«Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen.» Das wusste, so um 1800 herum, der deutsche Dichter Matthias Claudius, auf den der berühmte Ausspruch zurückgeht. Von berühmten Reisenden der Geschichte weiss man, weil sie erzählt haben: vom Venezianer Marco Polo zum Beispiel, der im 13. Jahrhundert nach China reiste und ausführlich darüber berichtete, oder von Lodovico de Varthema, den es zu Beginn des 16. Jahrhunderts von Bologna aus in den Orient zog, wo er Syrien, Arabien, Persien, Indien und Ägypten bereiste.
Seine Erlebnisse erschienen hundert Jahre später in Leipzig als Buch und enthielten – so die Anpreisung damals – «die wahrhaftige Beschreibung der ansehnlichen lobwürdigen Reise». Neben der «Vermeldung von vielerley wunderbahren Sachen», die er erlebt hatte, «samt anderer seltzamen denckwüdigen Dinge» ist dort auch nachzulesen, «was für angst, noht und gefahr er in der Heidenschafft vieler ort aussgestanden hat».
Gereist wird heute mehr denn je. Erst Corona hat das weltweite Reisen etwas ausgebremst. Aber reihum werden die Koffer bereits gepackt. Es geht wieder los, allein oder in Gruppen. Wunderbare Sachen und seltsame Dinge gibt es auch heute noch zu entdecken. Angst, Not und Gefahr meistens weniger.
Vom Reisen in Gruppen
Dass der Spruch von Matthias Claudius heutzutage auch für Frauen gilt, versteht sich von selbst. Roswitha Gassmann, die jahrelang mit Reisegruppen unterwegs war – und immer noch die eine oder andere Reise begleitet – hat viel zu erzählen. Sie hat die halbe Welt bereist. Meistens mit einer Gruppe im Anhang. Was sie dabei erlebt hat an Abenteuerlichem, Dramatischem, Kuriosem, Befremdlichem, Komischem und vor allem auch Schönem, das hat sie in einem Buch zusammengefasst, das sich so mitreissend liest, als sei man selbst mitgereist. Es ist ein Buch übers Reisen mit Gruppen. Gleichzeitig erfährt man über die fernen Länder so vieles, was nicht im Reiseführer steht. Denn die Mentalität und den Alltag der bereisten Länder lernt man mitunter am Beispiel von Pleiten, Pech und Pannen besser kennen als durch Hochglanzprospekte.
Was ist denn der Unterschied, ob man mit einer Gruppe oder allein reist, frage ich Roswitha Gassmann bei unseren Treffen im Zürcher Café Odeon. «Der ist riesig», sagt sie gleich. «Wenn ich allein reise, folge ich meinen eigenen Interessen, gehe ins Museum und schaue mir alles in Ruhe an. Ich bin völlig frei in der Tagesgestaltung. Wenn ich eine Gruppe leite, ist alles vorgegeben, jeder Tag ist vom Morgen bis zum Abend durchgeplant.
Jetzt zum Beispiel kürzlich in Hamburg: am Morgen Stadtrundfahrt, am Nachmittag eine Hafenrundfahrt mit dem Schiff, abends Theaterbesuch etc. Das sind in der Regel ziemlich happige Programme und ich bin für den Ablauf verantwortlich. Ich muss sicherstellen, dass die Zimmer bereit sind, dass das Restaurant unsere Reservation nicht vergessen hat und ich muss auf meine Gruppe aufpassen.
Manchmal gehen ein paar Leute verloren, die man erst wieder suchen muss». Passiert denn das oft? «Nicht auf jeder Reise, aber es kommt doch immer wieder vor.» Heute, mit dem Handy, sind Verlorengegangene auch leichter wieder aufzuspüren.
Roswitha Gassmann beschreibt in ihrem Buch aber vor allem Reisen im Vor-Handy-Zeitalter. «Wie ich alle Grenzen überschritt» heisst der Band. Und damit meint sie nicht nur geographische Grenzen.
Es sind eher ältere Menschen, die sich einer Gruppe anschliessen, um die Welt zu erkunden. «Sie wissen, dass sie betreut werden, wenn ihnen unterwegs gesundheitlich etwas passiert», sagt Gassmann. «Ich bin mehrmals mit Gästen in Spitälern gewesen», erzählt sie. «Speziell in einem nicht deutschsprachigen Land ist diese Hilfe wichtig.
Ich bin oft die Einzige in der Gruppe, die mehrere Sprachen beherrscht. Die Gäste sind unendlich dankbar, wenn man mit den Ärzten reden und verhandeln kann. Ich hatte mal eine Dame in meiner Gruppe, die sich beide Handgelenke gebrochen hatte. Das war in Sardinien, vierzig Kilometer vom nächsten Spital entfernt. Stundenlang warteten wir in der Notfall-Aufnahme und um Mitternacht hiess es, wir sollten am nächsten Tag wiederkommen. Das ging natürlich nicht, denn ich bin ja für die gesamte Gruppe verantwortlich und konnte anderntags nicht noch einmal ins Spital mitkommen. Ich habe gesagt, das komme überhaupt nicht in Frage, dann haben sie tatsächlich um Mitternacht die Radiologie noch einmal geöffnet und die Dame behandelt. Am Schluss ist es gut ausgegangen.»
Durch Zufall zum Traumberuf
Dass aus den vielen Erlebnissen ein Buch werden konnte, geht auf die Rapporte zurück, die regelmässig nach dem Ende einer Reise geschrieben wurden. Vor allem aber war dies dank der Notizen möglich, die Gassmann für sich selbst festgehalten hat. «Immer wenn ich Aussergewöhnliches erlebt hatte, dachte ich, das darf ich nicht vergessen und habe es sofort an Ort und Stelle aufgeschrieben. Das Erinnerungsvermögen schwindet so schnell im Laufe der Zeit. Das Manuskript ist eigentlich vor 25 Jahren entstanden. Das ist lange her, und vieles hätte ich sonst heute nicht mehr detailliert gewusst. Erfunden ist jedenfalls nichts!»
An eine Veröffentlichung hatte Roswitha Gassmann ursprünglich nicht gedacht. «Ich hatte die Aufzeichnungen damals für mich gemacht und für meine Familie.» Perikles Monioudis und Dana Grigorcea, die beide selbst schriftstellerisch tätig sind, waren es, die Roswitha Gassmanns Reise-Erlebnisse so interessant fanden, dass sie sie in ihrem «Telegramme»-Verlag als Büchlein herausgeben wollten. «Das war ein Zufall oder Glücksfall oder was auch immer.»
Zufall oder Glücksfall oder was auch immer war es auch, dass Roswitha Gassmann überhaupt Reiseleiterin wurde, denn lernen kann man den Beruf eigentlich nicht. «Nach meiner kaufmännischen Lehre war es ein Traum von mir, aber ich habe immer nur gehört, die Anforderungen seien hoch und man habe nur wenig Chancen, genommen zu werden. Auf einer Gruppenreise, auf der ich als Gast dabei war, hat der Reiseleiter dann bemerkt, dass ich verschiedene Sprachen beherrsche. Er fragte mich, ob ich ihn an einem Nachmittag vertreten könnte. Das klappte so gut, dass er mir hinterher sagte, Leute wie mich könnten sie gut gebrauchen, ich solle mich doch mal als Reiseleiterin bewerben. Bei Kuoni, wo ich es versuchte, hiess es aber: Wir nehmen keine Frauen.»
Da man aber gerade jemanden mit Spanisch-Kenntnissen brauchte, kam Roswitha Gassmann mit ihrem frisch erworbenen Spanisch-Diplom wie gerufen. Sie wurde engagiert. Ausnahmsweise. Und sie hat bewiesen, dass sie ihre Reisegruppen durchaus mit dem gleichen Durchsetzungsvermögen wie männliche Kollegen ans Reiseziel und wieder nach Hause brachte. «Ich bekam daraufhin auch eine richtige Ausbildung und jedes Jahr einen Wiederholungskurs. Es gab auch immer wieder junge Leute, die sich für die Reiseleitung interessierten. Viele von ihnen sind nach ein paar Wochen wieder abgesprungen, weil sie merkten, dass das keine Ferien sind, sondern Knochenarbeit mit viel Verantwortung.»
In ihrem Buch erzählt Roswitha Gassmann von Reisen in den Fernen Osten, nach China zum Beispiel, als es noch kein Touristenland war und die Grenzen gerade erst vorsichtig geöffnet hatte. Sie fuhr nach Japan oder Indonesien, nach Indien mit seinen gesellschaftlichen Unterschieden, nach Kambodscha und so weiter. Man begleitet Roswitha Gassmann und ihre Reisegruppe nach Südamerika mit einer abenteuerlichen Flugzeuglandung, in einem kaum mehr verkehrstauglichen Bus.
Unweigerlich wird man beim Lesen Teil der Reisegruppe und erlebt exotische und fremde Orte und ihre Bewohner sozusagen live. Erst 25 Jahre ist das her, aber damals kannte man die Welt noch nicht in allen Lebenslagen über Handy, Twitter oder Facebook und man konnte immer wieder staunen über alles Fremde. Gassmann schildert allerdings nicht nur Reiseerlebnisse, sondern macht sich auch Gedanken über den inzwischen überbordenden Massentourismus und seine Folgen.
Roswitha Gassmann: Wie ich alle Grenzen überschritt. Telegramme Verlag, Zürich, 158 S.
Lesung von Roswitha Gassmann im Rahmen von «Zürich liest»:
«Als Reisen noch ein Abenteuer war»
Samstag, 30. Oktober 17 Uhr, Galerie Fabian Lang, Zürich
Sonntag, 31. Oktober 19.30 Uhr, Seebad Utoquai, Zürich