zeit waren die „Theologie“ („Kalam“), der Schiismus, die Verehrung von muslimischen Heiligen und andere Volksbräuche sowie grossstädtische Lebensformen, politische Institutionen und Praktiken, die es in Medina und Mekka zur Zeit des Propheten nicht gegeben hatte.
Ein anderer grosser Gottesgelehrter, Ibn Taimyya (1263–1328), lebte zur Zeit der Mongolenherrschaft in Damaskus. Auch er trat für eine Rückbesinnung auf die Zeit des Propheten ein. Die Mongolen, die 1258 Bagdad zerstört und den letzten Kalifen getötet hatten, waren zur Zeit Ibn Taimiyyas bereits Muslime geworden, doch sie hielten fest an ihrem traditionellen Gesetz, der Yasa, und wollten nicht nach der Scharia regieren. Die Frage der Scharia rückte für Ibn Taimiyya denn auch als Vorbedingung eines wirklich islamischen Staats ins Zentrum seiner Polemik gegen die herrschende Macht. Sie brachte dem sehr streitbaren Gottesgelehrten Gefängnisstrafen und Peitschenhiebe ein.
In der kolonialen und postkolonialen Zeit sowie in den Jahren der Globalisierung gewann Ibn Taimiyya Aktualität, weil die heutigen islamischen Staaten ebenfalls nicht – oder nur sehr beschränkt – nach der Scharia regiert werden (Ausnahmen sind der Saudische Staat und – für Schiiten – der Iran Khomeinys). Die meisten Staaten haben heute durch die Kolonialmächte eingeführte nationale „Codices“ modernen Rechts, die auf europäischen Rechtsvorstellungen aufbauen, Code Napoléon oder englisches Common Law. Das Familienrecht der Scharia gilt weiter auf freiwilliger Basis für Muslime. Mit Ibn Taimiyya fordern die Islamisten die Rückkehr zum alleinigen Recht der Scharia, so wie sie es verstehen wollen und in der Praxis zu üben gedenken.
Salafistischer Modernismus
Salafisten nannten sich aber auch die islamischen Modernisierer des 19. und 20. Jahrhunderts, die eine Erneuerung des Islams aufgrund seiner essentiellen Lehren anstrebten. Sie unterschieden zwischen den durch Zeit und Sitten bedingten Äusserlichkeiten und dem tieferem Sinn der islamischen Offenbarung und Institutionen. Sie standen auf gegen die Bindung an die islamischen Traditionen, die sich über Jahrhunderte hin erhalten hatten (Fachwort „Taqlid“) und forderten eine Rückkehr zu der Essenz des wahren und ursprünglichen Islams im Licht des zeitgenössischen modernen Denkens.
Reformwillige Salafisten, wie Muhammed Abduh (1849–1905), griffen – wie alle Muslime und besonders die Salafisten – auf das vorbildliche Leben des Propheten und seiner Gefährten und ersten Nachfolger zurück. Doch sie taten dies, indem sie nach dem Sinn und den Zielen der damaligen Offenbarungen und Handlungen fragten und dafür eintraten, dass diesem Sinn in der modernen Zeit und mit den Mitteln modernen Wissens der Weg geöffnet werde.
Ihr Salafismus steht im Gegensatz zum Salafismus der heutigen islamistischen Salafiten, die auf einer nicht hinterfragten und nicht interpretierten Übernahme der Texte und überlieferten Handlungsweisen bestehen. Man kann diese zweite Gruppe als fundamentalistische Salafiten bezeichnen. Sie stehen im Gegensatz zu ihren Vorgängern, den „modernistischen“ Salafiten. – Dies zeigt, der Begriff „Salafiya“ (Nachfolge) kann auf sehr gegensätzliche Weise verstanden und angewandt werden.
Trennung in der Frage der Gewalt
Die heutigen „fundamentalistischen“ Salafiten scheiden sich an der Gewaltfrage. Viele von ihnen, gewiss die Hauptmasse, sucht ihr Ziel, „imitatio prophetae“, auf friedlichem Weg zu erreichen durch Vorbild und Predigt. Doch auch die gewalttätigen Gruppen sehen sich selbst als Salafiten, denn sie wollen durch ihre Gewalt zu Zeit und Vorbild des Propheten zurückfinden. Gewalt üben sie gegen jene Mächte und Glaubensrichtungen, durch welche sie – ihrem Ermessen nach – am Erreichen dieses Ziels gehindert werden.
Die Gewalt rückte stufenweise ins Zentrum der Ideologie und Praxis der gewaltwilligen Islamisten. Der Krieg hat seine eigene Logik. Er musste notgedrungen als irregulärer Guerillakrieg geführt werden, weil die gewaltbereiten Islamisten nicht über die gleichen Mittel verfügten wie die „heidnischen“ Staaten, die sie bekämpfen wollten. Der Übergang von der Guerilla zum Terror war fliessend.
Der Beitrag des Westens
Wichtig ist zu erkennen, dass die „westliche Welt“, einschliesslich Israels, viel dazu beigetragen hat, diesen Krieg auszulösen und soweit zu steigern, dass er seine heutigen Ausmasse erreichen konnte. In den Jahren der Nasser-Zeit (1952 bis 1970), die auch solche des Kalten Krieges waren, fürchteten die Israeli und auch die westlichen ehemaligen Kolonialstaaten im Verbund mit den USA den Arabischen Nationalismus nasserscher Prägung mehr als den beginnenden Islamismus von Gruppierungen wie den Muslimbrüdern und ähnlich Gesinnten.
Die Brüder und andere Vorkämpfer der Idee eines islamischen Staates waren Gegner und bittere Feinde der Arabischen Nationalisten. Diese strebten einen machtvollen säkularen arabischen Grossstaat an, dem sie gerne eine sozialistische Färbung verliehen hätten. Da ihre Interessen mit jenen der bisherigen Kolonialmächte und den Erdölinteressen der Amerikaner kollidierten, neigten sie einer Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zu. Die westlichen Mächte fürchteten, dass die Sowjetunion im Mittleren Osten Einfluss gewinnen könnte und danach streben würde, die geostrategisch wichtige Region mit ihren Erdölschätzen unter ihre Vorherrschaft zu bringen. Zu den Mitteln, zu denen die westlichen Staaten griffen, um dies zu verhindern, gehörte – neben vielen anderen – dass sie versuchten, die Feinde der Arabischen Nationalisten zu fördern.
Israelische Starthilfe für Hamas
Die Islamisten, deren Gewaltbereitschaft anfänglich gering war und auch verborgen gehalten wurde, erschienen den damaligen Kalten Kriegern und auch den Israeli, die gegen die Palästinenser und die Arabischen Nationalisten kämpften, als ein möglicher Verbündeter und Helfer. Sie haben sie deshalb gefördert.
Im seit 1967 von Israel besetzten Gazastreifen gab es Muslimbrüder, die als Gegner der säkularen PLO auftraten und wirkten. Die Israeli förderten sie und erlaubten ihnen, sich zu organisieren, weil sie in ihnen ein Gegengewicht gegen die als viel gefährlicher erachteten Arabischen Nationalisten der PLO sahen.
Erst als 1987 die Erste Intifada ausbrach, fanden die Muslimbrüder von Gaza und die PLO zusammen und stellten sich gemeinsam gegen die Israeli. Die Muslimbrüder von Gaza gaben sich einen neuen Namen: Hamas. Die Israeli sahen sie von da an als Feinde an und suchten ihrer Führungspersonen habhaft zu werden oder sie zu ermorden.
Gegenpol zu den Arabischen Nationalisten
Die Amerikaner und die Engländer verhielten sich ähnlich, sie unterstützten die Muslimbrüder gegen die Arabischen Nationalisten, die ihnen als die grössere Gefahr erschienen. Die Brüder ihrerseits betonten natürlich den westlichen Mächten gegenüber die friedlichen Aspekte und Anliegen ihrer Organisation.
Die in Ägypten verfolgten Muslimbrüder fanden Zuflucht in Saudi-Arabien, und das Königreich war ein wichtiger Verbündeter und Schutzbefohlener der USA – seiner Erdölvorkommen wegen. Manche der Brüder unterrichteten an saudischen Hochschulen. Auch ihre internationale Präsenz in Genf wurde von Saudi-Arabien gestützt und finanziert.
König Faisal von Saudi-Arabien, der sich durch Nasser und dessen Arabischen Nationalismus bedroht sah, setzte auf die islamische Karte, um ein Gegengewicht gegen die Ideologie der Nasseristen zu gewinnen. Auch nach Nasser und nach der Ermordung Faisals (1975) wurde die islamische Politik des Königreiches weiter geführt. Pan-islamische (sunnitische) Dachorganisationen wurden geschaffen und vom Königreich grosszügig finanziert, in denen die Gottesgelehrten wahabitischer Ausrichtung eine Hauptrolle spielten. Das Königreich finanzierte auch viele Moscheen in den ärmeren muslimischen Ländern und sogar im europäischen und amerikanischen Ausland. Oftmals wurden diese Gotteshäuser ebenfalls von wahabitisch ausgerichteten Gottesgelehrten geleitet.
Auskunft über das damalige oft verdeckte Zusammenspiel der Politik und der Geheimdienste der Amerikaner und Engländer mit den Brüdern und den Wahabiten gibt ein Buch von Robert Dreyfuss (Robert Dreyfuss: Devil's Game, How the United States Helped Unleash Islamist Islam, Owl Books, Henry Holt, New York 2005, kindle e-book 2013). Auch das vom Standpunkt eines Trotzkisten geschriebene Werk von Gilbert Achcar: Morbid Symptoms, Saqi, London 2016, schildert das Zusammenspiel der Westlichen Mächte mit dem Islamismus.